GbP 2-2022 Ahls

Reaktion und Fragen...

... zum Text über den Krieg in der Ukraine – von Felix Ahls

In dieser Reaktion auf den Text »Der Krieg in der Ukraine aus Sicht der Gesundheitsfürsorge« (siehe dazu auch den Vorspann des Textes auf S. 34) von Pirous Fateh-Moghadam soll auf zwei Aspekte fokussiert werden: Erstens seine Argumentation gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und zweitens seine Forderungen zur Verhütung von Kriegen.

Angesichts der widersprüchlichen Verhältnisse, in denen wir leben, ist es nicht überraschend, dass der Text von Pirous Fateh-Moghadam Widersprüche enthält, eher unumgänglich. Ich denke jedoch, dass die Argumentation des Autors Inkonsistenzen aufweist und dass sie – konsequent zu Ende gedacht – Fragen aufwirft, die er nicht beantwortet, und dass er Widersprüche scheinbar auflöst, sich eigentlich aber darin verwickelt. Mein Anspruch ist nicht, der Positionierung des Textes eine Gegenposition gegenüberzustellen. Beim redaktionellen Lesen schien er mir qualitativ nicht geeignet, die Debatte auf stabilere Füße zu stellen. Ich kritisiere ihn aber wohl gerade, weil ich seinen Versuch richtig finde, der laufenden Debatte eine Argumentation hinzuzufügen, die über die Durchsetzung der jeweiligen staatlichen oder nationalen Interessen hinausgeht »in Richtung einer friedlicheren, dem Klimawandel gegenüber widerstandsfähigen Welt mit Gesundheit und Wohlbefinden für alle«. Ich möchte mit dieser Reaktion Fragen formulieren, die der Text bei mir aufwarf und die hoffentlich der Debatte etwas Sinnvolles hinzufügen.

Argumentation zu Waffenlieferungen

Der Autor bezeichnet die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine als »Schlüsselfrage«, die die Öffentlichkeit spalte und für deren Beantwortung es hilfreich sei, sie in Bezug auf die »gesundheitspolitischen Ziele« der »Vorbeugung oder der sofortigen Beendigung der Feindseligkeiten« zu stellen. Sein Text soll dann eine spezifische Positionierung von Gesundheitsarbeiter*innen zu dieser Frage erarbeiten.

Zum »gesundheitspolitischen Ziel« der »sofortigen Beendigung der Feindseligkeiten« äußert sich der Text dann aber nur implizit. Der Autor gibt an, dass diejenigen, »die für die Förderung der Gesundheit eintreten«, Waffenlieferungen an »den Kriegsschauplatz in der Ukraine« ablehnen müssen. Er vertritt demnach die Auffassung, dass Waffenlieferungen, egal welcher Art und egal an welche Akteure, den Krieg in der Ukraine nicht sofort (oder schneller) beenden können und stattdessen eine Eskalation herbeiführen. Damit gibt er eine militärisch-politische Einschätzung ab und macht sie zur Grundlage seiner Argumentation. Für den entgegengesetzten Fall, nämlich dass er Waffenlieferungen für ein Mittel hielte, zu einer »sofortigen Beendigung der Feindselig­keiten« beizutragen, würde dieses »gesundheitspolitische Ziel« umgekehrt auch die Basis für eine Befürwortung von Waffenlieferungen darstellen müssen. Immerhin hält er dieses Ziel für einen »nützlichen Kompass« in der Debatte und möchte sich daran orientieren.

