Die Geschichte der Impfgegner*innen
von Babsi Clute-Simon
Die historische Anti-Impf-Bewegung war proletarisch geprägt. Heute besteht sie vor allem aus Menschen mit akademischer Bildung, so Babsi Clute-Simon, deren gleichnamigen Artikel aus der taz vom 10.03.2018 wir hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin zusammengefasst haben.
Mehr als 20.000 Menschen demonstrieren 1885 im britischen Leicester gegen die fortschreitende Impfpflicht. Nachdem im 18. Jahrhundert die Pockenimpfung aus der Türkei importiert wurde, entwickelt sich eine systematische Praxis des Impfens, die von Gesetzen begleitet werden. Und von Widerstand. Die Argumente von damals ähneln den heutigen: Der Impfprozess sei unnatürlich. Der Schulmedizin könne man nicht trauen, da sie den Menschen nicht als ganzheitliches Wesen betrachte. Krankheiten gehörten zum Leben und stärkten die Menschen. Als gegen mehr und mehr Epidemien Impfstoffe gefunden werden, kommt ein neues Argument dazu: Impfungen seien Tricks, mit denen die Pharmaindustrie Gewinne auf Kosten der Patient*innen generiert.
1971 wird der MMR-Impfstoff eingeführt, die Kombinationsimpfung gegen Masern, Mumps und Röteln – drei Kinderkrankheiten, die weltweit verheerenden Schaden anrichten. Die frühe Kritik an der Kombiimpfung erreicht die Öffentlichkeit 1998: Eine Forschungsgruppe des britischen Royal Free Hospitals um Andrew Wakefield stellt im Lancet eine Studie vor, die eine Verbindung zwischen einer Darmerkrankung, Masern und Autismus gefunden haben will. Aber keine der nachfolgenden Studien kann die Theorie bekräftigen. Trotzdem fallen die Impfraten. In den 2000ern wird öffentlich, dass Wakefield große Summen Geld entgegengenommen hat, um den in der Studie festgestellten Zusammenhang zu beweisen; er selbst ist Teilhaber eines Patents für eine einzelne Masernimpfung – deren Erfolg am Misserfolg der MMR-Impfung hängt. Dazu kommt, dass Ergebnisse im Vorfeld der Studie, die Wakefields Theorie entgegenstehen, von ihm schlichtweg ignoriert wurden. 2004 wird nach einer ersten Überprüfung des General Medical Councils die Studie teilweise widerrufen, 2010 nach einer zweiten vollständig. Wakefield wird die Approbation als Arzt entzogen. Allerdings endet seine Geschichte hier nicht. Wakefield hält Vorträge, gibt Interviews und widmet sich weiteren Projekten. Für die, die ihm glauben, ist er zum Märtyrer geworden. 2016 dreht Wakefield den Film »Vaxxed« und geht mit einer Wiederholung seiner Thesen damit auf Kinotour – auch in Deutschland.
Die Anti-Impf-Bewegung drängt seit 1998 in ganz Europa wieder in die Öffentlichkeit, doch etwas hat sich geändert: Die historische Bewegung war stark proletarisch geprägt. Heute hingegen sind es vor allem Akademiker*innen, die aus ihrer Bildung die Energie ihres Aktivismus ziehen. Die Argumentationsstrategien von Menschen wie Wakefield sind genau darauf eingestellt: Im wissenschaftlichen Duktus werden die Grundlagen empirischer Wissenschaften delegitimiert, daneben Einzelschicksale voller Anreiz für die Tränendrüse ausgeschlachtet. Diese Aufteilung entspricht ebendiesem kritischen Geist, dessen Kritik immer auch die an einem entmenschlichten, viel zu rationalen Wirtschaftssystem ist. Dieser entseelten Gesellschaft wird eine spirituelle Rückkehr entgegengestellt: Impfskepsis und Anthroposophie, alternative Heilkunde und Alltagsspiritualität gehen oft Hand in Hand. Die Art und Weise, auf die Impfgegner*innen dabei Argumente abblocken oder relativieren, verweist jedoch auch in eine andere Richtung. Es sind dieselben Muster, die Diskussionen über Chemtrails und die Hohlerde begleiten.
Allerdings sind die wenigsten Eltern, die ihre Kinder nicht impfen, deshalb gleich militante Impfkritiker*innen. Deren Zahl wird letztlich nur auf ein bis drei Prozent der Bevölkerung geschätzt. Bei der Mehrzahl handelt es sich um Impfskeptiker*Innen, und es ist genau diese Skepsis, auf die die Argumente der überzeugten Aktivist*innen zugeschnitten sind. Besonders nahrhaften Boden finden sie in Regionen mit hohem Bildungsgrad und Lebensstandard: Die Gegenden mit den niedrigsten Impfraten sind neben Wohlstandsenklaven wie Prenzlauer Berg in Berlin der Speckgürtel im Süden Deutschlands, vor allem das südliche Bayern und Baden-Württemberg. Einerseits haben viele dort einen Hang zu einem natürlichen Lebensstil, zu Naturheilkunde und Meditation. Aber auch rein ökonomisch braucht es den hohen Lebensstandard, denn Heilpraktiker*innen und Homöopath*innen sind teuer.
Babsi Clute-Simon schreibt in verschiedenen Publikationen über Gesundheits- und Geschlechterpolitiken und auf Facebook über Gott und die Welt und die Witze, die sich daraus ergeben. Zurzeit wartet sie sehnsüchtig auf ihre Coronaimpfung.
(Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Covid 19. Gesundheit und Gesellschaft unter dem Brennglas, Nr. 2, Juni 2021)