Abschaffen, boykottieren, mitarbeiten?
Wulf Dietrich über Ärztekammern und KVen
Wulf Dietrich beschreibt die Funktion und die Politik der Ärztekammern und der Kassenärztlichen Vereinigung früher und heute. Ihr Wandel hat auch einen – zu diskutierenden – Wandel im Verhältnis des vdää zu ihnen bewirkt.
Der vdää hatte schon immer eine kritische Haltung zu den Zwangsorganisationen der Ärzteschaft. Dennoch traten in der Gründungsphase unseres Vereins in den achtziger Jahren etliche Kolleginnen und Kollegen, meist aktiv in der Friedensbewegung, als »Demokratische Listen« zu den Kammerwahlen an; häufig aber unter dem ambivalenten Slogan: »Weil wir nicht heraus können, müssen wir hineingehen«.
Es war die nationalsozialistische Vergangenheit, die Kritik provozierte: Die Reichsärztekammer war 1935 von den Nationalsozialisten ins Leben gerufen. Da die Alliierten eine Folgeorganisation der nationalsozialistischen Reichsärztekammer nicht zulassen wollten, durfte die Bundesärztekammer nach Kriegsende nicht deren Erbe der antreten. Sie wurde als Arbeitsgemeinschaft der Landesärztekammern als rechtsfähiger Verein organisiert und ist – im Gegensatz zu den Landesärztekammern – keine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Wichtige Beschlussfassungen wie die Weiterbildungs- oder die Berufsordnung werden deshalb von den Landesärztekammern beschlossen, während die Bundesärztekammer nur Musterordnungen beschließt.
Die Kritik an der nationalsozialistischen Vergangenheit bezog sich auf die personelle Besetzung: Viele alte NS-Funktionäre waren am Wiederaufbau der Ärztekammern beteiligt. Lange Zeit residierte die Bundesärztekammer in der Haedenkamp Straße, benannt nach Karl Haedenkamp, der als Führer der deutschen Ärzteschaft 1933 den Übergang in die nationalsozialistische Ärzteorganisation organisiert und zu verantworten hatte. Schon zur Weimarer Zeit war Haedenkamp als Reichstagsabgeordneter durch antisemitische Ausfälle aufgefallen. Die Machtübernahme der Nazis begrüßte er enthusiastisch: »Eine neue Welt bricht aus dem Schoß der Zeiten. Heute kommt es auf den einzelnen nicht mehr an. Der Ärztestand ist einig und geschlossen. Wir lassen den Führer nicht im Stich!« Bis 1939 war er in der Führung der Reichsärztekammer tätig. Nach Kriegsende bis 1955 war er dann im Präsidium des Deutschen Ärztetags tätig und wurde 1954 mit der Paracelsus-Medaille ausgezeichnet. Ebenfalls nicht unvergessen sind alte Nationalsozialisten wie Hans Joachim Sewering, langjähriger Präsident der Bayerischen Landesärztekammer und Vorstandsvorsitzender der Bayerischen Kassenärztlichen Vereinigung sowie Präsident der Bundesärztekammer.
Bis in die achtziger Jahre hatte sich die Bundesärztekammer nicht von dieser Tradition distanziert. Kein Wunder, dass die jungen ÄrztInnen dieser Organisation skeptisch gegenüber stand. Erst mit der auf dem 115. Deutschen Ärztetag 2012 einstimmig verabschiedeten Nürnberger Erklärung erkannte die Ärzteschaft die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin an und bekundete tiefstes Bedauern daran, dass Ärztinnen und Ärzte sich zur damaligen Zeit an Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben.
Weil wir nicht rauskönnen, müssen wir hineingehen?
Über dieser Kritik an der nationalsozialistischen Vergangenheit der Kammern wurde von uns aber die Diskussion über eine sinnvolle Organisationsform in der Ärzteschaft vernachlässigt. Ob die Landesärztekammern als Körperschaften des öffentlichen Rechtes organisiert sein müssen, ist sicher fraglich. Viele andere Länder kommen ohne diese Organisationsform aus. Doch gibt es auch Aufgaben die, zumindest theoretisch, sehr gut von ärztlichen Organisationen wie den Ärztekammern angegangen und gelöst werden können. Selbstverständlich hat die Ärzteschaft legitime Interessen, die es durchzusetzen gilt. »Aber wir brauchen eine Berufspolitik, die Ärztinnen und Ärzte als kompetente Mitstreiter für ein Gesundheitswesen begreift, dass optimale Bedingungen für die Gesundheit aller unter gleichen Bedingungen für alle schafft« – so hieß es 1986 im Programm des vdää.
