Lohnarbeit und Psyche
Einige persönliche und zugleich systemkritische Überlegungen von Wolfgang Hien über arbeitsbedingte psychische Erkrankungen
Seit der Jahrtausendwende lassen uns diese Themen nicht los: Stress am Arbeitsplatz, Mobbing, Burnout, Depression, Angst vor Arbeitslosigkeit, aber auch Angst vor Arbeit – die Liste ließe sich zwanglos fortsetzen. In praktisch allen Medien gibt es fast wöchentlich Aufmacher dazu, Fallgeschichten, Umfragen, neue Studien. Die Fülle der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist selbst für Fachleute unübersehbar geworden. Ich selbst habe aus kritisch-arbeitswissenschaftlicher Sicht dazu mehrere größere Übersichtsarbeiten verfasst (Hien 2010, 2016a, 2016b). Es gibt unzählige statistischen Daten und epidemiologische Studien, die zeigen, dass seit den 1990er Jahren die diagnostizierten psychischen Erkrankungen eindeutig ansteigen – in Deutschland wie weltweit – von einem noch im letzten Jahrhundert marginalen Niveau auf ein Niveau von mittlerweile 19% aller Krankheitstage (Schumann et al. 2022). Es gibt genügend Hinweise, dass dieser Anstieg recht deutlich mit den zunehmenden Arbeitsanforderungen im Kontext neoliberaler Restrukturierungsprozesse in der Arbeitswelt korreliert (einige Studien dazu werden im Folgenden noch angesprochen).
Zugleich aber mehren sich die Stimmen, die einen Unterschied zwischen der Zahl diagnostizierter Fälle und der Zahl tatsächlicher Fälle sehen. Früher, so das Argument, sei die Quote psychisch Erkrankter in der Bevölkerung genauso hoch gewesen wie heute, mit dem Unterschied, dass früher nur die schwersten Fälle vom medizinischen System erfasst wurden. Das sei heute anders, und daher sei die Aufregung über die angeblich steigende Zahl psychischer Kranker übertrieben. Dass früher viele Krankheiten nicht offiziell erfasst wurden, ist sicher richtig. Es ist eher die daraus gezogene Schlussfolgerung, die mich aus Sicht eines kritischen Arbeitswissenschaftlers aufregt. Es geht einmal um die Ignoranz, was die sich verändernden Arbeitsverhältnisse und deren Bewertung hinsichtlich einer menschengerechten Arbeitsgestaltung betrifft; zum anderen geht es um das Menschenbild, das sich hinter den bagatellisierenden Urteilen verbirgt. Letztlich ist die gesamte Kontroverse durchwoben von einer Grundsatzfrage: Auf welcher gesellschaftstheoretischen Folie bewegen sich eigentlich bestimmte Beurteilungen?
Meine Beobachtungen des Diskurses lassen sich etwa so zusammenfassen: Bot vor 20 Jahren die Erkenntnis, dass uns die neoliberal orientierten Arbeitsbedingungen mit ihren Zumutungen psychisch belasten und krankmachen, noch Anlass für ein gewisses Erschrecken, wandelte sich mit der Zeit der Blickwinkel hin zu Themen wie Resilienz, Prädispositionen, Persönlichkeitsfaktoren und individuellen Verhaltensmustern. Gerade jetzt, zu Pandemiezeiten, sind die Medien voll von neuen Mitteilungen, Experteninterviews, Ratschlägen, Ratgebern und Hinweisen auf Unterstützungs- und Therapieangebote. Auch die Sozialversicherungsträger, die Krankenkassen, die Unfallversicherungen und die Rentenversicherungsträger überstürzen sich mit neuen Angeboten: Vorgesetzte sollen geschult werden, dass sie frühzeitig erkennen, wenn sich ein*e Untergebene*r unterfordert oder überfordert fühlt. Arbeitende mit psychischen Problemen sollen sich bei psychosozialen Berater*innen melden, z.B. bei den neu in Köln, Nürnberg und Berlin eingerichteten »Blaufeuer«-Beratungsstellen. Die Hansestadt Hamburg hat eine eigene Beratungsstelle Perspektive Gesundheit und Arbeit (PGA) eingerichtet, die hoch frequentiert wird. Die Krankenkassen schlagen Alarm, dass psychische Erkrankungen zu langen und teuren Arbeitsunfähigkeiten und langen stationären Behandlungen führen; sie fordern mehr Prävention. Doch auch hier zeigt sich: Nicht die Arbeitsbedingungen, die nach allen klassischen Kriterien der Arbeitswissenschaft zunehmend jedes menschliche Maß vermissen lassen, sondern das persönliche Verhalten steht im Vordergrund. In praktisch allen populären und wissenschaftlichen Ratgebern wird auf die Prädispositionen hingewiesen wie z.B.: hohe Ansprüche an sich selbst, der Hang zum Perfektionismus, das Problem des Nicht-Abschalten-Könnens und Ähnliches mehr. Dass all dies Faktoren sind, die wir ernst nehmen müssen, ist nicht zu bestreiten. Doch was hier völlig ausgespart wird, ist die Tatsache, dass alle neuen Managementtechniken darauf ausgerichtet sind, genau diese Verhaltensweisen zu fördern. Sei es in der Produktion von Autos und anderen Gütern, sei es in der Entwicklung oder Verwaltung, sei es in technischen oder persönlichen Dienstleistungen: Überall und generell werden die Taktzeiten von Jahr zu Jahr verkürzt, d.h. immer mehr Dinge müssen in immer kürzeren Zeitabständen bewältigt werden. Dies hat in praktisch allen Arbeitsbereichen zu einer Arbeitsintensivierung geführt, die vor einigen Jahrzehnten – auch in der Arbeitswissenschaft – unvorstellbar gewesen ist.
