Mit dem Angriff auf die Ukraine ist der Krieg plötzlich so nahe gekommen. Täglich sehen wir im Fernsehen die grauenhaften Folgen und das unsägliche Leid. Viele von uns haben persönliche Kontakte in die Ukraine. Die Kriegsangst hat sich wieder tief in unserer Gesellschaft eingegraben. Dies erfahren wir auch bei unserer täglichen ärztlichen Arbeit. Geflüchtete berichten ganz unvermittelt von den Schrecken des Krieges, vor dem sie vor Jahrzehnten geflohen sind. Patient*innen berichten über Angstträume, die sie nachts nicht schlafen lassen. Manch eine Terminvereinbarung endet mit dem Hinweis: »Wenn wir beide an dem Tag noch leben…«
Dieser Krieg und das damit verbundene Leiden machen uns auf drastische Weise deutlich, wie verkehrt unsere Gesellschaften eingerichtet sind. Die Reaktionen der Politik, die Remilitarisierung der Politik und die forcierte Aufrüstung bis hin zur »atomaren Teilhabe« lassen für Gegenwart und Zukunft Schlimmstes befürchten. Unübersehbar ist, dass in den letzten 30 Jahren die Bereitschaft, politökonomische und gesellschaftliche Probleme mit Kriegen zu lösen, deutlich zugenommen hat. So ist jetzt Europa nach den Kriegen in Zypern und in Jugoslawien zum dritten Mal nach 1945 direkt von einem Krieg betroffen. Dabei hatte die Corona-Krise doch gerade gezeigt, wie viel es auch ohne Krieg für die Einrichtung einer menschenwürdigen Gesellschaft zu tun gibt: im Gesundheitswesen, aber auch bei der Bekämpfung der sozialen Ungleichheit und auf vielen anderen Feldern. Wie weit uns alle dieser Krieg zurückwirft bei der Lösung vieler anderer drängender globaler Probleme wie beispielsweise der Klimakrise, können wir uns jetzt schon ausrechnen. Unsere Zukunft und erst Recht die unserer Kinder – sieht düster aus.
Damit, wie ihre Gegenwart aussieht, beschäftigt sich dieses Heft von Gesundheit braucht Politik: mit der Kinder- und Jugendmedizin, mit der Lage der Kinder und Jugendlichen in dieser Gesellschaft (Katharina Rathmann) und mit der Frage, welche Auswirkungen Corona und die Maßnahmen zur Prävention hatten (Jonas Schaffrath und Roxana Müller). Einen besonderen Fokus legen wir auf die stationäre Pädiatrie: Im August 2021 hatten 41 teils leitende Ärzt*innen der Uniklinik Rostock in einem Brief an die Landesregierung erklärt, dass sie infolge eines »auf kurzfristige Einsparungen ausgerichteten Sanierungsprozesses« ihren Aufgaben in der Krankenversorgung für die Region Rostock und als überregionaler Maximalversorger nicht mehr vollständig nachkommen könnten (DÄB, 20.08.2021). In einem Brandbrief prangern fast alle Berliner Kinderkliniken dramatische Personalengpässe in den Rettungsstellen und Kinderstationen an: »Die Versorgungsengpässe in den Kinderkliniken Berlins, insbesondere in den Rettungsstellen, sind dramatisch«, heißt es darin. Das Personal arbeite am Limit, es bestehe eine akute Gefährdung für Kinder und Jugendliche im Bundesland (taz 28.01.2022). Gesundheitsminister Lauterbach kündigte im Rahmen des diesjährigen DRG-Forums an, dass man zeitnah das DRG-System reformieren werde, insbesondere die Bereiche Pädiatrie und Geburtshilfe (DÄB, 17.03.2022). Nach dem Lesen der Artikel von Klaus-Peter Zimmer, Christof Stork und Tina Jung wird man verstehen, wie dringend und zugleich unzureichend diese Reformen sind. Auch in der Psychiatrie ist Reformbedarf, wie man in dem Text von Carina Borzim nachlesen kann. Und dass der Öffentliche Gesundheitsdienst von neoliberalen Sparzwängen ausgeblutet wurde, weiß seit Corona auch die breite Öffentlichkeit. Wie sich dies besonders auf den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst des ÖGD ausgewirkt hat, erläutert Bettina Langenbruch in einem Interview.
Außerdem werfen wir noch einen Blick ins Ausland; unter der Rubrik Internationales stellen wir verschiedene Auseinandersetzung weltweit vor. Mit dem Artikel von Sabine Schleiermacher erinnern wir an die Nürnberger Ärzteprozesse und den Umgang der Ärzt*innen damit. Die Bebilderung dieses Hefts mit Kinderbildern setzt besonders in diesem Artikel bewusst einen Kontrapunkt.
Zur Bebilderung dieser Ausgabe von Gesundheit braucht Politik haben wir verschiedene Kinder gebeten, uns Bilder zu Corona zu malen. Das Titelbild stammt von dem sechsjährigen Jan, der es im Januar in seiner Corona-Isolation gemalt hat. Seine Erläuterung dazu: »Das sind Coronaviren, die von der Lava vernichtet werden, und die Dinos kotzen auch noch drauf«. Er hat – offensichtlich – die Schnauze gestrichen voll von Corona und scheint zu hoffen, dass das ultimativ hilft gegen das Virus Wir dagegen gehen eher davon aus, dass uns das noch lange begleiten wird. Eine Sehnsucht zurück zur Normalität, die der Grund für all das Elend ist, ist aber auch keine Option …
Es gilt: Weitermachen!
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Kinder und Jugendliche - Vulnerabel in Gesundheitswesen und Gesellschaft, Nr. 1, März 2022)