Verrücktheit des Objektiven
Volkmar Sigusch über die Möglichkeit von Erkenntnis unter den Bedingungen von Fetischismus und Verdinglichung
1984 ist die Abhandlung des Sexualmediziners Volkmar Sigusch »Die Mystifikation des Sexuellen« erschienen; sie ist 1992 in die »Encyclopédie philosophique universelle« der Presses Universitaires de France als Werk des Jahrhunderts aufgenommen worden. Zu Recht, wie wir finden. Deshalb haben wir versucht, Passagen daraus zusammenzustellen, in denen Sigusch unter Rückgriff auf Karl Marx‘ »Kritik der politischen Ökonomie« diskutiert, wie unter den Bedingungen des Fetischismus und der Verblendungszusammenhänge der warenproduzierenden Gesellschaft Erkenntnis als kritische dennoch möglich und nötig ist, um der Mystifikation – auch des Sexuellen – reflektiert begegnen zu können.
Anarchische Lust, die zur Räson gebracht wird und dem gesunden Volksempfinden ein Grauen ist; Kriterien des Richtig und Falsch, des Beherrscht und Unbeherrscht, die durchgreifen; das Triebhafte, das, über einen Kamm geschoren, in Ehe wie Perversion uniform ist; der Reiz, der in sich läuft und immer raffinierter werden muß, weil er nichts fruchtet; das Sexuelle, das ohne Typisierung nicht zu denken ist, dafür umso mehr ohne Subjektivität; die Mystifikation der Liebe, die den Menschen suggeriert, ihnen gehöre etwas ganz Persönliches, es komme auf sie als Individualitäten, auf ihre Innerlichkeit an, sie seien voll und ganz am Leben, obgleich das Einzelmenschliche in den ökonomischen und gesellschaftlichen Bewegungen stumm und belanglos ist – all das sind Beschreibungen und Resultate einer bestimmten Verdinglichung und Verdrehung des Sexuellen, einer Verdinglichung und Verdrehung beider: des Triebes und des Bewußtseins.
Die Gestalt des Sexuellen, von der bereits unter verschiedenen Aspekten die Rede war, auch dem: daß sie in ihrer heutigen Eigentümlichkeit etwas ist, was wir in untergegangenen Gesellschaftsformationen nicht finden könnten, diese spezifische Gestalt des Sexuellen hat ihr Fundamentum in re in der Struktur und Funktionsweise der warenproduzierenden Tauschgesellschaft, in der wir leben. Dessen bin ich gewiß, und davon soll die Rede sein. (S. 11 ff.) (…)
Die Marxschen Kategorien Warenfetischismus und verdinglichtes Bewußtsein, sind, wie ich zeigte, in der Kritik der politischen Ökonomie weder rein ökonomisch gefaßt noch zum Psychologischen hin neutral, weder allein solche der »Basis« noch allein solche des »Überbaus«. In ihnen sind wesentliche, »Tat-Sachen« des allgemeinen Lebens und des allgemeinen Alltagsbewußtseins vermittelt. Der Fetischismus ist nicht ohne ein mehr oder weniger beständig verdrehtes Spontanbewußtsein und die Verdinglichung des Spontanbewußtseins nicht ohne die durchgesetzte Warengesellschaft zu denken. Dabei meint Vermittlung nicht irgendein mehr oder weniger enges Verhältnis, eine »lnteraktion« oder »Kommunikation« zwischen Gesellschaft und Bewußtsein; Vermittlung ist in der Sache selbst. Warenfetischismus meint keinen besonderen Inhalt oder gar eine Grille des Bewußtseins, sondern die Bildung des Alltagsbewußtseins selbst, und zwar eines notwendig falschen. Verdinglichung des Bewußtseins meint keinen speziellen psychischen Mechanismus oder Zustand, sondern den gesellschaftlichen Lebensprozeß selbst. Insofern sind diese Kategorien metaökonomische und metapsychologische (letzteres natürlich nicht im psychoanalytischen Verstand), gleichwohl und gerade deshalb aber für eine ökonomische Theorie ebenso fundamental wie für eine materialistische Theorie des Subjekts einschließlich einer Sexualtheorie. (…)
Die Kategorien Warenfetischismus und verdinglichtes Bewußtsein sind in dem eminenten Sinn dialektisch, als in ihnen Sein und Bewußtsein ineinanderliegen. Die Mystifikationen, die sie fassen, können nicht mit Ideologien, Religionen oder anderen kollektiven Transpositionen des Bewußtseins gleichgesetzt werden. Fetischcharakter der Ware, Geldschleier, Kapital-Mystifikation usw. – das meint eine basale und generelle Verblendung. Diese wird nicht irgendwie von außen oder von weit her in die Gesellschaft und die Menschen hineingebracht; sie ist ihr Wesen. Wie die Freudsche Seelenanalyse hinter dem individuell Bewußten das Unbewußte zu fassen vermochte, legte die Marxsche Warenanalyse hinter den gang und gäben Denkformen, die sich unmittelbar, spontan reproduzieren, beispielsweise als Vorstellungen von Natürlichkeit, Freiheit und Recht im Wirtschafts- wie im Liebesleben, einen gesellschaftlichen Zusammenhang frei, der im Alltagsleben verborgen bleibt oder eben in der Form der gang und gäben Bewußtseinsformen verkehrtherum erscheint. Ideengeschichtlich haben beide, Freud und Marx, der von der klassischen deutschen Philosophie auf die Spitze getriebenen Annahme den Garaus gemacht, es gehe vernünftig zu im bürgerlichen Leben. (S. 70ff.) (…)
