Kiezmedizin erleben und gestalten
Von Wolfram J. Herrmann, Sabine Gehrke-Beck, Christoph Heintze
Wolfram J. Herrmann, Sabine Gehrke-Beck, Christoph Heintze stellen uns ein neues Projekt an der Charité in Berlin vor, das versucht, in einem Wahlpflichtfach »Kiezmedizin erleben und gestalten« soziale Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit für Medizinstudierende praktisch erlebbar zu machen.
Soziale Aspekte spielen für die Gesundheit von Menschen bekanntermaßen eine große Rolle, so haben u.a. der Wohnort, die soziale Einbindung und die Berufstätigkeit Einfluss auf Gesundheit, Krankheit und Lebenserwartung. Diese Aspekte werden in ihrer Theorie im Medizinstudium vermittelt; die praktische Verknüpfung zum späteren ärztlichen Handeln gelingt jedoch meist nicht. An der Universität Gent gibt es schon seit einigen Jahren einen einwöchigen Pflichtkurs für Medizinstudierende, in dem diese in einem sozial benachteiligten Gebiet mit Patient*innen und Ärzt*innen sprechen und eine Gemeindediagnose (Community Diagnosis) stellen. Das Institut für Allgemeinmedizin, Charité-Universitätsmedizin Berlin, verfolgt das Ziel dieses Konzept für Medizinstudierende in den deutschen Kontext zu übertragen.
Seit dem Wintersemester 2016/2017 bieten das Institut für Allgemeinmedizin Medizinstudierenden im sechsten Semester das Wahlpflichtfach »Kiezmedizin erleben und gestalten« an. Neben Theorie zu Community Oriented Primary Care ist das zentrale Element des Wahlpflichtfaches das proaktive Beobachten, Bewerten und Forschen der Studierenden in einem »Kiez« – einem überschaubaren Stadtgebiet in Berlin. Die Studierenden lernen einen Kiez bezogen auf gesundheitsrelevante Probleme zunächst kennen. Dazu erkunden sie den Kiez zu Fuß, einzeln und in Kleingruppen angelehnt an die Stadtethnographie. Anhand ihrer Beobachtungen sollen sie gesundheitsrelevante Probleme im Kiez erarbeiten. Die Studierenden entscheiden selbst, welche unmittelbar wahrgenommenen Probleme sie im weiteren Verlauf des Wahlpflichtfaches vertiefen möchten. In Kleingruppen von drei oder vier Studierenden setzen sie sich dann mit der konkreten Problemstellung auseinander. Dabei wenden sie qualitative oder quantitative Methoden auf pragmatische Weise an. Institutsmitarbeiter*innen unterstützen dabei vor allem mit methodischen und praktisch-organisatorischen Hinweisen. Zum Abschluss des Wahlfachs nach drei Wochen präsentieren die Studierenden ihre Ergebnisse lokalen Akteuren in den jeweiligen Bezirksverwaltungen und diskutieren sie mit ihnen.
Der erste Kiez, den wir für das Wahlpflichtfach wählten, war im Wintersemester 2016/2017 der Planungsraum »Rüdigerstraße« in Berlin-Lichtenberg. Dieser östlich gelegene Planungsraum ist in vielen soziodemographischen Bezugswerten ein durchschnittlicher Bezirk in der Stadt. Von historischen Interesse ist, dass hier die ehemalige Zentrale der Staatssicherheit der DDR verortet war. Die elf Studierenden in diesem Semester wählten sich drei Themen, die sie eingehender untersuchten: die Versorgung von chronisch kranken Kindern in einer Schule mit sonderpädagogischem Schwerpunkt, die Versorgungslage von Menschen ohne festen Wohnsitz und die Verfügbarkeit der kinderärztlichen Basisversorgung im Kiez. Bei der Versorgung von chronisch kranken Kindern besuchten die Studierenden die Carl-von-Linné-Schule. Diese größte Schule für körperbehinderte Kinder in Europa war Ausgangspunkt für eine Reflektion der Vor- und Nachteile bei der Integration einer kinderärztlichen Versorgung in schulische Institutionen. Bei der Versorgungslage von Menschen ohne festen Wohnsitz kartierten die Studierenden alle Angebote für Menschen ohne festen Wohnsitz im Kiez und der näheren Umgebung. Zusätzlich wurden Mitarbeiter*innen von Unterstützereinrichtungen befragt. In ihrer Präsentation benannten die Studierenden den niedrigschwelligen Zugang zu einer Krankenstation und die Bereitstellung von Schließfächern als dringlich, damit Menschen ohne festen Wohnsitz ihr Eigentum besser aufbewahren können. Bei der kinderärztlichen Versorgung im Kiez analysierten die Studierenden, ob sich die subjektiv wahrgenommene Unterversorgung mit Kinderärzt*innen im Kiez statistisch belegen lässt. Sie setzten die Anzahl der Kinderärzt*innen im Kiez zu der Anzahl der Kinder in Bezug und beschrieben, dass die Versorgungssituation im Berliner Durchschnitt liegt, zumindest, was die Kriterien der Kassenärztlichen Vereinigung betrifft. Ihre Befragung einer Kinderärztin ergab, dass Routinekontrollen und banale Erkältungskrankheiten als besonders zeitintensiv eingeschätzt wurden. Zusammenfassend diskutierten die Studierenden verschiedene Ansätze und Strategien über die reine Forderung nach mehr Kinderärzt*innen hinaus.
