Wirtschaftswachstum ohne Ressourcenverbrauch?
Warum der Kapitalismus nicht grün wird – von Matthias Martin Becker
Matthias Martin Becker erläutert uns vor dem Hintergrund der Kritik der politischen Ökonomie die Zwänge der kapitalistischen Produktionsweise, angesichts derer von Hoffnungen auf die »Lösung« des Problems der systematischen Naturzerstörung ohne grundsätzliche Änderung der Wirtschaftsweise und der Eigentumsstrukturen nicht viel übrig bleibt.
Welche Voraussetzungen müsste ein nachhaltig wirtschaftender Kapitalismus erfüllen und welche Schwierigkeiten hätte er zu überwinden? Ein ökologisch reformierter Kapitalismus müsste weiterhin Wachstum ermöglichen und dennoch die Klimakrise entschärfen. Zu diesem Zweck müsste er Energiegewinnung, Treibstofferzeugung und agrarische Landnutzung innerhalb der planetaren Belastungsgrenzen betreiben. Dabei handelt es sich nicht nur um eine technische Herausforderung, sondern mehr noch um eine wirtschaftliche und politische. Opponierende Interessengruppen müssten entmachtet (oder wenigstens auf diese Linie verpflichtet) werden. Die Reformen müssten von nennenswerten Teilen des Kapitals, des Staates und ihrer Apparate mitgetragen werden. Die Reformer müssten zudem nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch im internationalen Staatensystem die Vorherrschaft erringen. Sehen wir uns diese Voraussetzungen nacheinander an (und lassen uns dabei von Karl Marx beraten).
Kreislauf und Spirale
Die Erde bildet ein System, das von der Sonne Energie empfängt. Fast alles auf diesem Planeten bewegt sich im Kreis. Wie das Wasser, das an der Meeresoberfläche verdunstet, sich zu Wolken sammelt, die zum Land treiben, wo sie als Regen niedergehen und dann mit den Flüssen ins Meer zurückkehren. »Vier chemische Elemente – Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff – machen das Gros aller lebenden Materie aus«, schreibt der US-amerikanische Umweltschützer Barry Commoner. »Sie bewegen sich in riesigen, ineinander verflochtenen Kreisläufen in den Oberflächenschichten der Erde: mal als Bestandteil der Luft und des Wassers, mal als Baustein eines lebenden Organismus, mal als Element eines Abfallprodukts und nach einer gewissen Zeit vielleicht als Mineralvorkommen oder fossiler Überrest.« Die biogeochemischen Erdkreisläufe drehen sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung. Bislang versteht die Wissenschaft ihr Zusammenspiel nur in groben Zügen.
Viele Kreisläufe führen durch den Stoffwechsel lebender Organismen. Auch wir Menschen sind nur eine Durchgangsstation. Der Kohlenstoff, den wir ausatmen, nährt Bäume, Gräser und andere Pflanzen. Ihre Photosynthese ist sozusagen eine umgekehrte Atmung, die Kohlendioxid wieder in Sauerstoff verwandelt. Die Lebewesen auf der Oberfläche der Planeten bilden sozusagen ein unverzichtbares Makrobiom.