»Um ... eine Analogie zu finden«, sagt Marx, »müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.« (Karl Marx: Kapital 1, MEW 23, S. 86) Der Warenfetischismus und die Verdinglichung des Bewußtseins, hier als basale Verblendung zusammengefaßt, sind insofern gegenüber allen vorausgegangenen Vergegenständlichungen und Verschleierungen historisch einzigartig, als sie, einmal durchgesetzt, alle und alles durchdringen. Heute haben sie die letzte Krypte erreicht, gehören nicht nur zur Ware oder zum Kapital, sondern zum Leben im Kapitalismus. Eine einheitliche Wirtschaftsstruktur für die ganze Gesellschaft und eine formell gleiche Bewußtseinsstruktur bei allen Gesellschafts-
mitgliedern hatte es vor dem Kapitalismus nicht gegeben. Gegeben hat es aber im menschlichen Leben immer Vergegenständlichung; Arbeit ist Vergegenständlichung und Sprache auch. Wenn jedoch mit Marx und in seiner Folge von Fetischismus oder Verdinglichung gesprochen wird, ist ein gesellschaftlicher Zusammenhang gemeint, durch den selber sein eigener wesentlicher Kern verschleiert wird und verkehrt erscheint. Stellen wir uns wieder auf den Boden der Marxschen Warenanalyse, dann sind die gesellschaftlichen Verhältnisse der Verblendung, von denen die Rede war, mit der kapitalistischen Produktionsweise entstanden und werden mit ihr untergehen.
Wie aber können wir, in diesen Verhältnissen lebend, unsere festen Gedanken in Flüssigkeit bringen, um die bereits gestellte Frage wieder aufzunehmen? Wie ist das überhaupt möglich, wenn alles abstrahiert und verknöchert ist: Wenn nicht mehr die Besonderheit der Arbeit, sondern ihre Allgemeinheit die herrschende gesellschaftliche Form ist; wenn an die Stelle überschaubarer persönlicher Abhängigkeiten, beispielsweise der der Leibeigenen und Vasallen im Feudalismus, undurchschaubare gesellschaftlich Anforderungen, Zwänge und Bewegung eingetreten sind; wenn Arbeiten und Produkte eine von ihrer Realität unterschiedene phantasmagorische Gestalt annehmen; wenn wir in einer fix und fertigen Welt von Dingen und Dingbeziehungen leben, deren Funktionen wir vielleicht noch zu durchschauen, deren Ablauf wir aber durch individuelles Tun trotz allen Erkennens nicht zu ändern vermögen; wenn sich unsere Tätigkeiten uns selbst gegenüber objektivieren; wenn sogar die Dinge verdinglicht, entfremdet werden, denn was hat die Maschine mit dem Profit, was haben Grund und Boden mit der Grundrente zu tun?
Ich denke, die Verrücktheit des Objektiven selber ist die objektive Einfallspforte für das Erkennen. Im Widerspruch, der in der Sache, der in den Verhältnissen, in ihrem inneren Kern existiert und ihr Wesen ausmacht, in dem Riß, der durch die kapitalistische Gesellschaft geht, liegt die objektive Möglichkeit für das reflektierende Denken, den festen und selbstverständlichen Lebensprozeß zu tangieren. Die Theorie des gegenständlichen Scheins beruht auf der Dialektik von Wesen und Erscheinung. Diese sind als historisch gewordene gefaßt, nicht als metaphysische mit einem ontischen, logischen oder genetischen Ort jenseits der Zeiten. Sie sind in sich selber vermittelt, prozessieren ineinander, koinzidieren aber nicht. Deshalb kann ein Widerspruchsbewußtsein das gesellschaftliche Alltagsbewußtsein durchbrechen. Wäre die Rationalität der kapitalistischen Welt nicht in sich selber irrational, gäbe es die ökonomische Konkurrenz so wenig wie den individuellen Fall, Schwein gehabt zu haben. Vor allem aber zeigen ökonomische Krisen und gesellschaftliche Konfrontationen, daß Schein und Sein nicht zusammenfallen. Dem gesetzmäßig zustande gekommenen Detail widerspricht die Zufälligkeit des Ganzen. Der gesellschaftlich-sachliche Zusammenhang gibt sich als einer der Zusammenhangslosigkeit zu erkennen, das sich maskiert durchsetzende Durchschnittsgesetz als eines der Regellosigkeit, der synthetisch-harmonische Charakter des Gesamtsystems als menschenfeindliche Verselbständigung seiner Teile.
