GbP 1-2017 Interview - Rainer Ehlers

Enttabuisierung und Entstigmatisierung - Interview

Rainer Ehlers, geboren 1941 in Hamburg, ist Pastor im Ruhestand der Ev.-Luth. Nordkirche. Als Stiftungsgründer der Deutschen AIDS-Stiftung war bzw. ist er Initiator der größten Deutschen AIDS-Hilfsorganisation. Ehlers war von 1986 an für das Gesundheitsamt der Stadt Köln tätig und hat die AIDS-bezogene Gesundheitspolitik, die sogenannte »Kölner Linie« zusammen mit dem damaligen Leiter des Amtes, Jan Leidel, entscheidend entwickelt. Gesundheit braucht Politik sprach mit ihm über seine Pionierarbeit in einer turbulenten politischen Phase.

Thomas Kunkel (TK): Herr Ehlers, wie kamen Sie als evangelischer Pastor in den öffentlichen Gesundheitsdienst und wie war es für einen Theologen, als Stabsstellenleiter in einer Behörde zu arbeiten?

Rainer Ehlers (RE): Ich lebte Anfang der 1980er Jahre als schwuler Mann in Köln und war dort auch schwulenpolitisch engagiert. Zu dieser Zeit traf ich zwei Männer, die bereits in den USA als AIDS-Aktivisten tätig waren. Sie berichteten nach ihrer Rückkehr nach Köln über das gesellschaftliche Klima in den Vereinigten Staaten. Dort wurde in der öffentlichen Diskussion AIDS primär als GRID, d.h. »Gay Related Immuno Deficency«, als eine Infektion, die nur homosexuelle Männer betrifft, gesehen. Konservative Kreise sahen dies als willkommene Gelegenheit, die Schwulen loszuwerden, wenn nichts gegen die Bekämpfung dieser Krankheit getan würde. Es galt für uns in Köln damals, das Übergreifen dieser Sichtweise auf die absehbar anstehende öffentliche Debatte in Deutschland zu verhindern.
Wir gründeten deshalb zusammen mit anderen Aktiven die Deutsche AIDS-Hilfe Köln als eingetragenen Verein. Da in Zusammenarbeit mit anderen regional aktiven AIDS-Hilfen bereits zur Zeit der Gründung die überregionalen Strukturen mit angelegt waren, wurde daraus später die AIDS-Hilfe Köln, und die Deutsche AIDS-Hilfe hatte ihren Sitz in Berlin. Unser Mitstreiter Jean-Claude Letist (1946-1990) war bei der belgischen Luftfahrtgesellschaft SABENA angestellt und konnte umsonst nach Berlin fliegen, so dass er für die überregionalen Kontakte prädestiniert war. Die Netzwerkarbeit in NRW wurde damals durch Michael Zgonjanin, einen bundesweit aktiven schwulen Aktivisten, abgedeckt. Ich selbst kümmerte mich um die lokalen Ebene.
Einer meiner ersten Ansprechpartner war der Seuchenbeauftragte des Kölner Gesundheitsamtes, der Virologe und Arzt Jan Leidel. Ich kontaktierte ihn erstmals 1984, zu einem Zeitpunkt, als wir in der AIDS-Hilfe noch niemanden persönlich kannten, der in Köln infiziert war. Leidel hingegen hatte bereits Infizierte identifiziert und persönlich kennen gelernt. Das Glück für Köln bestand darin, dass Leidel mit seinen Vorkenntnissen damals Amtsleiter wurde – und dadurch nicht mehr ein Amtsarzt, sondern der Leiter des Gesundheitsamts mein Ansprechpartner wurde. Aus dem Kontakt ergab sich relativ schnell eine Anstellung von mir als Berater für Menschen mit HIV und AIDS. Angesiedelt war diese Stelle als Stabsstelle direkt beim Amtsleiter. Die Unterstützung durch ihn und die Rahmenbedingungen waren von Beginn an bemerkenswert gut. Ich verfügte in der Stabsstelle über einen jährlichen Etat von 100.000 DM und eigene Räumlichkeiten und konnte nun die Anträge bewilligen, die ich einige Wochen vorher als Vorstandsmitglied der Kölner AIDS-Hilfe an die Stadt gestellt hatte.

TK: Zu diesem Zeitpunkt kam es dann auch zur Gründung der Deutschen AIDS-Stiftung?

