GbP 2-2016 - Claudia Krieg

Utopie der Gesundheitsversorgung

Bericht von der Auftaktveranstaltung des GesundheitsKollektivs Berlin – von Claudia Krieg

Was haben Recht auf Stadt und Recht auf Gesundheit miteinander zu tun? In einem Kiez-Gesundheits- Zentrum wollen Berliner KollektivistInnen die Gesundheitsversorgung politisieren. Claudia Krieg berichtet von der Auftaktveranstaltung am 26. April in Berlin.

Etwa 170 Menschen waren der Einladung der Gruppe in das Jugendzentrum »Manege« in Berlin-Neukölln gefolgt und verfolgten interessiert die fast dreistündige, engagierte Diskussion. Als Einstieg in ihre Öffentlichkeitsarbeit für das Projekt hatten die KollektivistInnen das Motto »Recht auf Stadt, Recht auf Gesundheit« gewählt und damit direkt auf den gesellschaftspolitischen Zusammenhang verwiesen, in dem sie die Idee des Zentrums ansiedeln: Bei Gesundheit handelt es sich um mehr als medizinische Versorgung – entscheidend sind die gesellschaftlichen Bedingungen, in denen wir leben, politische und soziale Faktoren wie Mietsteigerungen, geringes Einkommen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rassismus und Alltagsarmut. Für das Kollektiv ist die Gründung eines Kiez-Gesundheits-Zentrums insofern ein konkreter Schritt, um gemeinsam mit den Menschen im Stadtteil für ein gutes Leben einzutreten und so die Voraussetzungen für Gesundheit für Alle zu schaffen. Nun sollten die Chancen für ein solches Zentrum ausgelotet werden. Der Diskussion mit dem Publikum waren mehrere Kurzvorträge vorangestellt, die verschiedene Aspekte des Zusammenhangs zwischen Stadtentwicklung und Gesundheit beleuchteten.

Da es derzeit sehr wahrscheinlich ist, dass das Kiez-Gesundheits-Zentrum auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei in Berlin Nord Neukölln zusammen mit anderen Sozialprojekten in einem Neubau angesiedelt sein wird, war einleitend der Stadtsoziologe Henrik Lebuhn gebeten, eine kurze Analyse zur Entwicklung des Stadtteils im Hinblick auf soziale Faktoren von Gesundheit zu geben.

Mieten essen Leben auf – schlechte Wohnbedingungen machen krank

Zur Situation im nördlichen Neukölln lässt sich aktuell besonders im Hinblick auf Gentrifizierung folgendes sagen: Hier leben überdurchschnittlich viele arme Menschen in einem Gebiet mit überdurchschnittlich hohen Ertragserwartungen der Immobilienwirtschaft und einer verschwindend geringen Anzahl bezahlbarer Wohnungsangebote – der Verdrängungsdruck ist enorm. Die sogenannte Wohnversorgungsquote sinkt: 167 000 Haushalte in Neukölln haben nur 162 000 Wohnungen zur Verfügung. Ein Zeichen für Überbelegung: Viele Menschen versuchen trotz steigender Mieten und wachsender Personenzahl im Haushalt ihre Wohnung zu halten, Henrik Lebuhn nennt es »immobilienwirtschaftlich ausgelöste Immobilität«. Die steigenden Wohnkosten werden dann durch mehr Arbeit, Einsparungen in anderen Lebensbereichen oder Untervermietungen kompensiert.

Schließlich: Steigende Mieten nehmen in einkommensschwachen Haushalten einen überproportional hohen Teil der Ressourcen in Anspruch und führen zu einer weiteren Absenkung des sozio-ökonomischen Status; in Berlin Kreuzberg und Neukölln gibt es mittlerweile viele einkommensschwache Haushalte, die bis zu 50 Prozent ihres eh schon knappen Monatseinkommens für die Miete aufwenden müssen.

Gesundheitsversorgung anders und vor allem auch politisch zu denken und zu leisten, und dies auf Stadtteilebene herunter zu brechen, ist möglich, so Henrik Lebuhn in ihrem Fazit. Dafür muss jedoch die Gesundheitsversorgung selbst politisiert werden, wie es beispielsweise in den Solidarischen Kliniken in Griechenland geschehen ist. Weiterhin müssen die beiden Felder zusammengeführt werden, die meist getrennt diskutiert werden – Mietenpolitik und Gesundheit. Dies sollte gemeinsam mit anderen lokalen Gruppen geschehen. Viel zu häufig, dies auch als Kritikpunkt am Programm Soziale Stadt, werden lokale Initiativen nicht als Kooperationspartner ernst genommen. Genau in diese Falle könnte auch das Gesundheitskollektiv mit dem Gewicht einer ›kleinen Institution‹ und der vorhandenen ›ärztlichen Autorität‹ tappen.

