GbP 1-2022 Jung

Von Geburt an...

Tina Jung über Auswirkungen der Ökonomisierung auf die Geburtshilfe

Im Folgenden dokumentieren wir eine von uns stark gekürzte Fassung eines Aufsatzes von Tina Jung aus der soeben erschienenen Publikation der Rosa Luxemburg Stiftung von Julia Dück und Julia Garscha: »Aus Sorge kämpfen. Von Krankenhausstreiks, Sicherheit von Patient*innen und guter Geburt«1. Tina Jung diskutiert die Auswirkungen der Ökonomisierung auf die Geburtshilfe anhand von Veränderungen in der klinischen Versorgungsstruktur, in den Arbeitsbedingungen im Kreißsaal und in den geburtshilflichen Interventionspraktiken. Wir danken der RLS für die Möglichkeit der Veröffentlichung.

Der Prozess der Ökonomisierung des Gesundheitswesens findet nicht allein auf der Ebene des Wandels der Finanzierungsstruktur des Krankenhaussektors statt, sondern im Weiteren auch auf einer gesellschaftlich-politischen Ebene z.B. in Form eines Wandels der politisch-gesetzlichen Regulierung des institutionellen Arrangements (z.B. Änderungen in der Finanzierung wie die Einführung des Fallpauschalensystems, Verschiebungen im Machtgefüge der Akteure wie etwa der Krankenkassen etc.). Auf der organisationalen Ebene zeigt sich die Ökonomisierung z.B. in Form der Einführung von New Public Management-Strategien, Ausbau des Controllings und Case-Management; und sie zeigt sich auf der Ebene der Anerkennungsordnungen, insoweit mit der Konstruktion und Gewichtung der Fallpauschalen zugleich eine Bewertung einhergeht, was als finanzierungswürdige Leistung anerkannt wird. Dies führt in der stationären Versorgung zu einer »Umstrukturierung von Wertigkeiten anerkennungsrelevanter Ressourcen« (Mohan 2019, 288): Da sich die Fallgruppen nach medizinischen und ökonomischen Kriterien definieren, bleiben diejenigen Aspekte gesundheitsorientierten, fürsorglichen Handelns unsichtbar und in Relation abgewertet, die auf Zeit und Zuwendung gegenüber dem konkreten Anderen (hier vor allem der Gebärenden) beruhen und als solche nicht adäquat dokumentations- und abrechnungsfähig sind. Diese Prozesse wirken sich wiederum aus auf Leistungsorientierungen, Arbeitsinhalte und Berufsethos der Krankenhaus-Beschäftigten (z.B. in Form der Anpassung von professionellem Handeln auf Kriterien der Abrechenbarkeit) einerseits (vgl. u.a. Braun et al. 2010); sowie auf das (Selbst-)Verständnis von Patien­t*innen als Kund*innen (z.B. in Form der Wahrnehmung von individuellen Leistungsansprüchen als Wahlfreiheit und als persönliches Recht) andererseits.

Auswirkungen der Ökonomisierung des Gesundheitssystems auf die Geburtshilfe

Aktuell findet in Form u.a. der Privatisierung von Kliniken und der Schließung von wohnortnahen Kreißsälen der Grund- und Regelversorgung ein Umbau der ge­burts­hilflichen Infrastruktur im Sinne einer Zentrali­sierung auf überregionale, hochtechnisierte Perinatalzentren statt. Die verbleibenden Kreißsäle arbeiten vielerorts unter Bedingungen von Überlastung, Personalmangel und wirtschaftlichem Druck; viele Kreißsäle sehen sich zu vor­übergehenden Schließungen gezwungen.

Geburtshilfe rechnet sich innerhalb des DRG-Systems aufgrund der Vorhaltekosten für viele Kliniken nicht bzw. es lassen sich keine Gewinne erwirtschaften; dies gilt insbesondere für Geburtskliniken mit niedrigen bis mittleren Geburtenzahlen. So hat seit der Einführung des Fallpauschalensystems in der Geburtshilfe rund ein Drittel aller Kreißsäle dauerhaft seine Türen geschlossen (von 952 Krankenhäusern mit Geburtshilfeabteilung im Jahr 2004 auf 639 im Jahr 2019). Neben dauerhaften Kreißsaalschließungen werden Kreißsäle an manchen Standorten auch vorübergehend geschlossen.

  

Wie an den Abbildungen zu sehen ist, sind von den Schließungen überwiegend Geburtskliniken mit niedrigen und mittleren Geburtenzahlen betroffen; dies betrifft vor allem die wohnortnahen Geburtshilfeabteilungen der Grund- und Regelversorgung. Der Anteil der Kliniken mit 800 und mehr Geburten am Geburtengeschehen insgesamt steigt; dabei handelt es sich meist um überregionale Perinatalzen­tren mit Maximalversorgung.

