Morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA)
erklärt von Gerd Glaeske
Die Einführung des Gesundheitsfonds zum 1. Januar 2009 war in Verbindung mit dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) eine der am meisten einschneidenden Veränderungen in der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Konnten Kassen ihre Beiträge bis dahin autonom festsetzen, galt nun ein politisch im Bundestag beschlossener Beitragssatz in Höhe von 15,5 Prozent. Gleichzeitig wurde beschlossen, dass Kassen ab diesem Zeitpunkt Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten sollten – je nach Alter, Geschlecht und ausgewählten Krankheitsbelastungen ihrer Versicherten. Diese wurden vom Bundesversicherungsamt (BVA) ermittelt und veranlasst.
Vorläufiger RSA seit Mitte der 1990er Jahre
Der Wettbewerb in der GKV, die für alle Versicherten und damit für rund 85 Prozent der deutschen Bevölkerung den gleichen Leistungskatalog anbietet, setzt einen solchen sogenannten Risikostrukturausgleich (RSA) voraus. Dieser wurde bereits 1994 in die GKV eingeführt. Er sollte dazu dienen, die unterschiedlichen Versichertenrisiken zwischen den einzelnen Kassen, die historisch durch altersbezogene, geschlechtsspezifische, regionale und sozialstrukturelle Unterschiede entstanden waren, auszugleichen: Kassen mit einer besonders ungünstigen Risikostruktur – etwa mit einer hohen Zahl beitragsfrei gestellter Familienversicherter oder bei besonders niedrigen beitragspflichtigen Einnahmen der Vesicherten – sollten finanziell nicht benachteiligt werden.
Seit der Einführung des RSA gab es folglich »Zahlerkassen« und »Empfängerkassen«, also Kassen mit einer geringeren und einer höheren Morbiditäts- und damit Versorgungsbelastung. Die Morbidität der Versicherten wurde anhand der Kriterien Alter und Geschlecht sowie Bezug einer Erwerbsminderungsrente erfasst, weil auch dies als zusätzlicher Risikofaktor erkannt wurde.
Finanzielle Zuschläge nach Alter und Geschlecht
Im früheren RSA wurden also zuvor ermittelte Summen »umverteilt«: Für eine 62-jährige Frau waren es 2004 nach dem früheren Modell zum Beispiel 1 757 Euro pro Jahr. Nahmen die Versicherten an einem Disease Management Programm (DMP) teil, bekamen die Kassen einen höheren Betrag. Für eine 62-jährige insulinpflichtige Diabetikerin beispielsweise erhöhte sich der Beitrag bei Teilnahme an einem DMP auf 2 599 Euro pro Jahr. Litt ein Patient allerdings an einer kostenintensiven Krankheit wie Multiple Sklerose (MS), die nicht im Rahmen eines strukturierten Programms behandelt werden konnte, gab es keine zusätzlichen finanziellen Ausgleiche (siehe Tabelle). Der ursprüngliche RSA berücksichtigte die »Morbiditätslast« einer Krankenkasse nur unzureichend.
Weiterentwicklung zum Morbi-RSA
Mit dem RSA-Reformgesetz von 2001 hat der Gesetzgeber diesem Umstand Rechnung getragen und festgelegt, dass der RSA ab dem Jahr 2007 »auf der Grundlage von Diagnosen, Diagnosegruppen, Indikatoren, Indikatorengruppen, medizinischen Leistungen oder Kombinationen dieser Merkmale« die Morbidität unmittelbar berücksichtigen solle. Im Rahmen der Gesundheitsreform 2006, die eine stärkere wettbewerbliche Orientierung der GKV forderte, kam es allerdings zu einer Verschiebung der Einführung des Morbi-RSA auf Januar 2009.
Im System des Morbi-RSA sollten die bisherigen Ausgleichszahlungen erweitert werden. Für alle in den Morbi-RSA aufgenommenen Krankheiten, die nach bestimmten Kriterien ausgewählt, jährlich überprüft und eventuell ausgetauscht werden, gibt es zusätzliche Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds an die Kassen. Diese orientieren sich an den durchschnittlichen krankheitsbedingten Leistungsausgaben.
