Demokratische Medizin als soziale Bewegung
Thesen von Hans-Ulrich Deppe zur Entstehung und Ideengeschichtedes Vereins Demokratischer Ärztinnen und Arzte
Zum Auftakt der Jahreshauptversammlung führte Hans-Ulrich-Deppe anlässlich des 30jährigen Bestehens des vdää in die Geschichte der kritischen Medizin ein. Wir dokumentierten seinen Vortrag.
Wenn wir heute über die »Zukunft des Gesundheitswesens« sprechen, gilt: Wer über die Zukunft reden will, muss von der Gegenwart ausgehen. Und wer die Gegenwart verstehen will, sollte deren reale Geschichte kennen. Zur Geschichte und Vorgeschichte des vdää gäbe es viel zu sagen. Ich habe mir einige zentrale Punkte herausgegriffen. Diese Punkte sind sicher nicht unbekannt. Ich halte sie für charakteristisch und denke, dass sie besonders zur Einführung in das Gesundheitspolitische Forum geeignet sind.
1. Die Demokratische Medizin ist aus der Kritischen Medizin hervorgegangen
Was ist bzw. war die Kritische Medizin?(1) Die Kritische Medizin entstand im Kontext der Studentenbewegung, die sich als antiautoritäre, sozialistische und antifaschistische Bewegung verstand. Diese Orientierung spiegelt sich auch in der Geschichte des vdää wider.
Nach den tödlichen Schüssen auf den Studenten Benno Ohnesorg während einer Demonstration gegen den Schah von Persien am 2. Juni 1967 in Berlin kam es an nahezu allen Universitäten zur Gründung von »Kritischen Universitäten«. Es entstanden also Alternativen unter dem Dach der existierenden versteinerten Universitäten. Viele Hochschullehrer aus der Nazizeit waren noch immer in Amt und Würden.
Die Kritischen Universitäten sollten die Inhalte bearbeiten, die in der offiziellen Lehre bewusst verschwiegen wurden. Diese Bewegung ging von den Gesellschaftswissenschaften aus – insbesondere der Kritischen Theorie, die in Frankfurt mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer stark vertreten war. Sie beeinflusste sehr schnell andere Fakultäten wie die der Juristen, die Psychologen, Pädagogen, auch die Wirtschaftswissenschaftler und die Medizin. In der Medizin fiel sie auf fruchtbaren Boden, da diese besonders autoritär strukturiert war.
Die Medizin unterschied sich allerdings von den anderen Fakultäten. Während die meisten Fakultäten allein an der Universität beheimatet waren, fand in der Medizin die klinische Ausbildung bereits in Einrichtungen der späteren Berufspraxis statt. Der autoritäre Druck(2) in den Kliniken – insbesondere in Person der Chefärzte – spielte damals eine große Rolle. Heute wird er durch den ökonomischen Druck überlagert bzw. ergänzt.
Also, wie kam es nun zur Kritischen Medizin? Ganz konkret, wie ich es erlebte: Ich hatte mich entschieden nach meinem Medizinstudium, ein Zweitstudium der Soziologie anzugehen. 1967 wurde ich wissenschaftlicher Assistent bei dem Soziologen Werner Hofmann in Marburg. Bei ihm lernte ich politische Ökonomie. Dort suchte mich der Medizinstudent Manfred Braun vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) auf und sagte: Du bist doch Mediziner. Kannst du nicht mit uns einen Arbeitskreis über »Medizin und Gesellschaft« machen?
Wir suchten nach Vorbildern in der Weimarer Republik und fanden von dem Medizinhistoriker Henry Sigerist, der 1933 von Leipzig an die Johns Hopkins Universität in Philadelphia emigrieren musste, die Rede, die er kurz nach seiner Ankunft vor Medizinstudenten hielt. Wir übersetzten sie, veröffentlichten sie in den Marburger Blättern und luden damit zu einem Seminar »Soziologie des Krankenhauses« ein. Aus diesem Seminar ist der Arbeitskreis Kritische Medizin (AKM) hervorgegangen. Er war sozusagen die Marburger Basisgruppe. Das erste überregionale Treffen der medizinischen Basisgruppen fand 1969 in Mainz statt.
Es folgte 1973 der legendäre Marburger Kongress »Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt«(3). Das war in der Zeit, in der das »klassenlose Krankenhaus«(4) in Hanau geplant wurde und unser Kollege Hans Mausbach mit einem Berufsverbot belegt war. An dem Kongress nahmen etwa 1.800 Mitarbeiter aus allen Bereichen des Gesundheitswesens teil. Darüber hinaus kamen Vertreter der Gewerkschaften, Studenten, Kommunalpolitiker und renommierte Wissenschaftler.