Auf diesen Strömen von Energie und Materie beruhen selbstverständlich auch kapitalistische Gesellschaften. Aber sie sind anders gerichtet. »Das Kapital durchläuft während seiner Reproduktion einen Zyklus, in dem es sich nicht einfach reproduziert, sondern auf erweiterter Stufenleiter, nicht einen Zirkel beschreibt, sondern eine Spirale«, erklärt Karl Marx. Daher das Wort Akkumulation, von Anhäufen. Die Unternehmen müssen Kapital akkumulieren, um am Markt zu überleben. Die Konkurrenz zwingt sie dazu, ihre Produktion zu rationalisieren und profitabler als ihre Wettbewerber zu sein. Ihre Gewinne müssen sie wieder investieren und die Produktion ausweiten. Innovationen verschaffen ihnen für eine Weile überdurchschnittlichen Profit. Aber die Konkurrenz schläft nicht und übernimmt ihre Methoden, sodass der Vorsprung schnell wieder schmilzt. »Die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf«, schreibt Marx. »Sie zwingt ihn, sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten, und ausdehnen kann er es nur vermittelst progressiver Akkumulation.«
Dieser Ablauf lässt den Energiebedarf wachsen. Denn um die Produktion rationeller zu machen, ersetzen die Unternehmen menschliche Arbeitskräfte durch Maschinen. »Die Kapitalakkumulation bedarf eines immer höheren Anteils an Maschinerie und technischer Ausstattung«, schreibt Bruno Kern. »Die kapitalintensivere Produktion und der entsprechende Konsum beschleunigen den Verbrauch von Energie und Rohstoffen.« Deshalb mobilisiert eine Arbeitsstunde eines Beschäftigten immer größere Energiemengen und wandelt immer mehr Ressourcen um.
Der Rationalisierungszwang führt weiterhin zu einem anhaltenden Druck auf die Preise von Arbeit, Boden und Rohstoff: »Es ist der immanente Trieb und die beständige Tendenz des Kapitals, die Produktivkraft der Arbeit zu steigern, um die Ware und durch die Verwohlfeilerung der Ware den Arbeiter selbst zu verwohlfeilern«, so Marx. Indem die Waren, die von den Beschäftigten konsumiert werden, durch Rationalisierung günstiger werden, wird auch ihre Arbeitskraft günstiger. Der besondere Nutzen einer Arbeit oder die Schädlichkeit des Hergestellten – sein »Gebrauchswert« – interessiert das Kapital nur, »weil und sofern sie materielles Substrat, Träger des Tauschwerts sind.« Natur ist bedeutsam, sofern sie verarbeitet wird und einen Preis hat.
Jede Produktion ist abhängig von natürlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Besonders deutlich wird dies im Fall der landwirtschaftlichen Produktion. Ein gepachtetes Stück Land ist überhaupt nur fruchtbar aufgrund der klimatischen und biologischen Kreisläufe, Wind, Niederschlag, Insekten und Bodenbakterien. Solche Ökosystemleistungen nutzen die Unternehmen gratis, und darin besteht ein Grund für die strukturelle Verantwortungslosigkeit des Kapitals. Die natürlichen Grundlagen des Lebens tauchen in den Kalkülen der Unternehmen nicht auf. Die Volkswirtschaftslehre spricht von »externen Effekten« oder »Externalitäten«– Folgen der Produktion, von denen die Produzenten selbst nicht betroffen sind.
Für Boden und Arbeit bezahlen die Unternehmen dagegen. Sie erwerben Nutzungsrechte für vertraglich geregelte Nutzungszeiten. Innerhalb der (immer unvollständigen) umwelt- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen können sie dieses Recht nach Belieben ausüben. Für die langfristige Erhaltung der Beschäftigten und des Bodens – ihre »Reproduktion« – sind sie nicht verantwortlich (so wenig wie für die Herstellung der grundlegenden kostenlosen Produktionsbedingungen). Die Folgen durch die Inanspruchnahme von Arbeit und Boden dauern aber häufig länger an als die Nutzungszeit, und eine lokale Produktion kann sich regional oder, wie im Fall der Treibhausgase, sogar global auswirken.
Kapitalistische Zeit und ökologische Regeneration
Das Kapital muss die Umschlagzeit der Waren so weit wie möglich beschleunigen, um der Konkurrenz zuvorzukommen. Aber vieles im Erdsystems braucht lange, um sich zu regenerieren. Die Landwirtschaft ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie unterschiedliche Zeitdauern aufeinander prallen. Je nach Klimazone bildet sich zwischen einem bis zweieinhalb Zentimetern neuer Humusschicht pro Jahrhundert. Die industrielle Landwirtschaft orientiert sich stattdessen an Quartalszahlen. Sie ersetzt Humus durch Mineraldünger, teilweise sogar die Erde durch Steinwolle oder Kokosfasern. Innerhalb von Wochen verbraucht sie fossile Energieträger, die über Millionen Jahre entstanden sind.
