Archäologie einer Beziehung
Norbert Donner-Banzhoff zum Arzt-Patient-Verhältnis
Das Verhältnis zwischen Ärzt*in und Patient*in ist nicht eindimensional, sondern hat verschiedene Aspekte, die sich zum Teil in der Theorie, aber vor allem in der Praxis nicht unbedingt reibungslos ergänzen, sondern zum Teil sogar widersprechen. Norbert Donner-Banzhoff erläutert die verschiedenen Dimensionen und appelliert daran, sie im täglichen Tun jeweils kritisch zu reflektieren. Wir veröffentlichen hier eine von uns gekürzte Fassung des Textes.
Droge Arzt, Shared Decision-Making, Patientenzentrierte Methode, Patriarchat und Schamanentum: Viele Konzeptionen und Begriffe sind vorgeschlagen worden, um den Umgang von Patient und Arzt zu verstehen; jede kann für sich eine gewisse Plausibilität beanspruchen, teilweise sogar empirisch wissenschaftliche Untermauerung; in Kombination ergeben sich jedoch markante Widersprüche zwischen den Auffassungen. Archaische Elemente kollidieren mit modernen Ansprüchen, individuelle Bedürfnisse mit kollektiven Regeln. Die Formulierung von Normen, wie Ärzte im Alltag auf ihre Patienten eingehen sollen, erscheint vor diesem Hintergrund ganz aussichtlos.
Die hier vorgeschlagene »Archäologie« versucht, diese Widersprüche im Umgang von Arzt und Patient in einen zeitlichen und – bildhaft – räumlichen Zusammenhang zu bringen. Dabei postuliere ich vier grundlegende ärztliche Funktionen, die jeweils typisch für bestimmte Epochen der Medizingeschichte gewesen bzw. zur Reife entwickelt worden sind. Sie haben dabei die vorangegangenen Funktionen »verdeckt«, ohne diese jedoch zu eliminieren. Die tieferen Schichten wirken deshalb weiter und führen zu typischen Widersprüchen. Trotzdem lassen sich daraus normative Konsequenzen für ärztliches Handeln formulieren.
Ärzte und andere Heiler: vier Aufgaben
Archaischer Heiler
Die ursprüngliche Aufgabe eines jeden Heilers – unabhängig von seiner Qualifikation und dem Entwicklungsstand seiner Gesellschaft bzw. des Gesundheitssystems – ist das Eingehen auf das Kranksein. Ernsteres Kranksein beinhaltet nach von Üxküll und Wesiack »immer dreierlei:
- eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens und der Leistungsfähigkeit,
- eine dadurch hervorgerufene soziale Isolierung und mehr oder minder starke Veränderungen des sozialen Status,
- eine existenzielle Not und Bedrohung.«
Heiler im weiten Sinn müssten die Funktion eines Experten und eines Partners in sich vereinigen. Aufgabe des Experten sei es, Beschwerden zu lindern und die Leistungsfähigkeit wieder herzustellen; der Partner helfe, die soziale Isolierung zu überwinden und die existenziellen Ängste zu ertragen. In der Geschichte der Menschheit sei die Heilkunde in sehr unterschiedlicher Weise praktiziert worden; die Kombination von Experte und Partner in der Person des Heilers, die auf die Bedrohung durch Krankheit reagiert, lasse sich jedoch in allen Epochen und Kulturen ausmachen.