Es wurde über Missstände diskutiert, u.a. über die
• ungleiche regionale Verteilung der niedergelassenen Ärzte,
• Personalmangel in den Krankenhäusern,
• den Einfluss der Pharmaindustrie,
• Widerstand gegen die konservativen bzw. reaktionären Standesorganisationen.
Themen, die uns auch heute noch bekannt vorkommen!
Schon kurz nach diesem Kongress diskutierten wir auch über die Teilnahme an Wahlen zur Delegiertenversammlung der Landesärztekammer. Die Diskussionen fanden statt unter der Überschrift »Marsch durch die Institutionen«. Das war nicht selbstverständlich. Einige hielten das nämlich nicht für revolutionär. Die Beteiligung an den Wahlen wurde nicht sofort realisiert. Erst ab 1976 kam es zu erfolgreichen Kandidaturen in fast allen Landesärztekammern. Es begann in Hessen. Wir waren sozusagen die Blaupause, an der sich viele orientierten.
Die Kritische Medizin ist dann als Demokratische Medizin in die Kammern eingezogen mit der Parole:
2. Demokratische Berufpolitik statt gruppenegoistische Standespolitik(5)
Das Eindringen der Demokratischen Ärzte und Ärztinnen in die Landesärztekammern veränderte die gesundheitspolitische Landschaft. Es verhinderte, dass die Ärzteschaft – wie zuvor – nicht mehr nur mit einer konservativen Stimme sprechen konnte. Es gab nun auch Ärzte, die sich von den gruppenegoistischen Zielen der ärztlichen Standespolitik absetzten und dazu in Opposition standen.
Dabei ging das solidarische Denken der Demokratischen Ärzte über ihre unmittelbaren Berufsinteressen hinaus. Sie suchten Kontakt zu den nichtärztlichen Mitarbeitern, den Sozialversicherten und ihren Gewerkschaften sowie Patientenorganisationen. Sie organisierten sich selbst in Gewerkschaften. Sie verstanden politische Solidarität berufsübergreifend – und zwar als die Solidarität der abhängig Beschäftigten.
Und ihre Absicht war es, deren Interessen innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens gegenüber dem Staat und dem Kapital durchzusetzen. Im Gesundheitswesen ging es um strukturelle Reformen mit dem Ziel einer humanen und sozialen medizinischen Versorgung – und es ging zugleich um demokratische Arbeitsbedingungen. Wir dachten dabei u.a. an öffentliche-kommunale Polikliniken. Das war übrigens eine Reizwort für die Standespolitiker und sie forderten uns auf: »Geht doch nach Drüben!«
3. Medizin und Faschismus (Antifaschismus)
Es gab nun auch Ärztinnen und Ärzte, die sich mit der Vergangenheit der Standesorganisationen in der Zeit des Faschismus beschäftigten. Wir waren bereits sensibilisiert durch die Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses von Alexander Mitscherlich(6), dem Frankfurter Psychoanalytiker. Wir wollten wissen, wie unsere Vorgänger beteiligt waren an Zwangssterilisierungen, an der Tötung von Juden und Sozialisten, an der »Ausmerzung lebensunwerten Lebens« oder an medizinischen Menschenversuchen mit tödlichem Ausgang.
Wir sahen darin eine perverse Verachtung des Eids des Hippokrates. Auf den Gesundheitstagen Anfang der 1980er Jahre, an denen jeweils mehrere tausend Gesundheitsarbeiter teilnahmen, haben wir uns ausführlich mit der Medizin im Faschismus beschäftigt.
Nach heftigen Auseinandersetzungen ist es schließlich der kritischen und demokratischen Gesundheitsbewegung gelungen, die Phalanx der hart gesottenen Altnazis in der Ärzteschaft zu brechen. Erstmals gelang es Mitgliedern des vdää 1987 auf dem Deutschen Ärztetag in Karlsruhe das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Maßgeblich daran beteiligt war übrigens unser Vorsitzender Wulf Dietrich. 1989 hat Ellis Huber dann als Präsident der Landesärztekammer Berlin gegen heftige Widerstände den Deutschen Ärztetag in Berlin, den er ausrichtete, mit der Nazimedizin konfrontiert.
Das Thema hat sich bedauerlicher Weise nicht erledigt! In neuen Kleidern – wie aggressiven rassistischen Ressentiments – taucht es leider heute wieder auf und hat in den letzten Jahren sogar massiv zugenommen.