Während Ressourcen begrenzt sind, ist die kapitalistische Akkumulation prinzipiell unersättlich. Absatzmärkte müssen ausgedehnt und neue Märkte erobert werden. Genug ist niemals genug, daher eine rastlose und unaufhörliche Suche nach mehr Nachfrage und mehr Nachschub. Die Arbeit formt immer mehr Material um (und hinterlässt entsprechend immer größere Mengen Abluft, Abwasser und Schadstoffe). Die kapitalistische Wirtschaftsweise »unter dem objektiven Zwang zur Profitanhäufung und Kapitalverwertung (muss) die natürlichen Ressourcen in prinzipiell grenzenlos vermehrbaren Geldwerten ausdrücken und damit deren Endlichkeit ignorieren«. Aber dem Erdsystem wird nichts hinzugefügt, solange wir keine anderen Planeten ausbeuten können. Nichts verschwindet, solange wir unsere Abfälle nicht ins Weltall schießen, was uns außerirdische Lebewesen übel nehmen könnten. Auf dieser sehr allgemeinen Ebene zeigt sich bereits, wie schlecht kapitalistische Produktion und die Kreisläufe des Erdsystems zueinander passen.
Wachstum, Wachstum über alles
Die fortgesetzte Akkumulation des Kapitals treibt das Wirtschaftswachstum an. Dabei handelt es sich nicht um einen Nebenaspekt dieser Gesellschaft: stetiges Wachstum ist die Voraussetzung dafür, dass sich kapitalistische Gesellschaften erhalten können. Nur Wirtschaftswachstum öffnet Verteilungsspielräume, sodass mehr oder weniger große Bevölkerungsgruppen an einem hohen Lebensstandard partizipieren können. Der Wachstumszwang entsteht aus der Unternehmenskonkurrenz, aber die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten wirkt ähnlich. Ein stockendes Wachstum bedroht die eigene Stellung im internationalen Staatensystem. Es vermindert die Staatseinnahmen und damit die Handlungsfähigkeit nach innen und außen. In diesem System sind Macht und Reichtum untrennbar miteinander verflochten.
Risse im Erdsystem
Menschen haben immer schon in die planetaren Kreisläufe eingegriffen, Bäume gefällt und Flüsse umgeleitet. Dennoch blieb der menschliche Eingriff in das Erdsystem bis zur Entstehung des Kapitalismus begrenzt. Er drohte niemals, planetare Kreisläufe zu überwältigen oder entgleiten zu lassen, schon weil die Menschheit zu klein war und sie niemals entsprechende Energiemengen mobilisieren gekonnt hätte. Erst seit Dampfmaschinen Kohle in Bewegungsenergie verwandeln, destabilisiert der Mensch das Erdsystem auf gefährliche Weise. Gleichzeitig musste die Arbeit auf den Feldern produktiver werden, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren, die nicht mehr selbst das Land bearbeitete. Sonst würden die Erträge abnehmen und Nahrungsmittel müssten aus dem Ausland eingeführt werden. Daher beherrschte die Erschöpfung des Bodens die wirtschaftspolitische Debatte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die chemische Wissenschaft entwickelte neue Düngemethoden, mit denen die Ernten gesteigert werden konnten. Der deutsche Chemiker Justus Liebig entdeckte, dass die Bodenfruchtbarkeit auf den Nährstoffkreisläufen von Nitrat, Phosphor und Kalium beruht: »Wenn ein Boden seine Fruchtbarkeit dauernd bewahren soll, so müssen ihm nach kürzerer oder längerer Zeit die entzogenen Bodenbestandteile wieder ersetzt werden«, so Liebig 1865. Zum ersten Mal musste sich die Landwirtschaft vorwerfen lassen, den Boden auszulaugen: »Eine solche Wirtschaft trägt mit Recht den Namen einer Raubwirtschaft.«
Karl Marx beschäftigt sich mit dieser zeitgenössischen Agrardebatte. »Stoffwechsel« und »Raubbau« sind zentrale Begriffe in seinem Denken, wie auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land und seine Folgen für die natürlichen Kreisläufe. Das Kapital, schreibt er, reduziere die Landbevölkerung »auf ein beständig sinkendes Minimum und setzt ihr eine beständig wachsende, in großen Städten zusammengedrängte Industriebevölkerung entgegen«. Justus Liebig habe gezeigt, dass diese Form der Landwirtschaft auf Raubbau beruhe. So entstehe »ein unheilbarer Riss … in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebenen Stoffwechsels«, durch den »die Bodenkraft verschleudert und diese Verschleuderung durch den Handel weit über die Grenzen des eignen Landes hinaus getragen« werde.