Auch wenn wir mit der politischen Ausrichtung der Kammern in vielen Punkten nicht übereinstimmen, so akzeptieren wir doch, dass Aufgaben wie Berufsordnung, Weiterbildungsordnung, Fortbildung, Qualitätssicherung, Ethikkommissionen oder auch die öffentliche Gesundheitspflege, also Stellungnahmen zu sozialen und politischen Themen, zu den Aufgabenbereichen der Kammern gehören. Im Bereich Menschenrechts-, Flüchtlings- und Umweltpolitik wurden in den vergangenen Jahren, häufig auf Initiative von uns politisch nahestehenden Delegierten, auch sehr fortschrittliche Anträge von den Kammerversammlungen verabschiedet. Bei dieser Einschätzung ist auch zu bedenken, dass die Landesgesundheitsministerien und das Bundesgesundheitsministerium politische Ministerien sind, die nicht unbedingt medizinisch kompetent besetzt sind und daher wenig medizinisches Fachwissen mitbringen.
Mit frischem Wind den Muff aufwirbeln
Im Prinzip sind die Kammern also sinnvolle Einrichtungen, die aber politische oder gewerkschaftliche Organisationen der Ärzteschaft nicht ersetzen können. Viele Mitglieder interessieren sich heute kaum für die Ärztekammern, sie ärgern sich allenfalls über bürokratische Bearbeitung ihrer Facharzt-Weiterbildungszeugnisse, aber sie beteiligen sich nicht aktiv oder zumindest passiv an den Kammerwahlen.
Die Wahlbeteiligung liegt bei Kammerwahlen heute meistens zwischen 30 und 40 Prozent. Mindestens 60 Prozent der ÄrztInnen also interessieren sich nicht für die Arbeit ihrer Standesorganisation. Zugegeben, es ist nicht immer einfach, sich in dieser konservativen Umgebung politisch zu äußern, und kritische Positionen zu beziehen – oder auch konstruktiv mitzuarbeiten. Aber dies vielleicht zum Trost: Man findet überraschenderweise manchmal auch Mitstreiter, wo man sie nicht vermutet hätte. Der vdää würde es begrüßen, würden sich insbesondere jüngere Mitglieder verstärkt in der Kammerarbeit und den demokratischen Listen organisieren. Ein frischer Wind könnte den alten Standes-Muff gut aufwirbeln.
Mitarbeit in der KV?
Bei den kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) gab und gibt es ähnliche Vorbehalte, wie bei den Kammern. Im deutschen Gesundheitswesen gilt das »Prinzip der gemeinsamen Selbstverwaltung«: Der Staat delegiert wesentliche Aufgaben und Verantwortungsbereiche an die KVen und die Krankenkassen. Diese erfüllen ihre Aufgaben als »Körperschaften des öffentlichen Rechts« in Eigenverantwortung unter Rechtsaufsicht des
Staates. Im Gegensatz zur Bundesärztekammer ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die unter staatlicher Aufsicht des Bundesministeriums für Gesundheit steht.
Nach Gründung der allgemeinen Krankenversicherung 1883 befanden sich die neuen Krankenkassen in einer starken Situation: sie konnten mit einzelnen Ärzten Verträge abschließen (oder auch nicht) und so die Vertragsbedingungen diktieren. Dagegen opponierte der Hartmann Bund als ärztlicher Kampfbund seit Beginn des letzten Jahrhunderts und erreichte schließlich nach einigen Streiks 1932, dass die KVen als Körperschaften des öffentlichen Rechts durch eine Notverordnung gegründet wurden. Es gab den Kollektivvertrag, der Preis war die Aufgabe des Streikrechts für Kassenärzte. 1933 wurde die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands, die die regionalen KVen ablöste, durch die Nazis gegründet. Die Vertragsärzte arbeiteten, und arbeiten auch heute noch, als Kleingewerbetreibende, die aber nicht direkt von ihren Patienten, sondern indirekt von deren Krankenversicherung honoriert werden. Solange sie als Kleinunternehmer tätig sind und die Vergütung nach Leistung, sei es Anzahl der Patienten oder Menge der erbrachten Leistungen, nicht direkt vom Patienten, sondern über eine Versicherung erfolgt, ist eine quasi-genossenschaftliche Zentralorganisation sinnvoll, da sie eine einheitliche Vergütung der Ärzteschaft und ein einheitliches Versorgungsniveau der Patienten ermöglicht. Selbstverständlich ist eine solche Organisationsform, wie wir sie in unserem Gesundheitswesen vorfinden, nicht gottgegeben und könnte durch andere, eventuell effektivere Strukturen ersetzt werden. Wie diese Strukturen aussehen können, muss Inhalt zukünftiger Diskussionen sein.