Viele Menschen versuchen, sich anhand militärisch-politischer Überlegungen in der Frage staatlichen Handelns und zivilgesellschaftlicher Forderungen in Bezug auf den Krieg in der Ukraine zu orientieren. Ich finde es unbefriedigend, dass der Autor nicht erklärt, wie er zu seiner militärisch-politischen Einschätzung der aktuellen Kriegssituation kommt, obwohl diese Einschätzung entscheidend für seine Argumentation ist. Zudem frage ich mich, ob militärisch-politische Spekulationen (denn das sind solche Einschätzungen wohl meistens, gerade wenn sie von Menschen kommen, die nicht über besondere Expertise in diesem Bereich verfügen) für Gesundheitsarbeiter*innen eine geeignete Grundlage für eine Positionierung darstellen. Es ist jedenfalls eine der Schwächen des Textes, die zur Unklarheit beitragen, dass er diese Einschätzung der militärischen Situation nicht explizit als die Grundlage seiner Argumentation benennt, obwohl sie es ­offenbar ist. Von anderen gesundheitspolitischen oder gar allgemeinpolitischen Fragestellungen abstrahiert er im Übrigen, als ob diese kein Gewicht bei einer Positionierung hätten. Würden wir den Kompass vom Beenden/Vermeiden von Kriegen zu Gesundheitsfürsorge im Allgemeinen erweitern, könnten wir beispielsweise die Frage stellen, ob die Folgen einer Kapitulation und Besatzung der Ukraine durch Russland mehr Gesundheitsschaden anrichten würden als ein jahrelanger Krieg. Mir ist bewusst, dass es hier auf ein Prognostizieren, Messen und Vergleichen von Leid hinausläuft, wenn ich über das vom Autor gesetzte Ziel der Vermeidung von Krieg hinausgehe. Und nur um das Ausmaß von möglicherweise auftretenden Folgen bestimmter Handlungen anzudeuten, stelle ich hier diese Fragen: Könnte ein Fortführen oder eine Eskalation des Krieges in der Ukraine zu einem Ende des Putin-Regimes führen und damit vielleicht zum Ende oder zur Prävention anderer Kriege beitragen? Würde es im Gegenteil zu noch mehr Kriegen führen? Dies sind nur zwei von vielen Fragen, und nur in Bezug auf Krieg, weil der Bezugspunkt der Argumentation des Autors die Prävention und Beendigung von Kriegen ist.

Der Autor verstrickt sich außerdem in Widersprüche, die möglicherweise auch nur durch die Unklarheiten des Textes als solche erscheinen. Er beschreibt einen Widerspruch zwischen dem aus seiner Sicht legitimen Ersuchen um Waffen, durch »diejenigen, die einen bewaffneten Kampf führen, um sich gegen eine Aggression zu verteidigen«, auf der einen Seite und auf der anderen Seite der aus seiner Sicht ebenfalls legitimen Ablehnung dieser Bitten mit der Begründung, dass damit eine Eskalation des Krieges verhindert würde, auf Grundlage des medizinischen Grundsatzes des »Nicht-Schadens«.

Das Ersuchen um Waffen sei »politisch diskutabel« und »legitim«, stehe aber im Widerspruch zu den Aufgaben der Gesundheitsfürsorge und müsse deswegen abgelehnt werden. Zumindest von jenen, die für die Förderung der Gesundheit eintreten.

Nach meinem Verständnis stehen sich hier also zwei »legitime« (ich verstehe das im Sinne von »richtige«), sich aber gegenseitig ausschließende Positionen gegenüber: das Ersuchen um Waffen (das überhaupt nur Sinn ergibt, wenn dem auch entsprochen werden kann, in Form von Waffenlieferungen) und die Ablehnung von Waffenlieferungen.

Der Autor erklärt uns nicht explizit, wie das möglich ist. Seine Art der Argumentation impliziert allerdings, dass es durch die unterschiedlichen Ziele der jeweiligen Akteure möglich wird, was auch andere Maßstäbe zur Bewertung von Legitimität bedingt. Um vorweg zu greifen: Ich denke, das ist weder logisch noch hilfreich.

