GbP 4-2020 Wachtler - Interview

Wissenschaft mit Konsequenzen

Interview mit Ben Wachtler zu den Thesen von Wilkinson und Pickett

Unter dem kryptischen Titel »Gleichheit ist Glück« erschien 2010 ein wichtiges Buch von Richard Wilkinson und Kate Pickett auf Deutsch, das die These vertritt, dass gerechte Gesellschaften nicht nur für die einzelnen Individuen, sondern warum sie für alle besser sind. Felix Ahls und Cevher Sat interviewten Ben Wachtler zu den Thesen, Begründungen und zur Wirkung dieses Buchs auf die Debatte und die praktische Politik.

Cevher/ Felix: Die Kernthese von Richard Wilkinson und Kate Pickett1 ist, dass sozioökonomisch ungleichere Gesellschaften kränker sind als gleichere Gesellschaften. Wir haben das so verstanden, dass nicht nur die Folgen der sozioökonomischen Ungleichheit, wie schlechtere Bildung und Ähnliches krank machen, sondern auch die Ungleichheit selbst. Wie erklären die beiden das? Fallen Dir dazu Beispiele aus den in den Büchern analysierten Studien ein?

Ben Wachtler: Richard Wilkinson und Kate Pickett weichen in diesen beiden vielbeachteten Büchern ab von einem wichtigen anderen Gesetz über die Beeinflussung von Gesundheit, nämlich der Beobachtung, dass die Gesundheit bzw. die Lebenserwartung von Gesellschaften mit dem Pro-Kopf-Einkommen bzw. mit dem Bruttoinlandsprodukt zunehmen. Ausgedrückt wird das in der so genannten Preston Curve. Da sieht man, dass Länder, die eine hohe Wirtschaftsleistung aufweisen, auch eine bessere Lebenserwartung haben. Das geht aber nur bis zu einem gewissen Punkt und dann flacht diese Kurve ab und hat ein Plateau. Das heißt, dass wir in einem Bereich von hohen Bruttoinlandsprodukten bzw. hohen Pro-Kopf-Einkommen keine Zunahme der Lebenserwartung bei zunehmenden Pro-Kopf-Einkommen in einer Gesellschaft mehr erkennen können. Die Ökonomen nennen dies das sogenannte Gesetz der »diminishing marginal returns«, das heißt in dem Bereich wird das »Delta«, was man erzeugen kann, also die Zunahmen an Lebenserwartung pro Zunahme an wirtschaftliche Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft, immer kleiner. Und in diesem Bereich der Hoch-Einkommensländer oder der Ländern mit entwickelten Ökonomien betrachten nun Wilkinson und Pickett andere Fak­toren, die die dramatischen Unterschiede in der Lebenserwartung von bis zu über 10 Jahren zwischen den Ländern erklären können

Zwischenfrage: Sie vergleichen Länder, die auf einem ähnlich hohen Produktivitätsstand sind?

Ben: Ja, es sind die OECD-Länder2, für die diese Korrelation gilt. Bei den Ländern mit sich entwickelnden Ökonomien sieht man ja häufig noch eine Zunahme der Lebenserwartung mit zunehmender Wirtschaftsleistung. Das sieht man in den OECD-Ländern nicht mehr, sondern da sind die Gesetzmäßigkeiten, die eine Rolle spielen, andere. Wilkinson und Pickett kommen zu dem Schluss, dass in deren Fall die Einkommensungleichheit das ausschlaggebende Argument für verschiedene Gesundheitsoutcomes ist. Und zwar für die Lebenserwartung, die allgemeine Krankheitslast, Adipositas, Teenager-Schwangerschaften, aber auch soziale Phänomene wie die Rate an Mord und Totschlag, die Anzahl von Inhaftierten und schulische Leistungen. Was sie dabei vor allem leisten, ist, die empirische Evidenz aus verschiedenen Datensätzen und der internationalen wissenschaftlichen Literatur zusammenzustellen und in diesem Buch sehr populärwissenschaftlich, allgemein verständlich mit ihren eigenen Analysen zusammenzuführen.