Warten auf die große Entkopplung
Die planetaren Belastungsgrenzen werden nicht straflos überschritten. Aber die Weltwirtschaft muss weiter expandieren, mehr Energie umsetzen, mehr Land bewirtschaften, mehr Rohstoffe verarbeiten. Das Kapital frisst sich durch die Welt, verwandelt Energie und Materie in Geld und lässt hinter sich Verwüstung zurück. Aber kann die Wirtschaft nicht auch wachsen, ohne mehr Ressourcen zu verbrauchen und mehr Schadstoffe auszubringen?
Der Ausweg aus dem Dilemma wird Entkopplung genannt. Die Wirtschaft wächst weiter, aber ohne mehr fossile Energie aufzuwenden (Dekarbonisierung) und mehr Ressourcen zu verbrauchen. Parteien, Unternehmen und ihre Verbände, internationale Organisationen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds und Teile der Wissenschaft propagieren »grünes Wachstum«. Linke wie Rechte halten geradezu verbissen an der Möglichkeit des Entkoppelns fest. »Einen wie auch immer gearteten direkten Zusammenhang mit einem Mehrverbrauch nicht regenerativer Rohstoffe gibt es nicht«, schreibt z.B. der linke Blogger Jens Berger.
Das ist theoretisch richtig, aber empirisch falsch. Bisher hängen Wachstum und Energieaufwand / Treibhausgase eng zusammen. Wenn Wirtschaftswachstum und Energieaufwand auseinanderstrebten, handelte es sich fast immer um eine relative Entkopplung. Der Verbrauch von Energieträgern (und damit auch die Abgase) wuchs weiter, nur eben nicht mehr so schnell wie die Wirtschaft. Für ein wirklich nachhaltiges Wachstum müsste der Energieumsatz absolut sinken – und zwar genug, um den anthropogenen Treibhauseffekt zu bremsen. Aber eine Auswertung der verfügbaren Studien aus dem Jahr 2019 stellte fest: »Es existieren keine empirischen Belege für eine absolute, globale, anhaltende, ausreichend schnelle und ausreichend umfassende Entkopplung von Umweltbelastungen (sowohl bezüglich der Ressourcen als auch der Folgen).«
Nur wenn die Weltwirtschaft schrumpfte, verlangsamte sich der Ausstoß. Aber bekanntlich verfügt kein Land über seine eigene Atmosphäre. Die bisherigen Beispiele für eine erfolgreiche nationale (relative) Entkopplung scheinen eng mit dem Strukturwandel zusammenzuhängen. »Die hoch entwickelten industriellen Ökonomien wachsen stärker durch Sektoren wie Banken, Versicherungen, Datenverarbeitung, Forschung und Entwicklung, Verkauf und Lizenzvergabe von Patenten als beispielsweise durch Bergbau und Stahlproduktion«, betont Bruno Kern. »Aber das ist ein Nullsummenspiel. Ihre Bilanz – nämlich das Verhältnis von Energie- und Rohstoffinput zum BIP ? kann dadurch zwar besser aussehen, aber die Bilanz der Weltwirtschaft bleibt unverändert.« Wenn der Anteil von Dienstleistungen am Sozialprodukt wächst, wird in der Regel energieintensive Produktion ins Ausland verlagert.