Das wesentliche Arbeitsinstrument des archaischen Heilers ist das Ritual. Heute oft negativ besetzt (»leeres Ritual«), ist rituelles Verhalten die mächtigste Form menschlicher Kommunikation. Dabei handelt es sich um die Aufführung symbolischer, durch Überlieferung geprägter Verhaltensweisen in Zusammenhang mit ernsten (früher: heiligen) Lebenssituationen. Dass sich Konsultationen oft nicht ohne die Verschreibung eines Medikamentes zum glücklichen Ende bringen lassen, unterstreicht die Aktualität dieser Überlegungen. In der Verschreibung eines (klinisch wirkungslosen und ökologisch gefährlichen) Antibiotikums steckt für den Patienten die Anerkennung seines Leids, die Legitimierung der Inanspruchnahme, die Hoffnung auf rasche Besserung durch eine hochwirksame Therapie und die Überwindung von Bedrohung und Isolierung. Die wöchentliche Chefarzt-Visite im Krankenhaus wäre ein anderes Beispiel: Diese wird gerade dann als Erfolg empfunden, wenn Ober- und Stationsärzte im Vorfeld die Station von allen realen Problemen bereinigt haben. Ihr Sinn liegt offenbar jenseits der medizinischen Problemlösung. Ähnliches dürfte für manche verzweifelte Aktion in der Intensivmedizin gelten.
Detektiv
Der Schluss von »Daten«, die der Patient liefert, auf allgemeine Kategorien oder Entitäten (Konstitutionen, Diagnosen, Erkrankungen usw.) erfolgt in allen medizinischen Systemen. Von der Mitte des 18. bis ins späte 19. Jahrhundert wurde die Beobachtung am Kranken jedoch systematisiert und später zunehmend mit pathologisch-anatomischen Befunden begründet. Damit wurden gerade auch solche Zeichen für den medizinisch geschulten Blick wichtig, die für das Erleben des Patienten am Rande lagen oder gar von ihm überhaupt nicht bemerkt worden waren. Die Kommunikation zwischen Patient und Arzt musste sich dadurch ändern.
Für unser Thema ist wichtig, dass in der Bedeutung von Befunden sich jetzt zunehmend eine Diskrepanz zwischen Patient und Arzt ergeben konnte: Was den Patienten am meisten bedrängte, war für den diagnostizierenden Arzt oft nur von geringem Wert, wenn es um die Unterscheidung möglicher Ursachen ging – und umgekehrt. Damit stieg die Gefahr, dass Ärzte die Subjektivität ihrer Patienten vernachlässigten, und diese sich als Objekt zu empfinden begannen. Diese Gefahr ergab sich unabhängig vom Stand der Technik: sowohl eine raffinierte Anamnese, der Einsatz des Stethoskops wie auch moderne Bildgebung standen für diesen »objektiven« Zugang zum Körper, der die Person des Patienten an den Rand drängen konnte. Der Körper des Patienten wurde zum Schauplatz einer spannenden Verbrecherjagd, wobei nicht erst seit Dr. House medizinische und polizeiliche Detektive ähnlicher Strategien einsetzten.
Gatekeeper
Die ärztliche Gatekeeper-Funktion bezieht sich auf zwei Entscheidungsbereiche: die Indikationsstellung für medizinisch wirksame Therapien und die Berechtigung zu Leistungen eines solidarischen Sozialsystems. Für eine individuelle Heilung stand Ärzten erst im 20. Jahrhundert eine größere Zahl medizinisch wirksamer Maßnahmen zur Verfügung, erstmalig 1948 konnte die Wirksamkeit eines Medikaments in einer kontrollierten Studie nachgewiesen werden. Damit ergab sich die Aufgabe, Patienten zu identifizieren, die von einer Therapie bei vertretbarem Risiko für Nebenwirkungen profitieren würden; entsprechend mussten diejenigen verschont werden, wo die Nutzen-Risiko-Abwägung negativ ausfiel. Bei anderen Maßnahmen geht es weniger um die individuelle Sorge gegenüber dem Kranken, sondern um eine gesellschaftliche oder ökologische Verantwortung. Um die Entwicklung von Resistenzen zu vermeiden, erhalten in den meisten entwickelten Ländern deshalb Patienten Antibiotika nur mit einer ärztlichen Verschreibung.
