GbP 1-2022 Borzim

Die Pandemie als Brennglas… 

… auf chronische Missstände in der Kinder- und Jugendpsychiatrie – von Carina Borzim

Mit der Corona-Pandemie ist auch die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wieder vermehrt ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Es gab während der ersten Lockdowns viele Warnungen bezüglich möglicher psychischer Folgen der sozialen Isolation und tatsächlich ist der Bedarf in den Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie aktuell groß.

Die Anzahl psychiatrischer Diagnosen und Behandlungen hat in den letzten Jahren ohnehin stetig zugenommen, seit Beginn der Pandemie hat sie allerdings noch einen zusätzlichen Schub erhalten. Besonders im Bereich der depressiven und ängstlichen Symptomatik ist ein Anstieg zu beobachten. Laut einer unveröffentlichten Studie aus Essen ist auch die Anzahl der Suizidversuche bei Kindern und Jugendlichen deutlich gestiegen. (1) Die Hochrechnungen, die für die Studie gemacht wurden, werden zwar von den Wissenschaftler*innen selbst in Frage gestellt, dennoch lasse sich ein Trend erkennen.  

Der ganz normale Wahnsinn

Anfang 2021 gab es in der Presse einen Aufschrei: In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werde triagiert und dringend behandlungsbedürftige Kinder und Jugendliche würden weggeschickt. Das dabei angeprangerte System der Priorisierung von Behandlungsbedürftigkeit gibt es jedoch nicht erst seit der Pandemie. Auch vorher wurden die Wartelisten für geplante stationäre Behandlungen immer länger. Anders sieht es für akut behandlungsbedürftige Kinder aus. Da es wie in der Erwachsenenpsychiatrie auch in den Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie Versorgungsaufträge zu erfüllen gilt, erhalten diese Kinder und Jugendlichen sofort die notwendige Akutbehandlung, ganz unabhängig davon, ob noch ein Bett auf der Station frei ist, oder extra eines dazu gestellt werden muss. In den Phasen, in denen mehr Betten belegt als eigentlich geplant sind, ist die fachgerechte Versorgung durch den Pflege- und Erziehungsdienst teilweise nur eingeschränkt zu leisten. Immer wieder kommt es auch zu Akutvorstellungen, in denen sich aus fachlicher Sicht der Aufnahmewunsch der Familien und Patient*innen nicht mit der klinischen Indikation zur Aufnahme deckt.

Wer nicht an einer akuten psychischen Störung leidet, muss aber oft lange warten, um eine elektive stationäre oder ambulante Behandlung zu erhalten. An vielen Orten mangelt es an Behandlungsmöglichkeiten, welche die Lücke zwischen stationärem und ambulantem Sektor schließen. Das können z.B. Tageskliniken, spezifische Gruppentherapieangebote oder stationsäquivalente Behandlungen sein. Die langen Wartelisten, teilweise aber auch der Belegungsdruck der Kliniken, können für einen holprigen Start in die Therapie sorgen. Nach der Zeit des Wartens kommen die Angebote der stationären Aufnahme dann für einige Patient*innen sehr plötzlich.

Neben der Nachfrage nach Therapie haben zumindest in Berlin auch die angeordneten Fixierungen in psychiatrischen Kliniken allgemein zugenommen. (2) Dabei wäre es zu kurz gegriffen, dieses Phänomen auf die zunehmende Belastung des psychiatrischen Versorgungssystems durch die Corona-Pandemie zu schieben. Wenn Zwangsmaßnahmen zunehmen, liegt das auch an der Personalnot der Kliniken, sowie daran, dass das vorhandene Personal zum Teil nicht ausreichend ausgebildet ist, um Zwangsmaßnahmen verhindern zu können. In einer Umfrage, welche die Gewerkschaft ver.di 2019 anlässlich der anstehenden Einführung der PPP-RL (Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie) durchführte, waren 60% der befragten Psychiatriebeschäftigten der Meinung, dass ein Großteil aller Zwangsmaßnahmen mit mehr Personal vermeidbar gewesen wäre. (3)

Mit der PPP-RL, welche die Psych-PV (Psychiatrie-Personalverordnung) Anfang 2020 abgelöst hat, gibt es nun eine durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) geregelte Personalmindestvorgabe in psychiatrischen Kliniken, in der die Kinder- und Jugendpsychiatrie gesondert betrachtet wird. (4) Die Richtlinie befindet sich aktuell noch in der schrittweisen Einführung. Zunächst mussten die Kliniken 85% des geforderten Personals vorhalten, aktuell sind es 90% und ab dem 01.01.2024 werden es 100% sein. Kliniken, die sich nicht daran halten, droht ab 2023 ein Vergütungswegfall. Wohlgemerkt handelt es sich bei der PPP-RL um eine Personalmindestvorgabe, also eine Personaluntergrenze. Auch auf der Homepage des G-BA ist zu lesen, dass die mit dieser Richtlinie festgelegten verbindlichen Mindestvorgaben kein Anhalt zur Personalbemessung darstellen und Einrichtungen zur Sicherstellung einer leitliniengerechten Behandlung darüber hinaus mehr Personal vorhalten können. Nicht mit einberechnet seien demnach zum Beispiel Ausfallzeiten aufgrund von Fortbildungen. Auch Ausfälle aufgrund von Krankheit sind nicht gut abgebildet. Dabei ist bei Psychiatriebeschäftigten im Vergleich zu anderen Fachbereichen das Risiko einer Gefährdung der eigenen psychischen Gesundheit besonders hoch. Über die Konsequenzen des geplanten Vergütungswegfalls ab 2023 für Kliniken, welche die PPP-RL nicht erfüllen, kann aktuell nur spekuliert werden. Die personelle Situation wird sich dadurch an diesen Kliniken sicher nicht verbessern, das Budget hingegen eher noch knapper werden. Ähnlich wie auch bezüglich der Diskussion einer Einführung von Personaluntergrenzen in der Somatik, ist zu befürchten, dass Kliniken, welche zuvor mehr als 100% der Richtlinie erfüllten, nun einen Anreiz haben, Personal und damit dessen Kosten einzusparen.