Gesundheit: Politisches Kampffeld statt Wellness-Kur

Wie also kann das Kiez-Gesundheits-Zentrum im stadtpolitischen Kontext ein Ort von Intervention werden? Wie lässt sich in dem Zusammenhang der Begriff Gesundheit politisch einordnen? Um diesen Aspekt zu vertiefen, stellt Nadja Rakowitz, Geschäftsführerin vom Verein der Demokratischen Ärztinnen und Ärzte noch einmal erfrischend und zeitlos wertkritisch voran, Gesundheit hat zum Ziel, die Ware Arbeitskraft zu erhalten, Zweck des Gesundheitssystems ist zunächst das Gesundhalten der LohnarbeiterInnen für die Kapitalvermehrung

Das System Gesundheit ist krank

Um zu verdeutlichen, wie das Gesundheitssystem zu diesem Spielfeld kapitalistischer Interessen geworden ist, charakterisiert Nadja Rakowitz dessen momentane Beschaffenheit anhand von drei Gesichtspunkten, beginnend mit einem positiven Aspekt: Noch gelte die Logik der Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung – für alle die gesetzlich versichert sind. Man zahlt nach dem Einkommen und bekommt im Prinzip, was man braucht – mit Einschränkungen.
Ein Problem sei die Kopplung von medizinischen Entscheidungen an die Einkommenssituation des Arztes: Mache ich etwas, bekomme ich mehr Geld, mache ich nichts, bekomme ich nichts oder verliere etwas. Anstatt die Kopplung von Leistung und Geld aufzulösen, um Einkommen und medizinische Entscheidung so weit wie möglich auseinanderzuhalten, geht die Entwicklung in die gegensätzliche Richtung. ÄrztInnen hätten heute kein Interesse an Verhältnisprävention, denn nicht der Rat zur Vorsorge zahlt sich für sie aus, sondern die Behandlung.

Da all dies aber auch spürbar den Druck verstärkt, arbeiten mittlerweile 40 Prozent der niedergelassenen ÄrztInnen in kooperativen Strukturen. Medizinische Versorgungszentren (MVZ) bieten die Möglichkeit, sich anstellen zu lassen – von 150 000 niedergelassenen Ärztinnen arbeiten ca. 30 000 an­gestellt. Vor allem viele junge ÄrztInnen, so Rakowitz, wollen den ärztlichen UnternehmerInnenstatus nicht mehr – ein Grund zur Hoffnung?! Im Anschluss an die politische Begriffsbestimmung lässt Kirsten Schubert vom Gesundheitskollektiv kurz die ausschlaggebenden Momente der Kollektivbildung Revue passieren.

Das Rad nicht neu erfinden – oder doch?

Im Gesundheitskollektiv Berlin sind über 20 Menschen mit beruflichen Hintergründen in Sozialarbeit, Pflege, Medizin, Gesundheitswissenschaften, Pädagogik, Psychotherapie und Recht aktiv. Sie sind Teil eines städteübergreifenden Netzwerks, das seine Anfänge vor einigen Jahren im Hamburger Medibüro hatte. Diskussionen über den systematischen Ausschluss von Menschen ohne Papiere und MigrantInnen ohne Krankenversicherung aus der regulären Gesundheitsversorgung gaben den Anstoß dazu, Gesundheitssysteme anders zu denken und konkrete Ideen für alternative Modellprojekte zu entwickeln, möglichst breit und netzwerkartig organisiert. Vor diesem Hintergrund ist vor etwa zwei Jahren die Gruppe in Berlin entstanden. In Hamburg wird aktuell im Stadtteil Veddel ein ähnliches Projekt aufgebaut. Das Rad einer alternativen Gesundheitsversorgung, so Schubert, wolle und müsse für beide Projekte nicht neu erfunden werden – vielmehr sollen bestehende Konzepte unmittelbar einbezogen werden. Die Community Health Centers (CHC) in Kanada betrachtet Schubert derzeit als besonders beeindruckende Umsetzung der Utopie einer alternativen Gesundheitsversorgung. Hier sei der Anspruch an soziale Gerechtigkeit, Anti-Ras­sismus und Stadtteilorientierung besonders explizit. Besonders zahlenmäßig sei die Umsetzung beeindruckend, bereits über 800 solcher CHC gibt es in Kanada. Allen der genannten Zentren gemeinsam – und somit die Referenz des geplanten Kiez-Gesundheits-Zentrum – ist die Orientierung am Bedarf und der Teilhabe der PatientInnen, KlientInnen und AnwohnerInnen und das Konzept der Verhältnisprävention: Die gesellschaftlichen Verhältnisse müssen so gestaltet werden, dass sie Krankheit verhindern und psychisches, soziales und physisches Wohlergehen – also Gesundheit – ermöglichen. Schubert übergibt dann an ihren Mitkollektivisten Felix Hartung, der das konkrete Konzept für ein Kiez-Gesundheits-Zentrum in Berlin vorstellt.