4. Soziale Frage: Klassenmedizin
In der sozialen Medizin hat es Tradition, danach zu fragen: Verteilen sich die Krankheiten in einer Gesellschaft gleich oder ungleich? Durch zahlreiche empirische Studien – die bis zu Rudolf Virchow(7) zurückreichen – konnte belegt werden, dass die unteren sozialen Klassen auch heute noch häufiger und schwerer erkranken als die oberen. Als Ursache dafür wird den Arbeits- und Lebensbedingungen besondere Bedeutung beigemessen.
Die gleiche Frage stellt sich natürlich auch für die Behandlung von Krankheiten. Das kommt besonders in der Spaltung der Versorgung in Privatpatienten und Kassenpatienten zum Ausdruck. Bernd Kalvelage(8) hat das eindrucksvoll wieder für die heutige Zeit nachgewiesen und mit persönlichen Erfahrungen aus seiner Praxis unterlegt. Dies unterstützt die These, dass der Umgang mit Krankheit und Gesundheit in einer Klassengesellschaft auch von den Gesetzen und Regeln einer Klassengesellschaft geprägt wird. Und diese Regeln folgen im Kapitalismus den Bedingungen der Akkumulation von Kapital.
Das betrifft freilich die Gesellschaft insgesamt und wird aktuell an der Polarisierung der Gesellschaft sowie der Prekarisierung der Arbeitswelt sichtbar. Aber deutlich wird das heute auch bei uns in der Krankenversorgung an den exorbitanten Profiten der Pharma- und Geräteindustrie, bei Operationen von Hüft- und Kniegelenken (bei denen im Hintergrund möglicherweise Boni eine Rolle spielen!) oder bei der Anwendung von IgeLeistungen – alles immer wiederkehrende Kritikpunkte der demokratischen Medizin. Diese Kritik ging von dem Grundsatz aus, dass Gesundheit ein Menschenrecht ist und nicht der Kommerzialisierung preisgegeben werden darf.
5. Gesundheit: Menschenrecht statt Kommerzialisierung
Das, was wir heute in der Krankenversorgung erleben, ist eine nicht mehr zu kontrollierende Kommerzialisierung der Medizin.(9) Der Neoliberalismus ist inzwischen auch hier voll angekommen und hat der Profitmaximierung einen neuen lukrativen Markt erschlossen. Ärztliches Handeln wird immer mehr zur Ware bzw. zu einer kommerziellen Dienstleistung. Nicht mehr der medizinische Bedarf sondern der ökonomische Profit der Leistungsanbieter bestimmt weitgehend die Regeln der Krankenversorgung, ob im Krankenhaus durch die DRG und Privatisierungen oder die IgeLeistungen in der Praxis.
Die Verbetriebswirtschaftlichung des Umgangs mit kranken Menschen zerstört den hippokratischen Eid vollends. Dem widersetzt sich die demokratische Medizin seit ihren Anfängen. Als Ziel vertritt sie nämlich das Grundrecht eines jeden Menschen auf »Wohlbefinden« und einen »bestmöglichen Gesundheitszustand« und zwar in Anlehnung an die Weltgesundheitsorganisation. Sie kämpft deshalb auch mit der IPPNW gegen die Gefahren eines Atomkriegs und unterstützt soziale Bewegungen zur Durchsetzung der Menschenrechte.
6. Internationales
Das Menschenrecht Gesundheit lässt sich natürlich nicht auf ein Land oder eine Region beschränken – es sei denn chauvinistisches Denken bestimmt die Richtung. Menschenrechte haben internationale Geltung. Sie gelten für Bangladesch ebenso wie für die USA. Wir wissen jedoch, dass das Menschenrecht auf Gesundheit – wie andere Menschenrechte auch – in vielen Regionen unseres Globus mit Füßen getreten werden – ob das bei den sozialen Ursachen von Krankheiten oder bei der desaströsen medizinischen Versorgung geschieht.
Immer wieder überziehen alte und neue Epidemien die armen Länder, obwohl sie unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten heute eingedämmt oder ausgerottet werden könnten. Die meisten der dort lebenden Menschen haben keinen Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem. Die Medikamente sind häufig überteuert und nicht bezahlbar. Die Pharmaindustrie verteidigt ihre Patente vehement gegen Menschenrechte und nimmt den Tod von vielen Menschen in Kauf!
Und die reichen Länder profitieren von medizinischen Fachkräften aus den armen Ländern, indem sie sie als »Lückenbüßer« importieren. Das sind alles Themen, die keineswegs neu aber immer noch wichtig sind. Sie gehören zum Kern von Demokratischer Medizin und werden von medico international schon lange bearbeitet. Der vdää fühlt sich deshalb medico, das übrigens auch aus der Studentenbewegung hervorgegangen ist, eng verbunden.