Die Qualität lässt nach

Ist das Personal knapp, so kommt es nicht nur zu mehr Zwangsmaßnahmen, sondern die Qualität der Behandlung lässt auch in anderer Hinsicht deutlich nach. In erster Konsequenz können Kinder und Jugendliche mit engem Betreuungsbedarf seltener die Station verlassen, Freizeitangebote werden auf ein Minimum an Aufwand reduziert und Ausflüge, die dem (Wieder-)Erlernen und Stärken sozialer Kompetenzen dienen, fallen häufiger weg. Zudem ist das Personal gestresst, weil es den äußeren und den eigenen Anforderungen kaum noch gerecht werden kann. Es beginnt ein Teufelskreis: Die Langeweile und damit auch die Anspannung und die Aggressivität der Patient*innen nehmen zu, die Behandlung zieht sich in die Länge und auch die Unzufriedenheit und die gefühlte Belastung des Personals wachsen. Um diese Abwärtsspirale zu durchbrechen, braucht es mehr Personal als es in der PPP-RL vorgeschrieben wird, und dieses Personal muss gut ausgebildet werden, was sich in der momentan angespannten Situation nur schwer ermöglichen lässt. Statt einer guten Einarbeitung erfolgt an vielen Stellen eher ein Wurf ins kalte Wasser der Akutpsychiatrie. Die Beschäftigten sind schnell unzufrieden und erschöpft und es kommt zu einer hohen Fluktuation des Personals.

Und dann noch Corona, die Klimakrise und der Krieg in der Ukraine

Wie in vielen anderen Bereichen zeigen sich die Auswirkungen der Pandemie auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wie ein Brennglas, welches die bereits zuvor bestehende mangelnde materielle und personelle Ausstattung und hohe Belastung noch einmal deutlicher macht. Um Akutstationen zu entlasten, helfen an vielen Kliniken die Therapiestationen aus und nehmen ungeplant Patient*innen auf, die einen deutlich höheren Betreuungsaufwand haben. Auch dadurch fallen andere Angebote weg, die Qualität der Behandlung wird gefährdet und die Unzufriedenheit der Beschäftigten nimmt zu. Gleichzeitig ist es an vielen Orten schwieriger geworden, im Rahmen der Entlassung aus der stationären Behandlung oder als Ergänzung zur ambulanten Behandlung freie Plätze in geeigneten Maßnahmen der Jugendhilfe zu finden, da auch dort der Bedarf deutlich zugenommen hat. In einigen Fällen kann dies wiederum die stationäre Behandlung unnötig verlängern.

Die Corona-Pandemie ist hier nur beispielhaft als einer von vielen Belastungsfaktoren der jungen Generation zu verstehen. Auch die Klimakrise nimmt vielen Jugendlichen ihre Zukunftsperspektive und den Lebensmut. (5) Welche Auswirkungen der Krieg in der Ukraine haben wird, wird sich erst in den nächsten Wochen und Monaten zeigen.

Die aktuelle Situation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein Kraftakt im Spannungsfeld zwischen der Hilfe, die mit den aktuellen Mitteln geleistet werden kann, und dem ständigen Druck immer länger werdender Wartelisten im Hintergrund. Das belastet sowohl die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, wie auch die Beschäftigten, die ihre Arbeit nicht so machen können, wie sie wollen und wie sie es gelernt haben. Es braucht eine Personalbemessung, die sich an den tatsächlichen Bedarfen einer leitliniengerechten Behandlung orientiert, statt lediglich festgelegter Untergrenzen. Mit geplant werden muss außerdem genügend Zeit für die Einarbeitung, Aus- und Weiterbildung des Personals, damit die Beschäftigten auch langfristig eine gute Versorgung der Patient*innen mit möglichst wenig Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen gewährleisten können.

Carina Borzim ist Ärztin und Co-Vorsitzende des vdää*, sie arbeitet in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ein Interessenskonflikt besteht nicht.

Quellen

  1. https://www.youtube.com/watch?v=F8TzRtlCizU
  2. https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2021/01/berlin-psychiatrie-fixierung-zwangsmassnahmen-corona-pandemie.html
  3. https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Zwang-in-Psychiatrie-Oft-fehlt-es-an-Personal-348764.html
  4. https://www.g-ba.de/richtlinien/113/
  5. https://www.thelancet.com/journals/lanplh/article/PIIS2542-5196(21)00278-3/fulltext

(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Kinder und Jugendliche - Vulnerabel in Gesundheitswesen und Gesellschaft, Nr. 1, März 2022)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

zur Webseite

Finde uns auf