Trotz des kontinuierlichen Rückgangs an geburtshilflichen Fachabteilungen (von 548 im Jahr 2004 auf 355 im Jahr 2017, vgl. Destatis, Grunddaten der Krankenhäuser) hat zugleich eine Steigerung der fachabteilungsbezogenen Fallzahlen (von 518.077 im Jahr 2004 auf 530.631 im Jahr 2017, vgl. Destatis, Grunddaten der Krankenhäuser) stattgefunden hat – bei gleichzeitiger Verkürzung der Verweildauer der einzelnen Schwangeren in der geburtshilflichen Fachabteilung von durchschnittlich 5,0 Tagen auf durchschnittlich 3,7 Tagen im Jahr 2017.

Das ist in verschiedener Hinsicht folgenreich für Schwangere, Hebammen und Ärzt*innen im Kreißsaal: Mit den (noch anhaltenden) Kreißsaalschließungen wird zunehmend die wohnortnahe Versorgung mit Geburtshilfe eingeschränkt; dies bedeutet längere Fahrtzeiten einschließlich des Umstands, dass für Schwangere in manchen Regionen der Geburtsort vorrangig nach dem Kriterium »nächstgelegen«, nicht nach Größe, Ausstattung des Kreißsaals bzw. Philosophie der Klinik ›wählbar‹ wird.2

Die noch verbleibenden Kreißsäle müssen die Geburten der geschlossenen Geburtskliniken auffangen und mehr Gebärende in weniger Zeit ›durchschleusen‹. Hebammen und Ärzt*innen arbeiten dabei unter sich verschärfenden Bedingungen von Arbeitsbelastung, Zeitdruck, Personal- und Ressourcenmangel. Mehr als die Hälfte der im Kreißsaal tätigen Hebammen betreut häufig drei oder mehr Frauen parallel. Dazu kommen Arbeitsüberlastung und -verdichtungen, z.B. durch die gestiegenen Anforderungen an Dokumentation und Reinigungsarbeiten (z.B. der Kreißsäle), die ebenfalls häufig durch geburtshilfliches Personal übernommen werden (müssen). In der HebAB.NRW-Studie (2019) gaben über 40,0% der im klinischen Setting tätigen Hebammen an, mindestens einmal pro Woche gebeten worden zu sein, Überstunden zu machen oder einzuspringen. Knapp 80% der Kreißsäle können offene Stellen nicht problemlos nachbesetzen, es fehlen sowohl Hebammen als auch Mediziner*innen (vgl. IGES 2019). Als Gründe für den Personalmangel in Kreißsälen werden an verschiedenen Stellen die Arbeitsbedingungen genannt, die Geburtshelfer*innen nicht mehr in Kauf nehmen wollen; es werden aber auch die unter gegebenen Bedingungen eingeschränkte oder gar nicht vorhandene Möglichkeit, Gebärende so zu begleiten, wie es dem professionellen Ausbildungs- und Arbeitsethos entspricht, genannt, sowie respektloses und gewaltförmiges Verhalten Gebärenden gegenüber.

Die skizzierten Entwicklungen haben insgesamt Auswirkungen auf die Gewährleistung der Achtung der Würde und Selbstbestimmung der Gebärenden (und ihren Neugeborenen und Begleitpersonen) ebenso wie auf die bestmögliche Gewährleistung von deren physischer und psychischer ­Gesundheit: 43,1% der in NRW 2018 befragten Hebammen gaben an, im vorangegangenen Monat eine Gefahrenanzeige geschrieben zu haben; knapp 60% der Hebammen gaben an, im vergangenen Monat mindestens einmal in einer Situation im Kreißsaal gewesen zu sein, in der eine Gefahrenanzeige hätte geschrieben werden können (vgl. HebAb.NRW 2019, 183). Eine Gefahrenanzeige soll geschrieben werden, wenn im Kreißsaal eine Situation auftritt, in der unmittelbare erhebliche Gefahr für Mutter und Kind möglich ist.

Zudem mehren sich Berichte, dass Schwangere von Kreißsälen abgewiesen werden. Laut der HebAb.NRW-Studie (2019) konnten von den befragten Müttern, 13% nicht an ihrem Wunschort gebären, wobei 8,7% nach Geburtsbeginn von der Wunschklinik abgewiesen worden sind. Denkbar seien für eine Abweisung von Gebärenden »medizinische Risiken, die erst nach Geburtsbeginn bei geplanter Aufnahme in die Klinik evident wurden. Denkbar ist aber auch ein plötzlich auftretendes hohes Geburtenaufkommen, dass durch die passagere Schließung einer oder mehrerer Kliniken im Umfeld, verursacht oder potenziert wurde.« (HebAb.NRW 2019, 195).

Mit der Einführung des DRG-Systems werden überdies monetäre Anreize für Interventionen gesetzt (vgl. u.a. Otto/Wagner 2013). Insgesamt wird finanziell belohnt, wenn eine Klinik in die Geburt eingreift. Deutlich wird das am Beispiel Kaiserschnitt: Eine sekundäre Sectio wird fast doppelt so hoch vergütet wie eine vaginale Geburt ohne Komplikationen. Seit 1991 ist die Kaiserschnittrate auf über das Doppelte gestiegen (im Jahr 2019 lag sie bei 29,6%, vgl. Destatis 2021), wobei hier erhebliche regionale Unterschiede zu verzeichnen sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht eine Kaiserschnittrate von lediglich 10 bis 15 % als medizinisch indiziert an. Eine Rate über 15 % hingegen spricht dafür, dass zu oft und unnötig in den Geburtsverlauf eingegriffen wird und damit Aspekte der Frauen- und Neugeborenengesundheit von anderen Faktoren überlagert werden.