Gutachten des wissenschaftlichen Beirates
Um dieses Konzept zu entwickeln und das BVA, das den Gesundheitsfonds verwaltet und Zuweisungen an die Kassen veranlasst, bei dieser Aufgabe zu unterstützen, wurde im Mai 2007 ein wissenschaftlicher Beirat berufen. Mitglieder waren die Professoren Reinhard Busse (Berlin), Saskia Drösler (Krefeld), Wolfgang Greiner (Bielefeld) und Matthias Schrappe (Frankfurt am Main) sowie Gerd Glaeske (Bremen) als Vorsitzender und Thomas Schäfer (Gelsenkirchen) als stellvertretender Vorsitzender.
Die Beiratstätigkeit beruhte auf einem empirischen und datengestützten Vorgehen. Als Datengrundlage stand eine Versichertenstichprobe aus der Gesamt-GKV zur Verfügung: Diagnose-, Arzneimittel- und sonstige ambulante und stationäre Daten aus den Jahren 2005 und 2006 für etwa 4,2 Millionen auswertbare Versichertenpseudonyme. Diese Daten enthielten alle Leistungsausgaben mit Ausnahme der zahnärztlichen Abrechnungen und des Krankengeldes.
Im Dezember 2007 legte der Beirat ein Gutachten vor, in dem unter anderem die Vorgaben für die Krankheitsauswahl definiert sind (Busse et al. 2007):
- Anreize für medizinisch nicht gerechtfertigte Leistungsausweitungen und Anreize zur Risikoselektion sollen vermieden werden
- die Krankheiten sollen eng abgrenzbar, schwerwiegend und chronisch sein,
- die für die ausgewählten Krankheiten anfallenden durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versichertem müssen die durchschnittlichen Leistungsausgaben aller Versicherten um mindestens 50 Prozent übersteigen
- und die festzulegenden 50 bis 80 Krankheiten sollen eine besondere Bedeutung für das Versorgungsgeschehen und wesentlichen Einfluss auf das Kostengeschehen der Krankenkasse haben.
Ermittlung der Zuweisungen
Das System des Morbi-RSA funktioniert nach folgendem Schema: Es wird eine Grundpauschale errechnet, die sich aus dem Durchschnitt aller Ausgaben für die GKV-Versicherten ergibt. Da auf jüngere gesunde Versicherte weniger Kosten entfallen als auf ältere Versicherte, entstehen hier Abschläge. Zu diesen dann ermittelten Werten werden die Ausgaben für die ausgewählten Krankheiten hinzugerechnet. Bei mehreren Krankheiten können auch mehrere Zuschläge kombiniert werden. Den Endbetrag bekommt die Kasse dann als Zuweisung.
Wenn die Kasse bei den Ausgaben für die Versorgung unter diesem Durchschnittsbetrag liegt, verbleibt letztlich ein Überschuss. Wenn sie die Durchschnittskosten übersteigt, muss sie diesen Betrag aus den Zuweisungen nach Alter und Geschlecht finanzieren – und wenn dies nicht ausreicht, Zusatzbeiträge von ihren Versicherten verlangen. Das Beispiel in der Tabelle verdeutlicht die Funktion und das System des Morbi-RSA gegenüber dem früheren RSA, hier wird die Krankheit MS nun ausgeglichen (IGES 2005). Der Beirat kam in seinem Gutachten zu dem Schluss, 80 Krankheiten zu benennen, die im Morbi-RSA berücksichtigt werden sollen. Diese Anzahl wurde bis heute beibehalten.