Zwar hat sich medizinische Versorgung nie in einem wirtschaftlichen Vakuum abgespielt: ob Patienten ihre Ärzte und die Behandlung bezahlen konnten, ist immer ein von beiden Seiten mitbedachtes Problem gewesen. Mit der Einrichtung von staatlichen Gesundheitssystemen und Versicherungen geht es aber um die finanziellen Ressourcen eines kollektiven Systems, von dem beide – Patient und Arzt – in hohem Maße abhängen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, berechtigte von unberechtigten Ansprüchen zu unterscheiden; diese Feststellung erfolgt überwiegend durch Ärzte.
Partner
Zunehmend wollen Patienten als Person ernstgenommen werden und verstehen ihre Ärzte als Partner in einer gleichberechtigten Beziehung. Entsprechend sind in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Konzeptionen entstanden, nach denen Ärzte die Vorstellungen und Erwartungen ihrer Patienten systematisch klären sollen; für das weitere Vorgehen ist eine gemeinsame Grundlage zu erarbeiten. Neben den objektiven medizinischen Sachverhalten ist jetzt die Subjektivität des Patienten systematisch einzuholen. Dieses patientenzentrierte Vorgehen ist von Levenstein erstmalig dargestellt wurden und hat in Nordamerika, Großbritannien und Skandinavien Eingang in die Aus- und Weiterbildung gefunden.
Die »Shared Decision-Making«-Bewegung hat diese Entwicklung verstärkt. Nicht zuletzt die elektronischen Medien haben Entscheidungshilfen möglich gemacht, mit denen Patienten umfassend über diagnostische, therapeutische und präventive Optionen informiert werden können, Vor- und Nachteile abwägen und ihre eigenen Wertvorstellungen und Präferenzen klären können. Während die Heiler-Funktion grundsätzlich hierarchisch ist, besteht auf der Ebene der Partnerschaft eine Gleichberechtigung von Arzt und Patient; während der Heiler per definitionem über geheimes Wissen verfügt, ist auf der Partnerebene Transparenz als funktional anzusehen.
Das Modell: Zeit und Raum
Die Abbildung zeigt die vier Aspekte ärztlicher Tätigkeit in vier Schichten. Die Breite der Schichten stellt jeweils ihre Bedeutung in verschiedenen historischen Epochen dar. Da jeder Aspekt immer zu einem gewissen Maße präsent gewesen ist, ziehen sich alle vier Schichten durch die gesamte Zeit. So ist beispielsweise auch ein Heiler mit einem sehr autoritären Selbstverständnis von der Kooperation seiner Patienten abhängig, so dass selbst hier ein Moment von Partnerschaft gegeben ist. Vermutlich sind während der gesamten Medizingeschichte die Hilfesuchenden kategorisiert, d.h. in einem weiten Sinne diagnostiziert worden, damit hat sich auch eine detektivische Aufgabe gestellt usw.
Das Bild der übereinander liegenden Schichten kann helfen, blinde Flecken und Tabus zu verstehen. Aus der Sicht einer »neuen« Schicht bzw. Herangehensweise erscheinen die vorhergehenden als veraltet und nicht mehr angemessen, oder sie werden zumindest stark relativiert. Die entsprechende Praxis erregt (Fremd-)Schämen und wird als Angriffspunkt für erzieherische Maßnahmen oder Sanktionen gesehen. Die Begeisterung für die »moderne« Schicht kann andererseits den Blick für die fortdauernden und oft tabuisierten Auswirkungen der »alten« Schichten trüben. Die folgende Diskussion beruht auf der Annahme, dass jede der vier Schichten spezifische Aufgaben an Ärzte im Umgang mit Patienten stellt, die auch heute noch gelten und für die deshalb immer wieder Antworten gefunden werden müssen.