Das Konzept des Kiez-Gesundheits-Zentrum stützt sich im wesentlichen auf vier Säulen:

Die erste Säule, Primärmedizinische Versorgung und Pflege, soll in einem dezentralen Ansatz gehandhabt werden: mit häufigen Hausbesuchen, einer intensiven Zusammenarbeit mit ambulanten Pflegediensten, pflegenden Angehörigen und anderen Versorgungsstrukturen im Stadtteil.
Ziel sei eine nachhaltige Begleitung der PatientInnen, im besten Fall mit einer multiprofessionellen Fallberatung. Generell soll gelten: Pflegekräfte und ÄrztInnen, aber auch PädagogenInnen, PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, TherapeutInnen und andere Berufsgruppen aber auch die PatientInnen selbst arbeiten Hand in Hand. So kann beispielsweise eine Rechtsberatung und ein/e SozialarbeiterIn hinzugezogen werden, wenn es z.B. um Fälle wie Mieterhöhung oder Schimmelbefall gehen sollte.

Hier findet sich der Bezug zur zweiten Säule, Beratung und Selbsthilfe. Ein umfangreiches Beratungsangebot soll im Kiez-Gesundheits-Zentrum Unterstützung in sozialen, rechtlichen und psychologischen Fragen bieten. Die BesucherInnen sollen befähigt werden, sich für ihre Interessen einzusetzen und dadurch Selbstwirksamkeit als gesundheitsfördernden Moment zu erfahren.

Die dritte Säule betrifft die politische Gemeinwesenarbeit. Gemeinsam mit den AnwohnerInnen sollen Gesundheitsrisiken im Stadtteil reduziert und gesundheitsförderliche Verhältnisse geschaffen werden, und solidarische Strukturen als Gegengewicht zu krankmachenden Faktoren entstehen. So könne das Kiez-Gesundheits-Zentrum zu einem Ort im Stadtteil werden, an dem Menschen sich austauschen, vernetzen oder sich schlichtweg einfach aufhalten sowie andere Angebote nutzen können.

Mit der letzten Säule, Partizipative Forschung und Evaluation, soll versucht werden, eigene Forschungsprojekte auf lokaler Ebene – partizipativ mit den AnwohnerInnen und Akteuren – im Kiez zu entwickeln.

Wichtig sei dem Kollektiv, die zentrale Rolle von ÄrztInnen beim Blick auf Gesundheit und Krankheit aufzubrechen und die im Gesundheitssystem vorherrschenden starken Hierarchien zwischen den einzelnen Berufsgruppen zu verändern, z.B. auch, indem ein Bedarfslohn für alle Angestellten eingerichtet wird.
Die abschließende Diskussion mit dem Publikum spannt noch einmal der Bogen zwischen vielen positiven Kommentaren und andererseits sehr kritischen Bemerkungen, die sich vor allem auf die nicht ausreichend reflektierte Möglichkeit der Beteiligung am Gentrifizierungsprozess beziehen. Möglicherweise kann die von dem Kollektiv geplante Sozialstrukturanalyse hier in einiger Zeit Aufschluss geben. Andere Anmerkungen betrafen den Ansatz der egalitären Rollenverteilung zwischen den beteiligten Berufsgruppen. Wie genau die Position der beteiligten ÄrztInnen aufgebrochen werden soll, bleibe unklar – eine Ärztin kann in einem Café arbeiten, aber kann auch eine Tresenkraft eine medizinische Fallbesprechung durchführen? Die Diskussion inwieweit sich linke Projekte in potentielle Karrieresprungbretter verwandeln können, muss weiter geführt werden – auch im Gesundheitskollektiv Berlin.

Aktuell

Zur Zeit wird das Konzept mit finanzieller Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung weiterentwickelt. Als konkreter Ort für das Zentrum ist ein Neubau auf dem Gelände der ehemaligen Kindl-Brauerei im Norden des Berliner Stadtteils Neukölln im Gespräch. Das Gelände wurde von der Edith-Maryon-Stiftung mit dem Ziel erworben, es langfristig für soziale, kreative und ökologische Nutzungen zu sichern. Beim Kiezfest auf dem Brauerei-Gelände und auf dem Kiezfest der Rollbergsiedlung waren Mitglieder des Gesundheitskollektivs mit Stand und Informationen vertreten, die Zukunft eines Kiez-Gesundheits-Zentrums hat also – hoffentlich – schon begonnen.

Siehe auch: http://vollgut.berlin/
Informationen und Kontakt zum Gesundheitskollektiv:
www.geko-berlin.de
Kanadas Community Health Centers: http://www.cachc.ca/
Sozial-medizinisches Zentrum Graz: http://smz.at/

Claudia Krieg lebt und arbeitet in Berlin.

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Lobbyismus im Gesundheitswesen, 2/2016)

 


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