RE: Aufgrund einer Erbschaft standen mir 1986/87 finanzielle Mittel aus dem Nachlass meines Vaters zur Verfügung. Initial wollte ich sie in die Auslobung eines Preises für »angemessene journalistische Berichterstattung«, damals bei Weitem keine Selbstverständlichkeit, investieren. Um das zu erreichen, gründete ich damals zusammen mit dem Land Nordrhein-Westfalen die Deutsche AIDS-Stiftung »positiv leben«. Unter ihrer Schirmherrschaft wurde dann ein Journalistenpreis verliehen, der im ersten Jahr an Marianne Quoirin vom Kölner Stadtanzeiger ging. Das Hauptanliegen der Stiftung war und ist bis heute die finanzielle Unterstützung von Menschen, die aufgrund ihrer Infektion in eine materielle Notlage geraten sind.

TK: Wie gestaltete sich Ihre weitere Arbeit unter dem politischen Druck der durch die Ankunft der AIDS-Epidemie in Deutschland Mitte der 1980er Jahre entstand?

RE: Wir organisierten zu dieser Zeit regelmäßig Informationsveranstaltungen mit Jan Leidel und seiner Frau Sigrid Leidel, die den Kölner Kinder- und Jugendgesundheitsdienst leitete. Leidel war als Mitglied der SPD politisch nicht nur in NRW sehr gut vernetzt, er war auch zum Thema AIDS ein enger Berater der damaligen Bundesgesundheitsministerin Rita Süßmuth (CDU).
Es ist übrigens eine nette Geschichte, wie ich damals zu meiner Stelle gekommen bin: Am Rande einer gemeinsamen Veranstaltung 1986 erzählte er mir, dass das Bundesgesundheitsministerium demnächst in allen elf Bundesländern eine psychosoziale Beratungsstelle für AIDS im Zuge eines Bundesmodellprojekts schaffen würde. In NRW war vorgesehen, diese Beratungsstelle im Gesundheitsamt Köln anzusiedeln. Nach Leidels Vorstellung sollte sie durch einen in der Schwulenszene bekannten und engagierten Arzt besetzt werden. Während der Heimfahrt nach dieser Veranstaltung überzeugte ich ihn davon, diese Position mit einem Theologen zu besetzen, der einerseits die psychosozialen Aspekte abdeckte und andererseits nicht jederzeit wie ein Arzt für andere Aufgaben im Gesundheitsamt abgezogen werden kann. Am folgenden Tag teilte Leidel mir mit, dass ich die Stelle habe.
Am 1. April 1986 trat ich meine Stelle an und suchte als erstes Kontakt zu all denen, die sich in Köln mit dem Thema AIDS befassten oder befassen sollten. Das waren zunächst natürlich die AIDS-Hilfe, aber auch kirchliche und nichtkirchliche Beratungsstellen, Drogeneinrichtungen, schwule Organisationen, schwule Kneipen- und Saunabesitzer – es waren viele. Daneben richtete ich eine Beratungsstelle ein, in der Menschen sich anonym beraten lassen konnten, ob sie sich auf HIV testen lassen wollten. Bei diesen Gesprächen ging es u.a. darum, ob der oder die Betreffende überhaupt in einer Situation gewesen ist, in der er sich hätte anstecken können. Wenn dies der Fall war (und nur dann!) wurde von einer Ärztin Blut abgenommen – und dann zwei Wochen später ein Folgetermin vereinbart, zu dem das Ergebnis persönlich entgegengenommen wurde. Telefonische Auskünfte gab es nicht. Als Leiter der Beratungsstelle war es meine Aufgabe, alle an einen Tisch zu bringen, die mit AIDS zu tun hatten: politisch Verantwortliche ebenso wie Betroffene.
Die öffentliche Hilflosigkeit dem Thema AIDS gegenüber führte dazu, dass im Bundesgesundheitsministerium immer mehr Modellprojekte zur AIDS-Prävention eingerichtet wurden, die in den elf Bundesländern durchgeführt wurden. Das war politisch die einzige Möglichkeit für den Bund, in Gesundheitsdingen in den Bundesländern aktiv zu werden, da Gesundheit Ländersache ist. Die Anerkennung der Arbeit in Köln führte dazu, dass die meisten Stellen für NRW im Kölner Gesundheitsamt angesiedelt wurden, so dass ich, der ich im April 19986 als Einzelkämpfer begonnen hatte, im November 1987 Leiter einer AIDS-Beratungsstelle mit elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war, von denen zehn Stellen vom Bund bezahlt wurden. Als Gesundheitsamt waren wir einerseits Koordinator und Impulsgeber, andererseits aber auch Geldgeber, denn mit diesen öffentlichen Mitteln konnten wir aktive Gruppen fördern und waren in dieser Rolle natürlich ausgesprochen beliebt.