Konsequenzen
In der Begegnung von Patient und Arzt werden auf jeder dieser Schichten zwangsläufig von den Beteiligten Signale ausgesandt – und sei dies die (in der Regel natürlich implizite) Äußerung, dass einer der Beteiligten an einer Schicht kein Interesse habe. So mag ein stark biomedizinisch orientierter Arzt sich vornehmen, seinen Patienten dadurch zu helfen, dass er Erkrankungen präzise diagnostiziert und optimal behandelt; die Ebenen des archaischen Heilers und des Partners interessieren ihn nicht. Seine Patienten werden diesen Arzt nicht als »neutral« empfinden, sondern als kalt und autoritär; dies wird wiederum Auswirkungen auf Adhärenz und Heilerfolg haben. Für das System der vier Schichten gilt also das Diktum des Kommunikationstheoretikers Watzlawick: »Man kann nicht nicht kommunizieren«.
Konflikte und Widersprüche
Niederländische Allgemeinärzte untersuchten in 20 Praxen an 431 Patienten mit Infekten der unteren Atemwege die Auswirkungen der Bestimmung des C-reaktiven Proteins (CRP) und eines Kommunikationstrainings auf die Antibiotika-Verschreibung. Sowohl mit dem Test als auch mit der verbesserten Kommunikation gelang es, die Verschreibungen zu reduzieren. Eine begleitende Interview-Studie zeigte, dass es beim Einsatz des CRP nicht nur um rationale Entscheidungsfindung ging. Von den Allgemeinärzten wurde betont, dass sie durch den Test gegenüber ihren Patienten an Glaubwürdigkeit gewannen, v.a. bei der Nicht-Verschreibung eines Antibiotikums. Sie hatten den Eindruck, dass sich Patienten mit dem Test eher ernst genommen fühlten. »Der Zauber der Mess-Apparatur ist stärker als der Zauber meiner Worte«, bemerkte einer der beteiligten Allgemeinärzte. Hier war offenbar ein Ritual (= kommunikative Handlung) durch ein anderes ersetzt worden: die (schädliche) Antibiotika-Verschreibung durch die (angenommen unschädliche) CRP-Testung. Letztere war auch bei den Ärzten mit Kommunikationstraining eine willkommene Ergänzung ihres Repertoires.
Grantige Gatekeeper
Eine israelische Studie befasste sich mit Konflikten in der Arzt-Patient-Beziehung, die in Zusammenhang mit Rationierungsentscheidungen im Sozialversicherungs-System stehen, d.h. der oben beschriebenen Gatekeeper-Funktion. Entsprechende Konflikte traten in einem Fünftel der untersuchten allgemeinmedizinischen Konsultationen auf. In diesen Situationen zeigten die Ärzte weniger Empathie und reagierten negativer auf ihre Patienten, Auftakt und Schluss des Gesprächs waren verkürzt. Die Ärzte setzten verschiedene Gesprächsstrategien ein, der innere Konflikt wurde den Patienten nur teilweise transparent gemacht. – Hier litt also die Partner-Funktion unter der Gatekeeper-Funktion.
Studienevidenz gegen Kliniker-Erfahrung
Mit dem Schichtenmodell werden die Reaktionen von Praktikern auf »Klinische Dekonstruktionen« plausibel. Darunter verstehe ich die Entzauberung etablierter Behandlungen durch klinische Studien; bekannte Beispiele sind Aderlässe, die Hormonbehandlung in der Menopause und arthroskopische Knorpelglättungen. Diese treffen oft auf wütendes Unverständnis der anwendenden Ärzte, die von der Wirksamkeit überzeugt sind. Sicher spielen hier bedrohte materielle Interessen eine Rolle; vor allem jedoch haben die Anwender auf der Ebene der rituellen Heilung große Erfolge erlebt. Mit dem Einsatz dieser Technologien haben sie eine Antwort auf die Not ihrer Patienten, deren Erwartungen und Hoffnungen gegeben. Eine biomedizinische Wirkung ist dafür offenbar gar nicht nötig gewesen!