Am 29. Juli 2022 berichtete der Weser-Kurier von Studien und Umfragen, nach denen immer mehr Menschen krank zur Arbeit gingen. Das Phänomen wird als Präsentismus bezeichnet. Davon berichten die Gesundheitsreporte der großen Krankenkassen, aber auch Berichte der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Dies sei ein ernstzunehmendes Problem: Die eigentlich kranken Erwerbstätigen könnten keine guten Leistungen erbringen, machten viele Fehler mit hohen Folgekosten und würden dadurch der Volkswirtschaft einen großen Schaden zufügen. War in früheren Jahren der Absentismus Stein des Anstoßes, ist es jetzt der Präsentismus. Eingeräumt wird, dass allerorts die psychischen Arbeitsbelastungen enorm gestiegen sind; auch seien während der Pandemie die Existenzängste der Menschen angestiegen, sodass – trotz der Rede vom Fachkräftemangel – sich mehr Menschen auch krank zur Arbeit geschleppt hätten. Es gibt tatsächlich gerade bei älteren und schon gesundheitlich beeinträchtigten Menschen eine umfassende Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren. Und zu welchen Schlüssen kommt der Artikel?
Es wird auf die neuen App-Angebote hingewiesen, mit deren Hilfe die psychischen Belastungen und die entsprechenden physiologischen Parameter digital registriert und ausgewertet werden können. Tatsächlich hat sich mittlerweile eine ganze Reihe von Firmen auf dem Markt etabliert, die sich den Unternehmen und Personalverwaltungen unter dem Motto »Betriebliche Gesundheitsförderung« anbieten. Die Mitarbeitenden sollen dazu angehalten werden, sich der digitalen Gesundheitsüberwachung anzuschließen. Übertreten bestimmte Marker einen Grenzwert, werden der*dem Betroffenen automatisch und gleichsam »in situ« Entspannungsprogramme angeboten, z.B. kleine Meditationsübungen, bestimmte Klänge oder Mantras, die einen wieder »zur eigenen Mitte« führen sollen und Ähnliches mehr. Was den Betroffenen selbstredend nicht angeboten wird, sind Gedanken, die unter keinen Umständen aufkommen dürfen: Wie kann ich mich gegen Zumutungen meines Chefs oder gegen Zumutungen eines anonymen Arbeitsprogramms wehren? Wie kann ich diese Zumutungen unter den Kolleg*innen meines Arbeitsbereichs zur Sprache bringen, wo Unterstützung bekommen z.B. bei der betrieblichen Interessenvertretung oder der Schwerbehindertenvertretung? Und überhaupt: Wäre es nicht sinnvoll, erst mal zum Arzt zu gehen und vielleicht eine psychosomatische Rehabilitation zu machen?
Hilfreich ist ein Blick in den Stand der arbeitswissenschaftlich-epidemiologischen Forschung. Zur menschengerechten Gestaltung gehören ferner folgende Kriterien: möglichst viel Handlungsspielraum am Arbeitsplatz (die Arbeitspsychologie spricht von »high control«, wobei »control« als Eigenkontrolle der Arbeitenden verstanden wird), Entwicklungsmöglichkeiten und ein hohes Niveau an sozialer Unterstützung, insbesondere bei hohen emotionalen Anforderungen und Rollenkonflikten. Aufschlussreich ist eine große epidemiologische Studie mit mehr als 8.000 über 45-Jährigen Erwerbstätigen, die unter Federführung des Londoner Psychiaters Stephen Stansfeld durchgeführt und in der sehr genau gegen psychische Probleme im Kindes- und Jugendalter adjustiert wurde. Sie zeigt ein fast zweifach erhöhtes Risiko für Depressionserkrankungen und Angststörungen, wenn bei der Arbeit kein Handlungsspielraum besteht, die soziale Unterstützung fehlt oder eine hohe Jobunsicherheit besteht (Stansfeld et al. 2008). Ähnliche Ergebnisse finden sich in zahlreichen weiteren Studien, so z.B. in einer neueren dänischen Studie (Svane-Petersen et al. 2020).