Diejenigen, »die für die Förderung der Gesundheit eintreten«, müssen aus seiner Sicht gegen Waffenlieferungen sein. Über Akteure, die für andere Ziele als die Gesundheitsförderung eintreten, äußert er sich nicht. Aus seiner Einschätzung, dass Waffenlieferungen »politisch diskutabel« seien, lässt sich aber ableiten, dass es Akteure mit anderen Zielen als der Gesundheitsförderung (bswp. die Vernichtung von Menschen, die Auf­rechterhaltung kapitalistischer Herrschaft, die Verteidigung gegen eine angreifende Armee oder auch etwas völlig Anderes) gibt, die Waffenlieferungen zustimmen könnten. Es wäre nämlich skurril, anzunehmen, dass er sagen möchte, dass zwar »politisch diskutiert« werden könne, aber als Ergebnis nur eine Ablehnung des Ersuchens um Waffen herauskommen kann. Implizit vertritt der Autor damit die Auffassung, dass im »Politischen« andere Maßstäbe gelten, als in der »Gesundheitsfürsorge«. Damit entfällt aus meiner Sicht aber die Grundlage, um Handlungen als legitim oder illegitim zu bewerten, wenn nicht überall die gleichen Maßstäbe angelegt werden, sondern es von den Akteuren bzw. ihren Zielen abhängt, was als legitim zu betrachten ist. Wäre zum Beispiel die Eroberung der Ukraine als legitim zu bewerten, wenn man als Ziel den Machterhalt des Putin-Regimes annimmt?

Es ergibt sich aber auch ein weiterer wichtiger Widerspruch aus dieser Art der Argumentation: Da diejenigen, »die sich für Gesundheitsfürsorge einsetzen«, nicht dieselben sind, die die Waffen liefern würden, sondern die jeweiligen Regierungen, müsste an diese Regierungen die Forderung gestellt werden, keine Waffen zu liefern. Diese Regierungen können das dann »politisch diskutieren« und sich für oder gegen Waffenlieferungen entscheiden. Und wenn sie nicht als Ziel die Gesundheitsfürsorge haben, kann die Lieferung legitim sein, da ja auch das Ersuchen um Waffen legitim ist. Die einen dürfen tun, was die anderen ablehnen müssen. Aufgrund ihrer verschiedenen Ziele, befinden sie sich in anderen ethischen Dimensionen, gelten andere Maßstäbe. Der Autor möchte möglicherweise etwas Anderes sagen, aus seiner Art der Argumentation ergibt sich aber genau dieser Schluss, der universellen ethischen Maßstäben widerspricht.

Es erscheint mir zudem inkonsequent, einerseits einen bewaffneten Kampf gegen einen Aggressor als legitim zu bezeichnen, andererseits aber die dafür notwendigen Waffenlieferungen abzulehnen. Diese Position wäre nur sinnvoll, wenn der Autor annimmt, dass sich die Ukraine oder deren Bevölkerung auch ohne weitere Waffenlieferungen wirksam verteidigen könnte oder dass es gar nicht um militärische Stärke geht, sondern andere Wege existieren, eine Besatzung (von Teilen) der Ukraine und die damit einhergehenden Verbrechen zu verhindern. Die Ansichten des Autors bleiben dazu jedoch im Unklaren.

Sollte er diese beiden Annahmen nicht vertreten, bleibt eine widersprüchliche Positionierung des Autors: Verteidigung ist richtig, die Waffen dafür zu liefern, ist falsch. Das impliziert: Wenn die Ukraine durch den russischen Staat und seine Armee eingenommen wird, ist das zu akzeptieren. Das stünde aber wiederum im Widerspruch zu vorherigen Aussagen. Er positioniert sich zu Beginn gegen die »ultrareaktionäre, imperialistische« und »niederträchtige« Politik der Regierung Russlands und solidarisiert sich mit dem angegriffenen Land Ukraine und dessen Bevölkerung und dem Teil der Bevölkerung Russlands, der sich dem Krieg widersetzt. Wenn am Ende eine Ausweitung des Herrschafts­bereichs der von ihm abgelehnten russischen Regierung und die zu erwartende (weil angekündigte) Unterdrückung der ukrainischen Bevölkerung steht, könnte die Handlungsempfehlung des Autors seine eigenen Ziele weit verfehlen. Immerhin würde die kriegerische, imperialistische Politik der russischen Regierung weiterhin erfolgreich sein, was eher für die Ausweitung von Kriegen spricht als für deren Prävention.

Die auch in dem hier vorgelegten Text etwas verwirrende Darstellung schätze ich als Folge der Unklarheit und Widersprüchlichkeit des besprochenen Artikels und der Komplexität des besprochenen Themas ein.