Weniger Ressourcenverbrauch durch Wachstum?
Eine Variante der These von der Entkopplung zielt auf die Möglichkeit, auf einem höheren wissenschaftlich-technischen Niveau umwelt- und ressourcenschonender zu produzieren. Bis zur Jahrtausendwende vertrat die Wirtschaftswissenschaft ziemlich einhellig die Ansicht, dass die ökologischen Probleme sich durch Wirtschaftswachstum langfristig in Wohlgefallen auflösen. Zwar nähmen Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung zunächst zu, dann sänken sie zuverlässig wieder.
Aber der Ressourceneinsatz sinkt bislang nur, wenn eine Volkswirtschaft am Ende von internationalen Wertschöpfungsketten steht und ihre Emissionen ins Ausland verlagern kann. So hört die Abholzung von Wäldern auf (oder verlangsamt sich wenigstens), sobald das Land Agrar- und Forstprodukte über den Weltmarkt einführt. Aber auch hier entscheidet die globale Bilanz, nicht die nationale. In der internationalen Arbeitsteilung spielen die Nationen unterschiedliche Rollen. Manche verfügen über Rohstoffe oder Agrarprodukte, die sie exportieren. Manche stellen Vorprodukte oder einfache Waren für den Weltmarkt her. Andere stehen an der vordersten Front der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung. Mit dieser Rollenverteilung gehen jeweils besondere ökologische Belastungen einher. Gemeinsam verdichten sie sich zu planetaren Belastungen wie Ozeanversauerung, Artensterben oder Klimawandel.
In seinem Plädoyer gegen die »Verteufelung des Wachstums« argumentiert Jens Berger: »Wenn der Personalschlüssel in der Kranken- und Altenpflege verbessert wird, erzeugt dies Wachstum. Wenn mehr Menschen einen Musikdienst wie Spotify abonnieren, ins Kino gehen, sich ein Computerspiel kaufen oder ins Restaurant gehen, erzeugt dies Wachstum. Dieses Wachstum hat aber nichts mit einem direkten – und nur sehr, sehr wenig mit einem indirekten – Mehrverbrauch an Ressourcen zu tun.« Aber diese Beispiele überzeugen nicht. Pflegekräfte kommen mit dem Auto zur Arbeit, benutzen Medikamente und Zellstoffunterlagen und drehen die Zentralheizung hoch, wenn es kühl wird. Viele Dienstleistungen sind nur die letzte Station in einer Produktionskette, bei der möglicherweise wenig CO2-Emissionen anfallen, die aber ohne die energieintensiven Stationen vor ihnen unmöglich wären. So wie die Gastronomie, die letztlich bis zurück auf den Acker reicht.
Eine absolute Entkopplung entspräche einer Dematerialisierung des Wirtschaftswachstums, einer »Entstofflichung«. Die Digitalisierung soll eine zukünftige Entkopplung plausibel machen: »Wir erfanden den Computer, das Internet und diverse andere digitale Technologien, die uns unseren Konsum dematerialisieren ließen. Diese Technologien machten es möglich, dass wir immer mehr konsumieren, während wir zugleich dem Planeten immer weniger Rohstoffe entnehmen … weil Materie durch Bits ersetzt wird«, so der Sachbuchautor und MIT-Wissenschaftler Andrew McAfee.