Im Sommersemester 2017 wählten wir als Kontrast den Planungsraum Flughafenstraße in Neukölln, auch Flughafenkiez genannt. Dieser Kiez gilt als einer der Hot Spots in Berlin mit einer schwierigen sozialen Lage, vielen relativ jungen Bewohner*innen mit einem hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig erfährt dieser Kiez einen starken Zustrom von Studierenden und anderen jungen Leuten. Acht Studierende untersuchten im Sommersemester diesen Kiez und vertieften zwei Themenbereiche: die Versorgung rund um die Geburt und gesundheitsschädliches Verhalten von 14-20-Jährigen. Zur Versorgung rund um die Geburt recherchierten die Studierenden, dass das nächstgelegene Krankenhaus mit einer Entbindungsstation relativ weit entfernt liegt und vor Ort nur eine praktizierende Hebamme zu Verfügung steht. Die Studierenden recherchierten, dass bestehende Angebote um die Geburt von muslimischen Müttern wenig in Anspruch genommen würden, möglicherweise, weil hier ein stärkeres soziales Netz und eine stärkere familiäre Bindung bestehe und die Versorgung im Wochenbett als Aufgabe der Familien anzusehen sei. Die Recherche der Studierenden zeigte zudem, dass vielen Eltern neugeborener Kinder in Neukölln bestehende Angebote oftmals nicht bekannt seien. Die Studierenden diskutierten vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse, wie Informationen erfolgreich zu vermitteln sind und welche Rolle kultursensible Aspekte dabei spielen.
In Experteninterviews arbeitete eine andere Gruppe der Studierenden das gesundheitsschädliche Verhalten von 14-20-jährigen Kiezbewohnern heraus und benannten Nikotinkonsum, Marihuanakonsum und Gewalterfahrungen als Problemfelder. Daraufhin befragten sie Jugendliche mit einem kurzen Fragebogen persönlich vor Ort. Dabei stellte sich vor allem Gewalterfahrung in der Schule als relevant heraus. Ihre Beobachtungen im Kiez ergaben, dass es kaum Angebote für über 14-Jährige gibt, insbesondere auch nicht für Jungen und junge Männer. Zusätzlich sei das Rauchen in Gaststätten weit verbreitet. In ihrer Abschlusspräsentation erarbeiteten die Studierenden Ansätze einer möglichen Intervention, die Multiplikatoren einschließt und bestehende und erfolgreiche Konzepte (»Kafka-Kampagne: Kein Alkohol für Kinder«) verstetigt. Die Diskussion mit dem zuständigen Mitarbeiter der Neuköllner Verwaltung ergab, dass dieses Problem bekannt sei und daher Projekte zur Gewaltprävention an Schulen durchgeführt würden.
Insgesamt waren die Studierenden in den beiden Durchgängen für das Wahlfach sehr motiviert und interessiert; sie investierten viel Zeit und Energie in ihre Projekte und diskutierten lebhaft. Die Ergebnisse der Evaluation werden zeitnah separat publiziert. In diesem Wintersemester setzen wir das Wahlpflichtfach »Kiezmedizin« in dem Bezirk Reinickendorf fort. Wir hoffen, dass sich dieser innovative Ansatz der Integration ärztlichen Denkens und Handelns auf Gemeindeebene weiter etabliert und von weiteren medizinischen Fakultäten übernommen wird.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Wissen wir, was wir tun?, 4/2017)