»Brauchen wir ärztliche Zwangsorganisationen?«
»Weil wir nicht heraus können, müssen wir hineingehen«, das war eine unserer Parolen in den siebziger und achtziger Jahren und gleichzeitig die Begründung, weshalb wir zu den Kammerwahlen antraten.
Die Wut über eine Pflichtmitgliedschaft in einer Organisation, die eine reaktionäre Politik vertrat und in der sehr viele alte Nazis noch aktiv waren, war eine Motivation für unsere Kandidatur zu den Kammerwahlen. Daneben aber gab es auch medizinrelevante Themen wie zum Beispiel den Paragraphen 218, die Gefahren eines Atomkrieges bzw. die Risiken der so genannten friedlichen Nutzung der Atomenergie sowie die Aufarbeitung der Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus.
Heute bestimmen Themen wie die solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens durch eine Bürgerversicherung, die medizinische Versorgung von Geflüchteten, die Finanzierung der stationären Krankenversorgung durch die DRGs, die Nutzung von Atomenergie, sowie Probleme des Umweltschutzes unsere Themen in den Kammersitzungen. Auch in Fragen der Weiterbildungsordnung beteiligen wir uns konstruktiv. Das vorliegende Heft gibt einen Überblick über die Institutionen, in denen wir als Ärztinnen und Ärzte Pflichtmitglieder sind. Leider fehlt es an Nachwuchs in der Kammerarbeit.
Viele unserer jüngeren Kolleginnen und Kollegen sehen keinen Sinn in der Mitarbeit in diesen bürokratischen Organisationen. Schade, denn eigentlich können diese auch eine öffentliche Plattform für politische Arbeit abgeben. Außerdem kann es durchaus auch Spaß machen, die konservative Mehrheit eines Ärztetages mit unseren Thesen zu konfrontieren – auch wenn man nicht die Mehrheit hinter sich hat.
Unser Verhältnis zu den Kammern hat sich über die Jahre verändert, aber auch das Verhältnis der Kammerversammlungen zu uns ist nicht mehr das gleiche wie in den achtziger Jahren. Die Stimmung in den Versammlungen ist bei weitem nicht mehr so aggressiv wie in früheren Zeiten. Vielleicht sind viele von den »alten Kämpfern« im Laufe der Jahre auch zahmer geworden?
Dieses Heft gibt auch einen kurzen Überblick, wie die Ärzteschaft in anderen Ländern organisiert ist. Dabei fällt auf, dass Deutschland, neben Österreich, das einzige Land ist, in der die Ärzteschaft in einer halbstaatlichen Organisation, einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes pflichtorganisiert ist. Muss das eigentlich so sein? Viele von uns haben sich zwischenzeitlich damit abgefunden. Vielleicht sollten wir etwas Fantasie entwickeln bei der Suche nach alternativen Organisationsformen, in denen die Interessen der Ärzteschaft und auch der PatientInnen besser vertreten werden können.
Die Konstruktion einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes ist ein ganz geschickter staatlicher Schachzug. Der Staat delegiert gewisse Aufgaben an die Organe der Ärzteschaft, unter Beibehaltung seiner juristischen Oberaufsicht. Soll sich die Ärzteschaft doch selber zurechtraufen, bevor der Staat ihr Weisungen erteilt. Wir sehen aber, dass die Ärztekammern nur schwerlich diesen Aufgaben nachkommen können, das letzte Beispiel hierfür ist das Desaster um die Entwicklung einer neuen GOÄ. Bei der effektiven Bekämpfung der Korruption erwiesen sich die Ärztekammern als unfähig. Jetzt soll mit einem Antikorruptions-Gesetz korruptes Verhalten im Gesundheitswesen bekämpft werden. Und auch die Reform der Weiterbildung schleppt sich mühselig seit Jahren dahin. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die ärztlichen Körperschaften des öffentlichen Rechtes, die KV eingeschlossen, ihren ordnungspolitischen Funktionen in der heutigen Zeit nicht mehr gerecht werden können.
Beispiele aus Großbritannien oder den USA zeigen, dass auch ohne halbstaatliche Organisation effektive Vertretungen der Ärzteschaft organisiert werden können. In Großbritannien ist zum Beispiel die überwiegende Mehrheit der im NHS organisierten Ärztinnen und Ärzte im in der BMA organisiert. Es fällt auf, dass sich sowohl die BMA als auch die US-amerikanische AMA für fortschrittliche Reformen des Gesundheitswesens einsetzen, während die deutschen Kammern sich jeder fortschrittlichen Reform widersetzen. Auch die Schweizer Ärztekammer (»Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte«) ist eine privatrechtliche Organisation mit freiwilliger Mitgliedschaft, in der immerhin 95 Prozent der Schweizer Ärzte Ärztinnen und Ärzte organisiert sind. Der Beitrag in diesem Heft zur Rolle der Ärzteschaft in der DDR beschreibt die Organisation der Ärzteschaft unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen.
Weil wir die kassenärztlichen Vereinigungen nie als politische Organisationen begriffen haben, sie außerdem fest in konservativen Händen waren und sind, haben wir ihnen nie eine große Beachtung geschenkt. Der Artikel von Peter Scholze in diesem Heft zeigt aber, dass die KVen neben der Verteilung des Geldes der Versicherten an die Vertragsärzte auch wichtige ordnungspolitische Funktionen haben. Hierüber sollten wir uns in Zukunft mehr Gedanken machen, bzw. auch Alternativen entwickeln.
Viele Bilder dieser Ausgabe zeugen von früheren Aktionen – u.a. vor Deutschen Ärztetagen. Die Bilder geben einen kleinen Einblick in die Geschichte der Protestbewegung im Gesundheitswesen. Die Qualität der Abbildungen lässt zu wünschen übrig, doch hat sie einen gewissen Zeitzeugen-Charakter.
In den vergangenen Monaten sind zunehmend beängstigende rechtsradikale Tendenzen in unserem Land sichtbar geworden. Brennende Flüchtlingsheime und eindeutig rechtsradikale Ergebnisse bei den Landtagswahlen sind Zeuge davon. Der Beitrag von Rudi Schwab in diesem Heft greift dieses Thema auf. Außerdem legen wir dieser Ausgabe eine Neuauflage eines Plakates bei, das wir in den neunziger Jahren anlässlich der brennenden Asylunterkünfte herausgegeben hatten. Dieses Plakat kann man auch heute gut in Kliniken und Praxen aufhängen, um zu demonstrieren, dass wir als Ärztinnen und Ärzte keinerlei Unterschiede in der Behandlung unserer Patienten machen. Leider scheint eine solche öffentliche Feststellung heute notwendig zu sein.
Abschließend möchte ich noch auf die Einladungen zu unseren kommenden Veranstaltungen hinweisen: Anlässlich des Deutschen Ärztetages in Hamburg werden wir mit einer kulturell-politischen Veranstaltung präsent sein. vdää-on-tour wird sich in diesem Jahr mit der Geschichte der Ärzteschaft im Nationalsozialismus beschäftigen. Und schließlich, und ganz besonders, möchte ich Sie zu unserer Jahreshauptversammlung im November einladen, auf der wir die Zukunft des Gesundheitswesens und der Gesundheitsbewegung diskutieren werden und – hauptsächlich – das 30-jährige Bestehen unseres Vereins gebührend feiern wollen.
Wulf Dietrich
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ärztliche Standesorganisationen, 1/2016)