In Wirklichkeit ersetzen Bits nur dann Materie, wenn ein Prozess mithilfe von Digitaltechnik durch einen weniger energieintensiven Prozess ersetzt wird. Das ist beispielsweise der Fall, wenn eine Geschäftsreise ersetzt wird durch eine Online-Konferenz. Es ist nicht der Fall, wenn das Spielen auf dem Fußballplatz durch das Tippen auf der Computerspiel-Konsole ersetzt wird! Bits benötigen Materie – handgreifliche Endgeräte, Glasfaser- und Stromnetze und Internetserver, die zudem mit hohem Energieaufwand gekühlt werden müssen. Laut einer Schätzung des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie verursachen Internet und Endgeräte in Deutschland etwa 33 Millionen Tonnen CO2-Emissionen im Jahr, so viel wie der innerdeutsche Flugverkehr! Weltweit liegt der Anteil des Internet am Elektrizitätsbedarf bei zehn Prozent.
Umweltschutz als Wachstumstreiber? Die Mär vom »Grünen Kapitalismus«
Eine weitere Variante der These von der Entkopplung ist der »Grüne Kapitalismus«. Er wächst angeblich nicht trotz, sondern wegen des Umweltschutzes. »Das klingt fast wie die Quadratur des Kreises: Ökologie als Jungbrunnen der Ökonomie«, argumentieren Ralf Fücks und Kristina Steenbock, zwei Vordenker des neoliberalen Flügels der Grünen. »Investitionen in Klimaschutz sind volkswirtschaftlich hoch rentabel – und sie können zum Auslöser eines grünen Wirtschaftswunders werden.« Mit Bezug auf das EU-Investitionsprogramm Green Deal versprechen die Grünen-Politiker Franziska Brantner und Robert Habeck: »Wir können zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Investieren, um eine neue CO2-freie Infrastruktur aufzubauen. Der Wirtschaftskrise den Umbau der Wirtschaft entgegensetzen.«
Auch einige linken Analytiker*innen gehen davon aus, dass ein grüner Kapitalismus entstanden ist oder demnächst entstehen wird. So der Politikwissenschaftler und Umweltforscher Christoph Görg, der ein neues (»postfordistisches«) Verhältnis zur Natur am Werk sieht: »Schutz der Natur, so ließe sich die Transformation umschreiben, findet nicht mehr im Kontrast zu Formen ihrer kapitalistischen Nutzung statt, sondern als ein inhärentes Element ihrer Inwertsetzung.« Einfacher ausgedrückt: um an natürlichen Ressourcen zu verdienen, müssen sie erhalten bleiben und gerade die Erhaltung dient der Akkumulation.
Der Kapitalismus erweise sich als so flexibel, dass er selbst noch die zerstörerischen Folgen seiner Produktion profitabel mache. Trotz des gesellschaftskritischen Anspruchs stimmt diese Analyse weitgehend mit den Befürwortern des »Grünen Kapitalismus« überein. Allerdings dauert das Warten auf die große Transformation mittlerweile seit den 1980er Jahren. Wegen der eskalierenden Klimakrise wächst die Kluft zwischen den behaupteten Anpassungsmöglichkeiten und den empirisch zu beobachtenden, geradezu aufdringlichen Katastrophen.
Kein grüner Kapitalismus ohne grüne Kapitalisten
Sofern mit »Grüner Kapitalismus« mehr gemeint ist als eine Vermarktungsstrategie, muss die kommende Dekarbonisierung im materiellen Interesse der jeweiligen Kapitalgruppe liegen. Die entscheidende Frage lautet, ob Unternehmen von einem ökologischen Reformprogramm profitieren oder aber geschädigt würden. Das fossile Kapital im engeren Sinne umfasst Branchen wie die Stromproduzenten aus Kohle, Erdöl und Erdgas, Auto- und Luftfahrt (einschließlich der Rüstungsindustrie). Im weiteren Sinne gehören auch Bau, Agrarindustrie und Lebensmittel dazu, weil die Dekarbonisierung für sie steigende Kosten und Schrumpfung bedeuten würde. Zu den Grünen Kapitalisten dagegen gehören vor allem die Erzeuger erneuerbarer Energie und die Hersteller von Umwelttechnik.