Beteiligung des Gesundheitsfonds
Gekoppelt wurde dieses Modell mit dem neu eingeführten Gesundheitsfonds. Im GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz heißt es dazu: »Mit der Einrichtung eines neuen Gesundheitsfonds werden die Anreize für die wirtschaftliche Verwendung der Einnahmen und mehr innovative Angebote der Kassen erhöht. Zusammen mit der Vereinfachung und Verbesserung der Zielgenauigkeit des Risikostrukturausgleichs wird die Grundlage für einen intensivierten und chancengleichen Wettbewerb zugunsten einer hochwertigen und kostengünstigen gesundheitlichen Versorgung gelegt. Ein entscheidender Wechsel hin zu mehr Transparenz und Vergleichbarkeit in der deutschen Kassenlandschaft zum Nutzen der Versicherten und Patienten wird eingeleitet.«
Die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds sollen eine Grundpauschale enthalten, die alters-, geschlechts- und risikobezogene Zu- und Abschläge sowie Zuweisungen für sonstige Ausgaben vorsieht (Schawo/Schneider 2007).
Abdeckung der Folgekosten
Ein Aspekt muss abschließend noch betont werden: Um mit dem Morbi-RSA keine Anreize für medizinisch nicht gerechtfertigte Leistungsausweitungen oder für eine Risikoselektion zu fördern, hat der Gesetzgeber eine sogenannte prospektive Ausgestaltung des Modells verfügt. Dies bedeutet, dass die Zuschläge nicht die laufenden Behandlungskosten, sondern die Folgekosten abdecken sollen, die im Jahr nach der Diagnosestellung anfallen. So werden die Kosten für einen Versicherten mit einem Herzinfarkt nicht im »Ereignisjahr« ausgeglichen, sondern erst im Jahr danach. Akute Krankheiten wie eine Blinddarmentzündung sind zumeist nicht mit Folgekosten belastet, sodass hier keine Zuweisung erfolgt.
Der Morbi-RSA hat für alle Kassen eine hohe finanzielle Bedeutung, schließlich wird rund die Hälfte aller Leistungsausgaben – 2015 waren es rund 200 Milliarden Euro – in diesem Rahmen aus dem Gesundheitsfonds an die jeweiligen Kassen zugewiesen. Es ist daher ohne Frage von großer Bedeutung, welche Krankheiten im Morbi-RSA berücksichtigt und wie diese bezüglich ihrer Kosten ausgeglichen werden. Es kann daher auch nicht erstaunen, dass die Diskussionen um den Morbi-RSA und seine Auswirkungen immer wieder aktuell sind.
Eine gute Zusammenfassung zum Morbi-RSA und die aktuelle Auflistung der 80 zu berücksichtigenden Krankheiten findet sich unter: www.bundesversicherungsamt.de/risikostrukturausgleich/haeufig-gestellte-fragen.html Lesenswert sind auch die Ausarbeitung des BKK-Dachverbands zu diesem Thema,www.bkk-dachverband.de/fileadmin/user_upload/bkk_SA01_2015_web_2.pdf, sowie die Diskussionen auf http://rsa-allianz.de/
Prof. Gerd Glaeske ist Pharmakologe an der Universität Bremen, war von 2003 bis 2010 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Der Artikel ist zuerst erschienen in Dr. med. Mabuse, Zeitschrift für alle Gesundheitsberufe, Nr. 222, Juli/August 2016
Literatur:
Busse, R./Drösler, S./Glaeske, G./Greiner, W./Schäfer, T./Schrappe, M. (2007): Wissenschaftliches Gutachten für die Auswahl von 50 bis 80 Krankheiten zur Berücksichtigung im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich. Bonn. www.bva.de/Risikostrukturausgleich/Weiterentwicklung
IGES/Lauterbach, K. W./Wasem, J. (2005): Klassifizierungsmodelle für Versicherte im Risikostrukturausgleich. Endbericht. In: BMG-Forschungsbericht 334.
Schawo, D./Schneider, W. (2007): Feilen am Modell. Neuer Risikostrukturausgleich. In: Gesundheit und Gesellschaft. 10,9: 35–40.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Von der Solidarität zur Betriebswirtschaft, 3/2016)