Doch das ist theoretisch gesprochen. Die Verblendungsdichte des Bewußtseins mag abnehmen, sobald einer arbeitslos geworden ist, einen Lohn aus Angst diktiert bekommt, sich offensichtlich selber selbstverdingen muß oder unter einen Sozialplan gestellt wird. Ein Selbstbewußtsein der Verdinglichung mag dann entstehen, wenngleich allerlei ideologische und psychische Barrieren sein Entstehen zu verhindern suchen. Die kalte Wut, das persönliche Erleben der gesellschaftlichen Entwertung und das Wissen um die Ungerechtigkeit der Verfügenden durchdringen jedoch nicht die abstrakte Unmittelbarkeit der realen, beständig alltäglichen oder plötzlich schicksalhaft erscheinenden Tatsachen des Lebens. Den Zusammenhang von objektiver Notwendigkeit und individuellem Zufall legen sie nicht auseinander. Das heißt alles nicht, daß sie politisch nicht zu den richtigen Schlüssen in dem überschauten Bereich führen könnten. Es meint, daß erst eine geistige Anstrengung die Widersprüche auf ihren Begriff bringen kann.
Geistige Anstrengung - das heißt zunächst: Auch wenn die »späte wissenschaftliche Entdeckung ... Epoche (macht) in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit«, wie Marx sich nicht scheut, über seine eigene Arbeit zu sprechen, »verschluckt sie keineswegs den gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Charaktere der Arbeit. Was nur für diese besondre Produktionsform, die Warenproduktion, gültig ist ... erscheint, vor wie nach jener Entdeckung, den in den Verhältnissen der Warenproduktion Befangenen ebenso endgültig, als daß die wissenschaftliche Zersetzung der Luft in ihre Elemente die Luftform als eine physikalische Körperform fortbestehn läßt (Kapital 1, 88).« Das gilt auch für den Forscher selber, der ein »Geschöpf« der Verhältnisse »sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag« (Kapital 1, S. 16). Seine Erkenntnis löscht sein Alltagsbewußtsein nicht aus, vermag es aber zu modifizieren. Noch prinzipieller aber ist zu bezweifeln, ob sein Erkenntnisakt trotz adäquaten begrifflichen Fassens der Wirklichkeit diese so weit überwinden kann, daß er von Verdinglichung nicht mehr gezeichnet ist. Das Umfassen der Wirklichkeit mit dem Begriff, und sei er noch so dialektisch entfaltet, erinnert zumindest an das herrschende Prinzip der Kalkulation, an das frühbürgerliche Erkenntnisideal der Mathematisation des ganzen Lebens. Solange ein identisches Subjekt-Objekt praktisch undenkbar ist, muß auch der Theorie des gegenständlichen Scheins selber etwas von den falschen Antinomien Subjekt und Objekt, Notwendigkeit und Freiheit, Individuum und Gesellschaft, Form und Inhalt, Wesen und Erscheinung anhaften. Solange die basale Verblendung nicht nur generell ist, sondern prinzipiell auch untilgbar, muß den Kategorien des Warenfetischismus und des verdinglichten Bewußtseins selber etwas von dem anhaften, was sie zu begreifen suchen. Und so gibt es in der Theorie selber einen Boden für die theoretische Fetischisierung des Fetischismus in Gestalt des Ökonomismus, Psychologismus usw. Die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit kann von einer Theorie nicht außer Kraft gesetzt werden, steht in ihr selber nicht still. Ein theoretisch begründetes und empirisch waches Vermittlungsbewußtsein, welches Sein und Bewußtsein nicht parallelisiert, ineinander abbildet oder überhaupt zusammenfallen läßt, kann jedoch die Menschen und Dinge aus ihrer Fetisch-Isolation soweit herausdenken, daß das Positive im Negativen zutage tritt. Verdinglichung des Bewußtseins heißt ja nicht Stillstand des Denkens, sondern meint eine bestimmte Grundstruktur. Deshalb ist der Schleier, der über dem Ganzen liegt, ebenso wenig ganz und gar undurchdringlich wie ganz und gar zu zerreißen. In Analogie könnte man sagen: Wie es verschiedene Ebenen und Grade seelischer Realität und Klarheit gibt - Primärprozeß, Traum, Tagphantasie, Symptombildung usw. –, so gibt es verschiedene Ebenen und Grade geistiger Realität und Klarheit, wobei das Trennen dieser von jenen wie die Isolation der Ebenen willkürlich ist, weil selber ein Produkt der Verdinglichung. (S. 82ff.)
(Quelle: Volkmar Sigusch: »Die Mystifikation des Sexuellen«, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1984)
Prof. Dr. Volkmar Sigusch war bis Oktober 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft am Universitätsklinikum Frankfurt/Main
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Wissen wir, was wir tun?, 4/2017)