Kannst Du erklären, warum sie mit diesem Buch so bekannt geworden sind? Sind die Thesen neu oder liegt es am populärwissenschaftlichen Rahmen ihrer Arbeit?

Wilkinson und Pickett waren auch vor diesen Büchern schon bekannte Sozialepidemiologen, sie haben also eine lange Geschichte in der britischen Sozialepidemiologie. Diese erste große Untersuchung der britischen Regierung beschäftigten sich mit den Klassenunterschieden in der Sterblichkeit. Aber sie sind sicherlich am bekanntesten, weil sie ihre These so pointiert hervorgebracht haben. Die Literatur zu Einkommensungleichheit und Gesundheit hat dabei vor allem mit der Zunahme der Einkommensungleichheit zugenommen und das war vor allem seit den 80er Jahren der Fall. Es ist also nicht so, dass es etwas ist, was sich Wilkinson und Pickett alleine ausgedacht haben. Sie präsentieren bereits 2006 eine erste Übersichtsarbeit, wo sie auf knapp 200 Artikel zum Thema Bezug nehmen können.

Was sie aber getan haben, ist, die wirklich vorhandene empirische Evidenz in ihrem Buch »The Spirit Level« zusammenzufassen und mit eigenen Analysen pointiert darzustellen. Die Erklärungsmuster dafür haben sie dann in ihrem Buch »The Inner Level« erläutert. Es ist sicherlich ihr Verdienst, dass sie dieses Argument dadurch sehr stark gemacht haben, dass sie die Evidenz gebündelt und sich dabei nicht nur auf theoretische Modelle verlassen, sondern auch die Empirie in den Vordergrund gestellt haben. Wichtig ist natürlich auch, dass sie »The Spirit Level« 2009, also in der Finanzkrise veröffentlicht haben, wo Einkommensungleichheit ein großes Thema war. Sicher ist ihr Buch deshalb auch so stark rezipiert worden. Die ganze andere Literatur aus dem sozialepidemiologischen Bereich ist ausschließlich in englischer Sprache verfügbar. Das Buch »The Spirit Level« war aber so ein Erfolg – wahrscheinlich auch aufgrund der besonderen historischen Situation –, dass es auch ins Deutsche übersetzt wurde und international ganz stark rezipiert wurde. Ergänzen möchte ich noch, dass Wilkinson und Pickett diese Korrelation, die vorher beobachtet wurde, zuspitzen bis hin zur Behauptung einer Kausalität: Sie halten wirklich Ungleichheit dafür verantwortlich, dass es zu schlechten Gesundheitsoutcomes kommt. Damit sind sie sicherlich die Protagonist*innen.

Wenn ihre Arbeiten so stark rezipiert wurden, gab es dann auch politische Reaktionen darauf? 2009 ist ja nun schon 11 Jahre her.

Ich glaube, dass jeder, der politisch aktiv ist, weiß, dass sich seither nicht viel getan hat Richtung egalitärer Umverteilung. Umverteilung findet zwar dauernd statt, aber durchgehend in die falsche Richtung. Die politische Wirksamkeit davon richtig abzuschätzen, ist extrem schwer. Man muss sagen, dass Wilkinson und Pickett das sehr stark machen. Sie haben extrem viele Vorträge auch jenseits des wissenschaftlichen Bereichs gehalten – auch mit Informationen der in Frage kommenden politischen Parteien. Sie haben einen Thinktank und eine Advocacy Group3, wo es vor allem um eine Umverteilungspolitik geht, die sie versuchen zu promoten. Wir wissen aber alle, dass sich in den letzten Jahren in Europa diesbezüglich nicht viel getan hat.

Ich fand sehr spannend, dass sie die gängigen Erzählungen davon, wie die sozialen Determinanten auf den Körper wirken, ergänzt haben, indem sie sagen: Nicht gesundheitsschädliches Verhalten alleine führt zu z.B. Übergewicht und so weiter, sondern die Stresssituation infolge dieser Ungleichheit, infolge von Statusangst hat auch schon eine Auswirkung auf die Gesundheit. Hast Du das auch so interpretiert und kannst Du das bitte näher erläutern?