Unter den zehn größten Konzernen der Welt sind sechs Öl- und Gasunternehmen. Mit Volkswagen und Toyota finden sich außerdem zwei Autokonzerne in dieser Top Ten. Das fossile Kapital dominiert nicht nur an der Spitze: »2018 entfällt rund ein Drittel des Gesamtumsatzes der >Global 500< auf Öl, Auto und Flugzeugbau.« Je stärker eine Kapitalgruppe, umso besser kann sie ihre Interessen in staatliches Handeln übersetzen. Diese Stärke beruht auf dem Umsatz und der Zahl der Beschäftigten, aber auch und mehr noch auf der Profitabilität und der Menge des investierten Kapitals. Während die Erneuerbaren immer noch eher mittelständisch und von starker Konkurrenz geprägt sind, kann der fossile Block koordiniert handeln, »mit einer Stimme sprechen«.
Der Staat ist in diesem Konflikt kein unparteiischer Schiedsrichter. Ein nationaler Alleingang bei der Dekarbonisierung wäre im Wettbewerb um Investitionen und Weltmarktanteile ein »Standortnachteil«. Wer alternative Energiequellen nutzt, verteuert seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse und Industriegüter. Außerdem ist der »graue Block« über Luft- und Raumfahrttechnik eng mit der Rüstungsindustrie verbunden. Ihn abzuwickeln würde bedeuten, sich von ernsthaften geopolitischen Ambitionen zu verabschieden, weil diese »militärisch unterlegt« sein müssen. »Eine Transformation zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft bedeutet die Entmachtung einer der global stärksten und bestorganisierten Kapitalgruppen«, fasst Jonas Rest zusammen. »Ihre Interessen bleiben von hervorgehobener Relevanz für die staatlichen-ökonomischen Konkurrenzstrategien einige der mächtigsten Staaten.«
Eine konsequente ökologische Reform widerspricht schließlich gemeinsamen Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen. Billige Strompreise und niedrige Steuern wollen alle Unternehmen, ob grün, grau oder lila. Christian Stache spricht von dem gemeinsamen Klasseninteresse, das »despotische Verhältnis« und die »Überausbeutung der Natur« aufrecht zu erhalten: »Durch den Ausgleich der Profitrate wirkten sich politische Eingriffe für einen echten Naturschutz nicht nur negativ auf bestimmte Fraktionen oder Einzelkapitalisten aus, sondern auch auf die allgemeine Profitrate.
Wie lernfähig ist das System?
Das Anthropozän markiert nicht den Höhepunkt unserer Naturbeherrschung als »Hüter des Erdsystems«, sondern einen völligen Kontrollverlust. Die Kreisläufe des Erdsystems sind wie ein Haus, das wir bewohnen; es einzureißen ist deutlich einfacher als es zu errichten. Zerstörungskraft entspricht nicht Herrschaft. Diese Naturaneignung wird von der Akkumulation angetrieben, einem blinden, chaotischen Prozess, eine Naturbeherrschung außer Kontrolle.
Daher verhallt der Appell an die Verantwortung oder Einsicht folgenlos. Die Unternehmen können nicht aus ihrem Dilemma ausbrechen, dem »Widerspruch zwischen individueller Rationalität und gesamtgesellschaftlicher Irrationalität«: Für jedes einzelne ist überlebensnotwendig, was für alle zusammen ein Todesurteil bedeutet. Ein gleichartiges Problem besteht im Staatensystem. Statt ihr Wissen und ihre Ressourcen zu teilen, um so schnell wie möglich die THG-Konzentration zu senken, kreisen die Mächte wie Hyänen um eine sterbende Beute und nutzen jede Gelegenheit, um ihre Konkurrenten zu schwächen. Eine ökologische Reform wird erst möglich sein, nachdem massive Zerstörungen die gegenwärtigen Blockaden gesprengt haben werden. Für die Klimagerechtigkeitsbewegung bedeutet das, dass sie sich nicht darauf verlassen kann, dass ihr die Entwicklung in die Hände spielt.