Dass gerade bei Gesundheitsarbeiter*innen (healthcare workers) die hohen emotionalen Belastungen unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen zu einem signifikant erhöhten Depressionsrisiko führen, hat eine jüngst veröffentlichte – eine ebenfalls in Dänemark durchgeführte – Erhebung bei 1,6 Millionen Beschäftigten gezeigt (Madsen et al. 2022). Im gerade erschienenen Gesundheitsreport der deutschen Angestelltenkrankenkasse (Schumann et al. 2022) wird anhand der vorliegenden Krankenkassendaten der Zusammenhang von Psyche und Herz-Kreislauf-Erkrankungen genauer unter die Lupe genommen. Als besonderer Stressfaktor werden die sogenannten Gratifikationskrisen hervorgehoben, d.h. Belastungserfahrungen, bei denen den persönlichen Anstrengungen zu wenig Anerkennung und Wertschätzung gegenüberstehen. Der Anteil von derartigen Belastungen ist in der Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen am höchsten und korreliert insofern mit den in dieser Altersgruppe besonders auffälligen Quoten an psychischen und kardiologischen Erkrankungen.
Exkurs
Hier sei mir ein kleiner Exkurs in meine eigenen Arbeitserfahrungen gestattet. In den 1960er und 1970er Jahren arbeitete ich in verschiedenen Betriebslabors der chemischen Industrie. Dort haben in der Regel mehrere, manchmal bis zu zehn Personen ein bestimmtes Arbeitspensum, z.B. in der Analytik, zu bewältigen gehabt. Derartiges wird heute in der Regel von einer Laborantin oder einem Laboranten abgeleistet, mit dem Unterschied, dass dieser Mensch – selbstredend in einem vollkommen durchdigitalisierten Labor mit Dutzenden von Displays und Bildschirmen – eine vielmals größere Menge an Überprüfungen und Parametern zu überwachen und zu beurteilen hat. Gefordert ist eine ununterbrochen hohe Aufmerksamkeit, genauer: eine ununterbrochen hohe geistige Anspannung. Unaufmerksamkeiten werden registriert und kommen auf ein Negativkonto; und weil die nächste Rationalisierungs- oder Restrukturierungswelle ansteht, werden die Leistungen der Mitarbeitenden miteinander verglichen – in manchen Betrieben sogar auf großen betriebsinternen Displays – und auf diese Weise auch die innerbetriebliche Konkurrenz der Mitarbeitenden gnadenlos angeheizt. Ich halte derartige Betriebspraktiken für menschenfeindlich. Wer in einem Lehrbuch der Arbeitswissenschaft Auskunft sucht, was der Begriff der menschengerechten Arbeitsgestaltung, wie er sich im Arbeitsschutzgesetz findet, bedeutet, erfährt Folgendes: Die Arbeit muss für einen erwachsenen Menschen ausführbar, schädigungslos, beeinträchtigungsfrei und persönlichkeitsfördernd sein. Der erwachsene Mensch muss kein olympiareifer »Hochleister« sein, sondern ein Mensch mit all seinen Variabilitäten. In den real existierenden Unternehmenskulturen sind aber nur »Hochleister« gewollt, und im üblichen Sprachgebrauch des Managements werden »Minderleister« als Problem angesehen, das es möglichst zu externalisieren gilt. Bei Nachfragen kommt immer der hohe globale Konkurrenzdruck ins Spiel, ein Argument, das leider fast alle Experten und Expertinnen zum Verstummen bringt, obwohl doch gerade hier eine Kapitalismuskritik angebracht wäre. Dieses Verstummen wirkt sich als innerer Zensor aus, d.h. in vielen aktuellen wissenschaftlichen und auch arbeitsmedizinischen Stellungnahmen werden nicht die unmenschlichen Verhältnisse – auch die zuweilen unmenschliche Sprache –, sondern die unzureichenden Fähigkeiten oder eben die Vulnerabilitäten derjenigen thematisiert, die aus dem System herausfallen. Der Unterschied zu den 1960er und 1970er Jahren: In unseren damaligen Labors hatten wir immer Mitarbeitende, die heute als »Minderleister«, als »nicht belastbar«, als »empfindlich« oder gar als »gestört« bezeichnet würden. Unter zehn Mitarbeitenden waren es immer ein oder zwei, die »schwierig« waren, aber sie wurden von allen akzeptiert und mitgetragen. Das war damals auch Teil der real existierenden Unternehmenskultur.