Unser Interesse an dieser Organisation, von uns meist nur als »Geldverteilungsmaschinerie« angesehen, war nie besonders groß, wobei, zugegebenermaßen, unsere Wahlchancen bei den Kassenärzten und ihren straffen Organisationen auch nicht sehr groß waren. Doch wurden zwei Aspekte von uns vielleicht unterschätzt: Die KVen haben durch die gemeinsame Selbstverwaltung doch Einfluss auf die konkrete, regionale kassenärztliche Versorgung. Durch die Gesetzgebung der vergangenen Jahre wurden diese Möglichkeiten sogar noch verbessert. Leider werden diese Möglichkeiten wie z.B. striktere Zulassungen oder Sonderzulassungen von den KVen nur beschränkt genutzt. Das traurige Bild, welches die KBV heute in der Öffentlichkeit abgibt, eine Streithansel-Organisation, in der es nur um Macht und Einfluss von Interessengruppen geht und die politisch nicht mehr ernst genommen wird, reizt auch nicht gerade zur Mitarbeit.
Was würde nach der KV kommen?
Zum anderen muss man, wenn es um die Existenzberechtigung der KVen geht, sich auch Gedanken zu Alternativen machen. Mit dem Inkrafttreten des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) 2004 wurde das Quasi-Monopol der KVen auf der Anbieterseite gebrochen. Stattdessen treten seitdem auch ärztliche Berufsgruppen wie Ärztegenossenschaften, Medi-Verbund oder Berufsverbände auf den Plan, die eigene Versorgungsverträge mit den Krankenkassen unter Umgehung der KV abschließen. Die vom Gesetzgeber geförderten und geforderten Selektivverträge drohen die vormals weitgehend einheitliche Versorgungslandschaft im GKV-Bereich zu zersplittern, wobei es fraglich erscheint, ob auf dem Wege der Zersplitterung ein gewünschter Innovationswettbewerb initiiert werden kann – so heißt es im aktuellen Programm des vdää.
Eine Zersplitterung der Kassenabrechnung bedeutet auch eine zunehmende Ungleichheit der medizinischen Versorgung, da diese je nach Kasse und Abrechnungsstelle zu unterschiedlichen Bedingungen angeboten wird (z.B. Vorsorgeuntersuchung alle ein oder zwei Jahre, mit 45 oder 48 Jahren, unterschiedliche Qualitätsanforderungen an die LeistungserbringerInnen usw.). Es ist also durchaus vernünftig, wenn nur ein medizinischer Leistungsanbieter mit den Kassen verhandelt und keine konkurrierenden Gruppierungen.
Das Verhältnis des vdää zu den ärztlichen Standesorganisationen hat sich also über die Jahre geändert. Man muss unterscheiden zwischen den Aufgaben und (potentiellen) Möglichkeiten dieser Organisationen und ihren gegenwärtigen Funktionsträgern. Ihr Status als öffentlich rechtliche Einrichtungen kann durchaus in Frage gestellt und in Zukunft intensiver diskutiert werden. Da die Mehrheit der Ärzteschaft sich nicht an den Wahlen beteiligt, wird das Feld weitgehend den konservativen Standesvertretern überlassen. Natürlich darf der politische Einfluss der Standesorganisationen nicht überschätzt
werden, aber sie können doch ein Forum für fortschrittliche gesundheitspolitische Stellungnahmen abgeben. Der vdää sollte das nutzen.
Wulf Dietrich
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ärztliche Standesorganisationen, 1/2016)