Unterproduktion der planetaren Produktionsbedingungen
Wie der Elastizität der Natur sind allerdings auch der Flexibilität des Kapitals gewisse Grenzen gesetzt. Die Produktivität beruht auf ökologischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen. Sie werden den Unternehmen üblicherweise erst bewusst, wenn sie ausfallen. Der Wirtschaftswissenschaftler James Richard O‘Connor prägte für diese Situation den Begriff »Unterproduktion der Produktionsbedingungen«. Dabei dachte O‘Connor an natürliche Lebensgrundlagen wie atembare Luft oder fruchtbare Felder, aber auch an »persönliche Produktionsbedingungen« wie die seelische und geistige Gesundheit oder geeignete familiäre und öffentliche Verhältnisse, damit Arbeitskraft entsteht. Diese Produktionsbedingungen erhalten die Unternehmen in der Regel kostenfrei Mit der Zeit untergräbt das Kapital diese Grundlagen seiner eigenen Existenz. »Die kapitalistische Akkumulation hemmt oder zerstört die Voraussetzungen seiner Akkumulation und bedroht daher seine Profite und die Fähigkeit, zu produzieren und mehr Kapital zu akkumulieren.« Das Kapital sägt am Ast, auf dem es sitzt.
Die Knappheit von Produktionsbedingungen kann die Profite senken, aber dies muss nicht der Fall sein. Die Unternehmen bemerken zunächst steigende Preise. »Die Grenzen des Wachstums erscheinen, wenigstens anfangs, nicht als absolute Knappheit von Arbeitskraft, Rohstoffen, klarem Wasser und Luft und städtischem Raum und so weiter, sondern als Verteuerung von Arbeitskraft, Ressourcen, Infrastruktur und Raum.« Die Unterproduktion trifft das Kapital weiterhin in Form von Klassenkampf und politischem Konflikt. Der »zweite Widerspruch des Kapitals« (O‘Connnor) senkt also die Profite, sofern er sozialen Widerstand auslöst oder Produktionsfaktoren verteuert. Er wirkt indirekt, aber er wirkt, und er kann das System in eine tiefe Krise treiben. Die Klimakrise ist eine Unterproduktion einer globalen Produktionsbedingung. Aber auch sie trifft, von der Landwirtschaft einmal abgesehen, die Akkumulation nicht direkt. Zunächst erhöht sie lediglich den Druck auf Kapital und Arbeit und damit den gesellschaftlichen Konflikt.
Die Reproduktion der Arbeitskräfte und die Resilienz der ökologischen Systeme sind in gewissem Umfang und für einige Zeit nachgiebig und anpassungsfähig. Auch nachlassende Ökosystemleistungen können eine Weile durch steigenden Input ausgeglichen werden. Die ökologische Gesellschaftskritik hat allzu oft »die letzte Chance« bemüht und von »fünf Minuten vor 12« gesprochen. Wann die ökologische Belastbarkeit und unsere Anpassungsfähigkeit erschöpft sind, lässt sich nicht mit einer Mengenangabe oder einem Datum ausdrücken. Sie gleichen eher einem Frontgebiet als einer Mauer. Deshalb wird die kapitalistische Entwicklung nicht an eine Grenze stoßen wie ein fahrendes Auto gegen eine Hauswand prallt. Ein abrupter Zusammenbruch ist unwahrscheinlich, nicht aber ein allmählicher Abstieg, in dessen Verlauf sich die Unterproduktion der Produktionsbedingungen immer stärker fühlbar macht.
(Bei diesem Text handelt es sich um eine von uns stark gekürzte Fassung des Kapitel 4 aus dem sehr empfehlenswerten Buch von Matthias Martin Becker: Klima, Chaos, Kapital: Was über den Kapitalismus wissen sollte, wer den Planeten retten will, Köln 2021, Papyrossa Verlag, 184 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-89438-754-9. Wir danken dem Autor für die Möglichkeit, den Text drucken zu dürfen.)
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Klima. Wandel. Zukunft?, Nr. 2, Juni 2022)