Prävention von Kriegen

Der Autor plädiert für »Widerstand und Prävention« als die »einzig mögliche Haltung« gegenüber »modernen bewaffneten Konflikten«. Zur Prävention von Kriegen auf die von ihm vorgeschlagenen Ziele zu setzen, erscheint erst einmal sinnvoll: Reduzierung oder Abschaffung der Militärausgaben, das Verbot von Atomwaffen und des Waffenhandels. Sollten diese Ziele erreicht werden, wären Kriege wohl weniger verheerend, die Kriegsindustrie würde schrumpfen und vielleicht würden sogar weniger Kriege geführt werden. Dass das auch für den Fall gilt, dass diese Ziele nicht global umgesetzt werden, halte ich jedoch für zweifelhaft. Die Kriegsindustrie würde vermutlich für einige Zeit schrumpfen, wenn bspw. die Bundesrepublik Deutschland oder die Staaten der EU den Waffenhandel verbieten oder ihre Militärausgaben verringern würden. Ob das allerdings dauerhaft der Fall wäre, ist nicht abzusehen, schließlich existieren viele mit den europäischen Konzernen konkurrierende Rüstungskonzerne, die bereit stünden, diese Lücke zu schließen und die europäischen Konzerne würden versuchen, ihre Produktion und den Handel in andere Regionen zu verlagern. Selbstverständlich ist trotzdem für ein Verbot von Waffenexporten und für eine Senkung der Militärausgaben einzutreten. Es soll hier nur versucht werden, einen nüchternen Blick auf die Realität zu werfen. So könnte es gelingen, konkrete kurz-, mittel- und langfristige taktische und strategische Ziele auszumachen.

Der Autor benennt mit ein paar wenigen Worten die Notwendigkeit, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu verändern, um Kriege zu verhindern. Er bezeichnet es als Utopie (im Sinne von einer Unmöglichkeit, einem Wunschtraum), diese Prävention ohne eine solche Veränderung erreichen zu können. Dafür, dass es der zentrale Punkt in der Prävention von Krieg sei, äußert er sich leider erstaunlich oberflächlich. Das scheint auch nicht die »mutige Kritik an dem unheilvollen ideologisch-politischen Kontext« zu sein, die er vorher zitiert.

Eine solche soll hier auch nicht versucht, aber zumindest Grundzüge genannt werden. Diese »wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen« beinhalten die Grundlagen der kapitalistischen Gegenwart: Konkurrenz auf dem Weltmarkt, die den spezifisch kapitalistischen Zwang, maximalen Profit verwirklichen zu müssen, global verallgemeinert, also zu einem allgemeinen Imperativ macht. Es besteht die notwendige Unterordnung staatlichen Handelns unter diese Bedingungen, die Ausrichtung auf die Sicherstellung einer funktionierenden kapitalistischen Wirtschaft. Diese Unterordnung zeigt sich zunehmend offen in der Unfähigkeit, tatsächlich wirksames Handeln gegen die weitere Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen anzugehen. Ebenso in der Missachtung der proklamierten Menschenrechte, weil sie dem Abbau von Ressourcen, der Erweiterung des Marktes oder anderen Folgen der kapitalistischen Logik im Wege stehen. Und diese Dynamik geschieht auf der Basis des Kolonialismus und Neokolonialismus, der die für unsere Zeit typische Hierarchisierung der Staaten und Regionen zum Resultat hat. Kriege der kapitalistischen Vergangenheit und Gegenwart resultieren, wie auch andere Formen der Gewalt, aus diesem Wettstreit um Ressourcen, Arbeits­vermögen und Absatzmärkte. Nationalismus und Militarismus sind Folgen dieser Konkurrenz und eines zu schwachen Widerstands sowie der fehlenden Durchsetzungskraft einer globalen, emanzipatorischen Alternative.

Dass der Text allerdings nichts auch nur ansatzweise von dieser Realität oder dem Weg daraus beschreibt, obwohl es laut eigener Aussage der entscheidende Punkt in der Prävention von Kriegen ist, stellt die größte Schwäche des Textes dar. Und das gilt aus meiner Sicht auch für viele Teile der Debatte jenseits des besprochenen Textes.

Felix Ahls ist Arzt, Ko-Vorsitzender des vdää* und Redaktionsmitglied der GbP.

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Klima. Wandel. Zukunft?, Nr. 2, Juni 2022)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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