Geheimwissen gegen Transparenz
Warum verwenden Ärzte am Krankenbett und in der Praxis permanent lateinische Fachausdrücke, obwohl Patienten diese nicht verstehen? Damit demonstrieren sie ihr Expertentum, das zur archaischen Heiler-Funktion definitorisch dazu gehört; der Heiler muss für seine Wirkung etwas haben, das Familie, Freunden, Nachbarn fehlt: exklusives Wissen. Für die Mobilisierung der Heilkräfte auf dieser Ebene genügt die entsprechende subjektive Überzeugung des Patienten, heute wie in der Vergangenheit dürften die meisten Patienten bei ihren Heilern mehr Heilkompetenz vermutet haben als wissenschaftlich nachweisbar diesen zur Verfügung gestanden hat.
Damit wird die Heilkunst zur Gratwanderung zwischen Entmutigung und Wichtigtuerei. Ärzte, die gegenüber ihren Patienten die der Medizin inhärenten Unsicherheiten zu stark betonen, untergraben das Vertrauen und gefährden ihre Akzeptanz als Heiler. Dass auf der anderen Seite die subjektiv überzeugende Darstellung von Kompetenz ausreicht, die Selbstheilung des Patienten und seine Dankbarkeit zu stimulieren, stellt eine große Versuchung zu Wichtigtuerei und Ausbeutung von Abhängigkeit dar. Der Leser kennt in seiner Umgebung die populären Ärzte mit großem Zulauf, an deren medizinischer Realkompetenz er jedoch große Zweifel hegt. Oft lässt sich nicht unterscheiden, ob hier naive Begeisterung für die eigenen Methoden am Werk ist, die auf empfängliche Patienten überspringt, oder zynische Wichtigtuerei und Geschäftemacherei.
Die evidenzbasierte Medizin ist in dieser Situation ein heilsames Korrektiv. Die randomisierte kontrollierte Doppelblind-Studie, bei der Patienten in allen Aspekten gleich behandelt werden bis auf die Prüfmedikation bzw. das Placebo, hält uns schonungslos den Spiegel vor. Selbst wenn der statistische Test zum Schluss »signifikant« ist, ist der Beitrag des mit viel Hoffnung entwickelten Pharmakons minimal. Damit wird die Vermutung unterstrichen, dass Ärzte heute wie früher vor allem durch ihre Person wirken.
Normative Konsequenzen - Alle vier Schichten reflektieren
Der Patient bestimmt mit seinem Anliegen und Erwartungen die Ebene, auf welcher der Dialog mit dem Arzt beginnt. Bei einer schweren Erkrankung besteht vielleicht das Bedürfnis, sich an einen starken Heiler anzulehnen, beim Wunsch nach einer Beratung über eine Berentung ist es die des Gatekeepers usw. Auch das Setting kann die Begegnung determinieren: Ein Arzt, der als Gutachter für die Pflegeversicherung tätig ist, ist auf eine Gatekeeper-Funktion festgelegt; ein Patient, der zur Diagnostik überwiesen wird, hat eher mit einem Arzt-Detektiv zu tun.
Darauf, wie es in der Begegnung weitergeht, d.h. welche Schichten in der Begegnung und im Ergebnis welche Bedeutung haben, können Ärzte jedoch Einfluss nehmen. Aus der oben dargestellten Zwangsläufigkeit der Äußerung auf allen vier Schichten ergibt sich die Forderung, dass Ärzte in jeder Begegnung alle vier Schichten reflektieren müssen. In den dargestellten Beispielen zeigt sich, dass die ärztliche Kommunikation durch einander widersprechende Botschaften durchaus ernste »Nebenwirkungen« haben kann.