Agile Arbeit
Ein Wirtschaftsbereich, der bei all den Veränderungen als Vorreiter gelten darf, ist der IT-Sektor. Dazu und unter dem Blickwinkel, wie dort mit chronisch gesundheitlich Beeinträchtigten umgegangen wird, habe ich mehrere eigene Studien durchgeführt (Hien 2008; Hien/Funk 2019). Nach wie vor stehe ich mit vielen Beschäftigten in dieser Branche in Kontakt. Ein Interviewpartner, IT-Fachkraft in einem großen Unternehmen der Metallbranche in Nürnberg, berichtete über einen enorm gewachsenen Arbeitsdruck in den letzten Jahren: »Du kriegst ein Projekt auf den Tisch gelegt, sagen wir für sechs Wochen, aber dann kommen mindestens 300 Sachen nebenbei dazu, die du auch noch machen sollst, alles parallel.« Der Konkurrenzdruck unter den Kolleg*innen sei eindeutig gewachsen, und es zeichneten sich Konturen eines intergenerativen Konfliktes ab, denn: »Da kommen neue junge Mitarbeiter, frisch von der Uni oder der Hochschule, die sind gut ausgebildet, und die springen dauernd auf neue Sachen.« Das sei insbesondere dann fatal, wenn die jungen Kolleg*innen schnell zur Team- oder Projektleitung avancieren. Zum Thema Zeitdruck käme dann die Aussage: »Sie haben genug Zeit, Sie müssen nur ein gutes persönliches Zeitmanagement lernen.«
Eingebettet sind diese Arbeitsstrategien in ein Konzept der »Agile(n) Arbeit«. Dies ist ein Konzept, das auf Teamarbeit, Teamkontrolle und kurzfristige Zeitzyklen setzt. Qualifizierte und tradiert-ganzheitliche Aufgaben werden fließbandgerecht kleingestückelt. Der Markt-Druck wird auf die Arbeiter*innen heruntergebrochen. Alle Verantwortung für die Turbulenzen und Schrecklichkeiten des kapitalistischen Marktes werden auf die arbeitenden Menschen abgewälzt. Kollektivität darf sich nur im Konsens mit den Markterfordernissen entwickeln – eine entfremdete und letztlich absurde Fehlorientierung menschlicher Ressourcen. Die Poren des Arbeitstages – eingedenk der Freude, etwas tun und auch mal etwas lassen zu können und eingedenk der kleinen Fluchten in einem sozialen Raum – werden geschlossen. Die britische Ökonomin Phoebe Moore hat in den Niederlanden agiles Arbeiten untersucht. Sie konstatiert einen Zwang zu »dauerhafte(n) Hochleistungen«, geködert von dem Versprechen, Beschäftigte könnten ihren Arbeitsbereich autonom gestalten. Doch diese Autonomie unterliegt der Logik der Marktkonformität. »Es kommt zu einer immer stärkeren Verschränkung von Arbeit, Identität und Leben. (…) Dadurch drohen sie zu agilen Subjekten in einem ewigen Zustand der Entfremdung zu werden« (Moore 2019, S. 243 und 253).
Paradox ist daher die Rede von der Subjektivierung der Arbeit. Es ist m.E. eine Subjektivierung im Modus der Entfremdung, in der Rollenidentität die Ich-Identität überdeckt und erstickt. Der sozialpsychologischen Forschung ist seit langem das Problem der Überidentifikation bekannt (Dreitzel 1968). Überidentifikation bedeutet auch Überanpassung und Überverausgabung – ein Zug, der in die Gefahrenzone des Ausbrennens fährt; kombiniert mit der Idealisierung der eigenen Arbeit und dem Streben nach Perfektionismus kann dies ein Schnellzug ins Aus werden. Die Dynamik, mit der ein Subjekt in die Überanpassung gerät, kann als Verlust der Rollendistanz interpretiert werden. Sie führt, so Dreitzel, auf Dauer zu einer »marionettenhaften Existenz« und letztlich zu einer Depersonalisation, einem Merkmal von Burnout und Depression, d.h. einem totalen Wahrnehmungs- und Emotionsverlust sich selbst und anderen gegenüber, in der Konsequenz zu einem Zusammenbruch der Persönlichkeit. Die übersteigerte Rede von »gute(r) Arbeit« nährt Idealisierung und Überidentifikation.