TK: Welche Widerstände hatten Sie in dieser Phase zu über­winden?

RE: Das Ordnungsamt beispielsweise plante, alle Orte zu schließen, an denen Menschen und v. a. Schwule Sex hatten, um durch diese Maßnahmen Neuinfektionen zu »verhindern«. Dabei kam u. a. heraus, dass Mitarbeiter des Ordnungsamtes sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass sich Schule anonym treffen, um Sex zu haben – ohne dafür zu bezahlen. Sie waren von dem ihnen geläufigen Prostitu­tions­regeln ausgegangen.
Unser Ansatz, die sogenannte »Kölner Linie« war ein gänzlich anderer: schwule Lebensweise zu akzeptieren. So hatten wir schwule Streetworker des Gesundheitsamts, die nachts zum Aachener Weiher gingen, wo sich Schwule zum anonymen Sex trafen, und verteilten Kondome. Wir sorgten dafür, dass Darkrooms und Saunen mit Kondomen bestückt wurden. Wir sahen die den Lebenswandel von Homosexuellen akzeptierende Aufklärungsarbeit als den einzig Erfolg versprechenden Weg. Nur ein selbstbewusster Schwuler ist einer, der sich schützt. Wer für seinen Sex die Heimlichkeit sucht, wird kaum Schutzvorkehrungen treffen. Durch unsere Aufklärungs- und Informationsarbeit bekamen wir immer mehr Unterstützung – nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern schließlich auch in der Verwaltung.
Aber: Die Stellen der Modellprojekte aus den Bundesmitteln waren nur auf fünf Jahre – bis 1991 – begrenzt, da Bundesmittel nicht dauerhaft für Landesaufgaben verausgabt werden dürfen. Ich habe deshalb eine Vorlage für den Kölner Stadtrat erstellt mit dem Ziel, nach Auslaufen der Bundesmittel mein Team von zehn Leuten (einer wollte nicht übernommen werden) aus Mitteln der Stadt zu finanzieren. Das war eine schwierige Aufgabe, aber die Unterstützung war groß, weil Köln inzwischen bundesweit mit seiner AIDS-Politik großes Ansehen genoss. Die Ratsvorlage ging im Dezember 1991 durch. Ab dem 1. Januar 1992 waren wir bei der Stadt Köln angestellt. Der Haken war: Ich verlor meine Posi­tion als Stabsstellenleiter, in der ich direkt mit Jan Leidel zusammenarbeiten konnte. Stattdessen wurde ich auf der Position eines Unterabteilungsleiters angestellt, der sich der innerbehördlichen Struktur zu unterwerfen hatte. Das wollte ich nicht und kündigte.

TK: Wie war während dieser Zeit das Verhältnis mit den anderen Städten und Bundesländern?

RE: Auf Basis eines Bundesgesetzes musste ab dem Jahr 1987 in jedem Gesundheitsamt eine Fachkraft für AIDS angestellt sein. Erst bei dieser Gelegenheit wurde festgestellt, dass es 309 Gesundheitsämter in der BRD gab. Das hatte man zuvor nie erhoben. In Städten mit vielen Homosexuellen wie Hamburg, Berlin und Bremen war die Zusammenarbeit in der Regel kein Problem. Vor allem aber München und Bayern hatten einen Sonderstatus durch Peter Gauweiler und den von ihm beeinflussten »Bayerischen Sonderweg« mit Kontrollen, Einschüchterungen und Verboten.
Aber letztlich hat sich die Kölner Linie bzw. auf bundespolitischer Ebene die Linie von Rita Süßmuth durchgesetzt. Ausschlaggebend dafür war meines Erachtens, dass es keinen wirklichen Parteienstreit in der AIDS-Frage gab, sondern sich die Auseinandersetzung zwischen den Schwesterparteien der Union – repräsentiert durch Süßmuth und Gauweiler – entlud. Es herrschte eine Stimmung von »Der Feind sitzt im Süden«, was aus meiner Sicht die bundesweite Stärkung unserer Linie von Aufklärung statt Repression begünstigt hat.

TK: Wie sahen die Argumentationsmuster der »Hardliner« wie Gauweiler denn damals aus?