Autonomie und Partnerschaft stärken
Mit der Schwere einer Erkrankung und einem akuten Verlauf gilt eine Regressionstendenz: Diese Patienten sind verunsichert und fühlen sich bedroht, oft muss unter Zeitdruck über invasive Maßnahmen entschieden werden. In dieser Situation suchen sie oft eher den existenziellen Beistand auf der archaischen Ebene des Heilers. Auch in dieser Situation gilt es, den Austausch in Richtung von Autonomie und Partnerschaft zu gestalten. Dies muss einfühlsam geschehen und ohne den Patienten zu überfordern, oft sind Krankheitsverlauf und das Ergebnis medizinischer Maßnahmen abzuwarten. Ärzte sollten die oberste Schicht als Ziel jedoch nicht aus dem Auge verlieren, d.h. die Stärkung der Entscheidungsautonomie des Patienten (Schicht des Partners).
Das Gegenteil wäre eine Gefälligkeits-»Medizin«, darunter verstehe ich das opportunistische Verbleiben auf der Eingangs-Ebene. Als Beispiel lassen sich Menschen mit einer Neigung zur Somatisierung anführen, die in unserem technologie-fixierten modernen Medizinsystem leicht Ärzte finden, die sich unkritisch auf die nächste Runde organischer Diagnostik einlassen, ohne ihre »Detektiv-Rolle« kritisch zu hinterfragen. In ähnlicher Weise setzen viele komplementärmedizinische Angebote auf Rituale, ohne die anderen Schichten berücksichtigen zu können.
Arzt als Verkäufer?
Auch wenn das System der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht frei von wirtschaftlichen Anreizen ist, so hat das Sachleistungsprinzip doch dafür gesorgt, dass in der ärztlichen Praxis die Ökonomie relativiert werden konnte. Das sich ausweitende IGeL-Angebot stellt deshalb einen ethisch höchst bedenklichen Anreiz zum Missbrauch eines höchst vulnerablen Schutzbefohlenen dar. Ähnliche Überlegungen gelten für den Anreiz, Leistungen im stationären Bereich auszuweiten. Solidarische Gesundheitssysteme haben also durch De-Ökonomisierung der Arzt-Patient-Beziehung Widersprüche verringert und beide Seiten von materiellen Sorgen entlastet, was durch die Floskel des »Freien Berufs« oft überdeckt wird. Es sind gerade die solidarischen Organisationsformen, die größere klinische und kommunikative Freiheit verschaffen.
Die vier Schichten umschreiben Funktionen in einer komplexen Beziehung und Rollen in einem weiteren sozialen Kontext. Neben der historischen und der Tiefen-Dimension kommt also die Aufmerksamkeits-Ökonomie hinzu: das Modell steckt den Rahmen dessen ab, was in der Begegnung von Patient und Arzt grundsätzlich geleistet werden kann.
Schlussbemerkung
Alle vier Schichten und ihre Grundanforderungen bleiben; keine wird durch die soziale, wissenschaftliche oder technische Entwicklung gegenstandslos. Selbst die Struktur mit einem patriarchalischen Heiler kann für eine persönliche Krisensituation auch in einem aufgeklärten, patientenzentrierten Zeitalter funktional sein. Dabei ist in der Vergangenheit mehrfach auf die multiplen Rollen hingewiesen worden, die Ärzte zu übernehmen haben. Das Schichtenmodell geht jedoch über eine Aufzählung hinaus: Es stellt zeitliche und inhaltliche Zusammenhänge dar, weist auf Widersprüche hin und kann damit eine Hilfe zur Reflexion und Evaluation im ärztlichen Alltag wie auch in der Lehre sein.
(Die Langfassung mit allen Fußnoten und Literaturverweisen bekommen Sie bei der Geschäftsstelle des vdää und auf der Homepage; eine ebenfalls gekürzte Version des Textes wurde im Deutschen Ärzteblatt 2012; 109: A-2078-82 veröffentlicht.)
Prof. Dr. med. Norbert Donner-Banzhoff, M.H.Sc., Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin, Philipps-Universität Marburg
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Wissen wir, was wir tun?, 4/2017)