Neben finanziellen Anreizen spielen auch die Art der Klinikorganisation, das unterschiedliche ärztliche Vorgehen bei Entscheidungsspielräumen und die starke Orientierung an Planbarkeit, Kalkulierbarkeit und Haftungsrecht (vgl. Jung 2017). In vielen Kliniken wird eine defensive Geburtsmedizin verfolgt: Aus Angst vor Regress- und Haftpflichtanforderungen weichen Ärzt*innen der Nicht-Planbarkeit einer natürlichen Geburt im Sinne einer möglichst umfassenden Kontrollierbarkeit des Geburtsvorgangs aus.

Zudem legt die in vielen Kreißsälen herrschende Situation aus Personalmangel, Arbeitsüberlastung und Zeitdruck den Einsatz von mehr Technik als Ersatz für personale Zuwendung und zur Beschleunigung des Geburtsverlaufs nahe. Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems kann in der Geburtshilfe so auch indirekt zu einer Intensivierung von Interventionen, zu Vernachlässigung der Gebärenden und zu mangelnder empathischer Begleitung durch Geburtshelfer*innen beitragen. In einem Gutachten im Auftrag des Bundesgesundheitsministerium (BMG) zur stationären Hebammenversorgung gaben in der »Mütterbefragung« nur 37% Befragten an, bei der Geburt die ganze Zeit von einer Hebamme begleitet worden zu sein; 16% gaben an, nur »punktuell« betreut worden zu sein und jede vierte war der Ansicht, dass die Hebamme(n) nicht genügend Zeit für die Betreuung hatten (vgl. IGES 2019).

Geburt und Gebären erfahren so im ökonomisierten Kliniksystem eine doppelte Abwertung körperlich-beziehungsorientierter Aspekte, die mit alten und neuen Konzepten der Hebammenarbeit verbunden sind und sich u.a. evidenz­basiert im Konzept der »Frauzentrierung«3 sowie der »achtsamen Wachsamkeit« wiederfinden (vgl u.a. WHO 2018, BMG 2017, Jonge/Dahlen/Downe 2021). Dem unterliegt die Grundannahme, dass ›sich Zeit nehmen‹ und das empathische Mitsein einer Hebamme bei der Gebärenden (»being with the individual woman«) in einer auf Gleichberechtigung und Vertrauen basierenden Beziehung von entscheidender Relevanz für sichere und positiv erlebte Geburten ist; zugleich ist damit die Anerkennung dessen verbunden, dass jede Geburt einer eigensinnigen Zeitlichkeit folgt. Diese so zentralen Aspekte für gute Geburtshilfearbeit lassen sich jedoch nicht adä­quat in Fallpauschalen abbilden; stattdessen, so die Kritik, ist die Praxis vieler Hebammen von einem »bürokratischen Imperativ« geprägt, der in der Disziplinierung der Gebärenden in institutionelle, auf statistischen Durchschnittwerten fußenden Normen und Kontrolle, der Unterordnung unter verkürzende Zeitregime und in Interventionen (»doing things to her«) besteht (vgl. Jonge/Dahlen/Downe 2021). Genau diese Aspekte sind es hingegen, die in der Geburtshilfe für Kliniken in der Regel mit Dokumentations- und Abrechnungsfähigkeit sowie mit höheren Erlösen einhergehen – und somit eine höhere Anerkennung und Sichtbarkeit erfahren.

Tina Jung ist derzeit Marianne-Schminder-Gastprofessorin am Institut für Gesellschaftswissenschaften der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Magdeburg. Sie arbeitet zu Gewalt gegen Frauen* und Gewalt in der Geburtshilfe, Gesundheit, Care, kritischen und feministischen Gesellschaftstheorien.

Den ungekürzten Text und die Literaturliste bekommen Sie hier

Anmerkungen

1 Man kann das ganze Buch hier downloaden: Julia Dück / Julia Garscha (Hg.): »Aus Sorge kämpfen. Von Krankenhausstreiks, Sicherheit von Patient*innen und guter Geburt«, luxemburg beiträge Nr. 9, März 2022;  - siehe Anzeige unten

2 Manche Schwangeren hingegen wünschen sich kleinere, familiärer scheinende Geburtskliniken statt hochtechnisierte ›Großbetriebe‹, haben bereits mit einem Kreißsaal schlechte Erfahrungen gemacht und/oder möchten aus anderen Gründen ausweichen.

3 Im Folgenden verwende ich selbst davon abweichend »gebärendenzentriert« statt »frauzentriert«, um Trans Gebärende einzuschließen. Aus dem gleichen Grund verwende ich den Terminus »Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen«, wenn von Gewalt in der Geburtshilfe gesprochen wird.

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Kinder und Jugendliche - Vulnerabel in Gesundheitswesen und Gesellschaft, Nr. 1, März 2022)


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