Gerade Gesundheitsarbeiter*innen werden so zu einer extremen Gratwanderung gezwungen, nämlich ihre Arbeitsqualität trotz schlechter Rahmenbedingungen hoch zu halten – was sie regelmäßig in Situationen berufsethischer Rollenkonflikte und eines moralischen Gewissens-Stresses bringt (Hien 2009, 2016c). Selbstüberforderung, Angst und Konkurrenzdruck untereinander, unterschwellige negative Bewertungen und Exklusionstendenzen – all das verbrennt die Erde, auf der »normale« Menschen in ihrer ganzen Streubreite, d.h. Menschen mit ihren Schwächen, ihren Krankheiten, ihrer Langsamkeit, vielleicht ihrer mangelnden Teamfähigkeit, d.h. durchaus auch mit ihren nicht-agilen Eigenheiten, leben könnten. Die neoliberalen Arbeitsverhältnisse fordern aber eine Anpassung an Agilität, selbst dann, wenn sich Menschen damit völlig überfordern und krank werden. Hier ist die alte Frage Erich Fromms mehr als gerechtfertigt: »Müssen wir kranke Menschen produzieren, um eine gesunde Wirtschaft zu haben?« (Fromm 1974, S. 12), genauer: eine gesunde kapitalistische Wirtschaft? Die Frage nach einer psychischen und körperlichen Gesundheit verweist zwingend auf die Frage nach einer anderen, solidarischen und dem menschlichen Maß angepassten Wirtschaftsweise und damit einer anderen Beziehungsweise der Menschen untereinander, in der Sorge, Verantwortung und das Wissen um die gegenseitige Abhängigkeit die Leitmerkmale sind.
Wolfgang Hien ist Arbeits- und Gesundheitswissenschaftler, Medizinsoziologe, Biographieforscher, Lehrbeauftragter der Universität Bremen im Studiengang Public Health, er ist Autor des Buchs: Die Arbeit des Körpers – von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart, 2., korrigierte und erweiterte Auflage, Wien 2022.
Literatur
Dreitzel, H.-P.: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudie zu einer Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart 1968
Fromm, E.: Die Revolution der Hoffnung. Für eine humanisierte Technik, Stuttgart 1971 Hien, W.: Irgendwann geht es nicht mehr. Älterwerden und Gesundheit im IT-Beruf, Hamburg 2008
Hien, W.: Pflegen bis 67? Die gesundheitliche Situation älterer Pflegekräfte. Frankfurt am Main 2009 Hien, W.: Sich verbiegen lassen oder aufrecht gehen?, in: Psychologie und Gesellschaftskritik, Band 34. Heft 4, 2010, S. 85-103
Hien, W.: Psychische Arbeitsbelastungen und chronische Erkrankungen. In: sicher ist sicher, Band 67, Heft 5, 2016a, S. 243-247 Hien, W.: Restrukturierungen – schicksalhaft gegeben? In: Derselbe: Kranke Arbeitswelt, Hamburg 2016b, S. 94-110
Hien, W.: Krankenhausarbeit unter Ökonomisierungsdruck. In: Derselbe: Kranke Arbeitswelt, Hamburg 2016c, S. 123-144
Hien, W. / Funk, G.: Chronisch krank im Klein- und Mittelbetrieb, Working Paper Nr. 124, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2019
Madsen, I.E.H. et al.: Emotional demands at work and risk of hospital-treated depressive disorder in up to 1.6 million Danish employees: a prospective nationwide register-based cohort study, in: Scand J Work Environ Health, Band 48, Heft 4, 2022, S. 302-311
Moore, P.: Agiles Arbeiten und Messung des Affektiven. In: Florian Butello / Sabine Nuss (Hg.): Marx und die Roboter, Berlin 2019, S. 237-255
Schumann, M. et al.: Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten-Krankenkasse, Heidelberg 2022
Stansfeld, S.A. et al.: Psychosocial work characteristics and anxiety and depressive disorders in midlife: the effects of prior psychological distress. In: Occup Environ Med, Band 65, Heft 9/2008, S. 634-642
Svane-Petersen, A.C. et al.: Psychosocial working conditions and depressive disorder: disentangling effects of job control from socioeconomic status using a life-course approach, in: Soc Psychiatry Psychatr Epidemiol, Band 55, Heft 2/2020, S. 217-228
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Psychische Erkrankungen, Nr. 3, Oktober 2022)