RE: Dazu nur zwei Beispiele. Ein Professor aus Frankfurt am Main behauptete damals, dass Schwule ja keine Kinder bekommen würden, also auch mehr Geld zur Verfügung haben würden. Damit wären sie häufiger in den Besitz von Immobilien gekommen. Wenn diese Homosexuellen nun in großer Zahl an AIDS sterben, dann bestünde die Gefahr, dass die Immobilienpreise in den Keller gehen.
Peter Gauweiler von der CSU behauptete damals in einer Talkshow im Ersten zur besten Sendezeit zur Rechtfertigung seines Zwangsmaßnahmenkatalogs, dass HIV-positive Prostituierte Familienväter anstecken könnten, diese dann wiederum ihre Frauen, die dann infizierte Kinder zur Welt brächten. Und weil das so furchtbar sei, müssten infizierte Prostituierte weggesperrt werden. (Damit Papi weiter ungeschützt mit Prostituierten umgehen kann…)

TK: Wie sahen für Sie als Pastor in dieser Zeit die innerkirchlichen Diskussionen aus? Traf Ihr Engagement dort auf Unterstützung, Indifferenz oder Widerstand?

RE: In Köln wurden wir vom Krankenhausseelsorger der Uniklinik sehr unterstützt. Ansonsten gab es eher wenige Gespräche oder Kontakte. Beide Amtskirchen haben sich in Köln hinter dem breiten Rücken des Papstes und der von ihm postulierten Monogamie als bestes Mittel gegen AIDS verschanzt. Die schon öfter genannte Rita Süßmuth veröffentlichte 1987 ein Buch mit dem Titel »AIDS. Wege aus der Angst«. Im selben Jahr veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) eine Stellungnahme mit dem Titel »AIDS – Orientierung und Wege in der Gefahr«(1). Ich habe mich damals geschämt, dass man in der Kirche die – teils aus dem Mangel an Aufklärung entstammenden – Ängste der Bevölkerung ernster nimmt als die Ängste der Betroffenen, wie das Süßmuths Titel nahelegt. Und dass die Politik Auswege nennt, nicht die Kirche, deren Aufagbe das doch eigentlich wäre.

TK: Im Lauf der letzten Jahre sind vermehrt die »Epidemien« der chronischen Krankheiten, wie Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen ins gesundheitspolitische Blickfeld geraten. Gibt es Lehren aus der erfolgreichen HIV-Prävention für die Prävention und Gesundheitsförderung dieser – häufig ebenfalls mit Stigmata verbundenen – Erkrankungen?

RE: Die große Herausforderung beim Thema AIDS war, Sexualität ansprechbar und sagbar zu machen. Es galt, überhaupt über Kondome und sexuelle Praktiken sprechen zu lernen. Dass ich in Behindertenanstalten gegangen bin und den Mitarbeitern gesagt habe, dass auch dort Kondome benutzt werden sollten, war zuvor unsagbar. In der öffentlichen Wahrnehmung herrschte die Sichtweise vor, man solle den Behinderten doch wenigstens diese Freude lassen.
Ich fand es aber immer sehr wichtig, die Missstände und sexuelle Ausbeutung auch direkt anzusprechen: dass beispielsweise viele Männer explizit auf behinderte Prostituierte stehen, entsprechend viel dafür zu zahlen bereit sind, und dass Prostituierte sich deshalb Gliedmaßen abgebunden haben; dass Männer extra viel Geld zahlen für hochschwangere Prosti­tuierte usw.
In der Aufklärungsarbeit insbesondere an Schulen mit Kindern und Jugendlichen ging es uns darum, eine Sprache für Sexualität zu finden. Wir haben vermittelt:
Ob Ihr zu Eurem Geschlechtsorgan nun Schwanz, Riemen, Penis, Fotze, Vagina, Loch oder sonst wie sagt, spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen überhaupt verbalisiert werden können und ihr nicht einfach nur die Hand oder den Mund Eures Partners oder Eurer Partnerin dahin führt, wo Ihr es gern habt. Es galt und gilt der Sexualität einen Namen zu geben. Enttabuisierung und Entstigmatisierung sind nicht nur bei AIDS die wesentliche Voraussetzung für Prävention und Gesundheitsförderung.

TK: Herr Ehlers, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch.

Anmerkung

1 www.ekd.de/EKD-Texte/ekdtext_24.html

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Vom ÖGD zu New Public Health, 1/2017)

 


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