7. Kernpunkte einer Demokratischen Medizin(10)
Als Kernpunkte einer Demokratischen Medizin werden weltweit immer wieder genannt und sollten in der Zukunft nicht vernachlässigt werden:
• Die Gesundheitsförderung wird ausgebaut, ohne die Krankenversorgung zu vernachlässigen.
• Die Krankenversorgung ist alleine am medizinischen Bedarf auszurichten und nicht an kommerziellen Interessen.
• Die gesamte Bevölkerung hat freien Zugang zur medizinischen Versorgung.
• Die medizinischen Leistungen sind für alle gleich, unabhängig von den individuellen finanziellen Möglichkeiten.
• Die Finanzierung erfolgt solidarisch und sozial gerecht in Form von Steuern oder Beiträgen.
• Patientinnen und Patienten sind als soziale Subjekte in der Krankenversorgung anzuerkennen.
Solche Kernpunkte haben universellen Charakter(11). Sie richten sich gegen die Unterwerfung der Krankenversorgung unter die Gesetze des globalen Marktes und stehen für eine Absicherung des sozialen Risikos Krankheit durch die solidarische Bereitstellung öffentlicher Güter. Sie demonstrieren, dass das Prinzip der Solidarität als Alternative zur Kommerzialisierung der Krankenversorgung möglich ist. Und deshalb lohnt es sich auch, dafür zu kämpfen.
Mit einem Zitat aus meinem Eröffnungsvortrag auf dem Gründungskongress des vdää am 8. November 1986 möchte ich schließen. Hier heißt es: »Die Gesundheitsbewegung wendet sich gegen soziale Ungleichheit und kommerzielle Interessen im Gesundheitswesen. Sie geht davon aus, dass Kranke in der Stunde der Not ein Recht auf gleiche Versorgung haben und dass das Geschäft mit der Krankheit einzustellen ist: Die Privatisierung wird deshalb grundsätzlich abgelehnt.«(12)
Das ist – wie ich meine – auch heute noch, 30 Jahre danach nicht zu korrigieren!
Hans Ulrich Deppe
Anmerkungen
1 Hagen Kühn: »Kritische Medizin«, in: Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften 49, Hamburg 2014, S. 141-156
2 Zur Disziplinierung von Hans Mausbach siehe: Hans-Ulrich Deppe: »Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar«, Frankfurt 1987, S. 180f.
3 Der Kongress ist dokumentiert in: Hans-Ulrich Deppe u.a. (Hrsg.): »Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt«, Köln1973
4 Hans See: »Die Gesellschaft und ihre Kranken oder Brauchen wir das klassenlose Krankenhaus«, Hamburg 1973, S. 224-246
5 Winfried Beck: »Nicht standesgemäß«, Frankfurt a.M. 2003; vdää: »Gute Medizin braucht Politik. Programmatische Grundlagen des vdää«, Maintal 2012, S. 10
6 Alexander Mitscherlich / Fred Mielke: »Medizin ohne Menschlichkeit, Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses«, Frankfurt 1960
7 Rudolf Virchow: »Die Not im Spessart. Mitteilungen über die in Oberschlesien herrschende Typhus-Epidemie«, Darmstadt 1968
8 Bernd Kalvelage: »Klassenmedizin. Plädoyer für eine soziale Reformation der Heilkunst«, Berlin 2014
9 Hans-Ulrich Deppe: »Zur Kommerzialisierung der Krankenversorgung – Solidarische Alternativen sind möglich!«, Diskussionspapiere des Instituts für Medizinische Soziologie2011-1, April 2011; www.uni-frankfurt.de/60470505/Deppe
10 Ebenda, S. 76; vgl. auch vdää: »Gute Medizin braucht Politik. Programmatische Grundlagen des vdää«, Maintal 2012
11 Hans-Ulrich Deppe: »A situacao atual e as perspectiva dos sistemas universais des saúde«, Saude em Debate (Rio de Janeiro), 29, 2005, S. 365-370
12 Hans-Ulrich Deppe: »Gesundheitspolitik, Ärztepolitik und Gesundheitsbewegung«, Eröffnungsreferat auf dem Gründungskongress des vdää, in: Demokratisches Gesundheitswesen, Heft 12, 1986 und Heft 1, 1987 (besonders S. 20); ders.: »Soziale Verantwortung und Transformation von Gesundheitssystemen, Frankfurt 1996, S. 49
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Kämpfe im Gesundheitswesen, 4/2016)