Ja, damit sind Wilkinson und Pickett nicht alleine, aber sie sind sicherlich mit die bekanntesten Befürworter des psychosozialen Modells zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit. Dieses hat unterschiedliche zugrundeliegende Theorien, aber sagt im Wesentlichen, dass die selbst wahrgenommene relative Deprivation, also die Wahrnehmung der eigenen Benachteiligung bzw. die Angst, den eigenen Status in ungleichen Gesellschaften zu verlieren bzw. diesen aufrecht erhalten zu müssen, nicht nur die Menschen in den niedrigen sozioökonomischen Gruppen betrifft – das ist das eigentliche Argument bei Wilkinson und Pickett –, sondern auch die Menschen mit dem höheren sozioökonomischen Status. Nicht nur der wahrgenommene niedrige sozioökonomische Status löst also Stress aus, sondern auch die Angst, den Status, den man hat, zu verlieren und ihn aufrechtzuerhalten zu müssen. Diese Situationen führen dazu, dass alte Steuerungssysteme der Physiologie ausgeregelt werden. Dabei bauen Wilkinson und Pickett auf neuere Modelle der Stresstheorie und der Stressphysiologie und verbinden Modelle der anthropologischen Forschung, der Primatenforschung, der sozialpsychologischen Forschung mit der Psycho-Neuroendokrinologie.

Sie beziehen sich dabei auf ganze Forschungsfelder. Prinzipiell gehen sie davon aus, dass ein erhöhtes Stresslevel dazu führt, dass es zu einer sogenannten allostatischen Belastungsreaktion kommt, wie das Bruce S. McEwen und Eliot Stellar 19934 beschrieben haben. Dies weicht ab von der Vorstellung von der Homöostase, also der Vorstellung, dass immer alle Systeme des Körpers auf einem gleichen Niveau sind und aufrechterhalten werden müssen in ihrer Homöostase. Die Allostase geht dagegen davon aus, dass zum Erreichen dieser Homöostase eine Ausregelung von Systemen erfolgen muss. Es muss eine Aktivierung des Sympathikus erfolgen, damit man eine Fluchtreaktion durchführen kann und dann wieder in den Status der Ruhe zurückkehrt. Und die allostatische Belastungsreaktion sagt nun, dass durch chronische Stressreaktionen dieses System ausgeregelt wird und in einem Bereich der erhöhten Konzentration von Stresshormonen, vor allem von Cortisol und Adrenalin, verbleibt. Dies führt zu neuroimmunologischen Modulationen, also zu Modulationen des Immunsystems, aber auch zu hirnorganischen Veränderungen, zu fehlender Ansprechbarkeit auf Cortisol und zu einer erhöhten Ausschüttung von Akute-Phase-Proteinen der Leber wie dem C-reaktivem Protein, Fibrinogen oder IL-6, die im Endeffekt so etwas wie Entzündungsreaktionen im Körper darstellen und Vorstufen von Krankheiten, vor allen von Herz-Kreislauferkrankungen begünstigen können5.

Bruce S. McEwen beschreibt das als das Phänomen der täglichen Abnutzungsreaktion am Körper, das »daily wear and tear« durch die wahrgenommene gesellschaftliche Benachteiligung bzw. die Angst um den gesellschaftlichen Statusverlust. Das ist kurz gesagt der Kerngedanke der psychosozialen Erklärungsmodelle. Mit dieser Erklärung legen sie natürlich ein biologisch plausibles Modell für die beobachteten sozialen Gradienten von Krankheitslast und Mortalität vor und können die Ungleichheitsverkörperung erklären: Also wie kommt die gesellschaftliche Ungleichheit in den Körper? Und damit sind sie sehr wirkmächtig mit ihrer Theorie.

Das heißt, in einer guten Gesellschaft wie der brave new world haben die Leute keine Angst, den Status zu verlieren und sind auch nicht unzufrieden mit ihrer Deprivation, sondern alle sind zufrieden und machen Yoga und haben deswegen keinen Stress, ja?

Ob das zu erreichen ist, ist natürlich eine andere Frage. Und ob wirklich nur die Ungleichheit Stress verursacht, ist natürlich etwas, was man auch nicht vorhersagen kann. Ob wir alle 150 Jahre alt werden können, wenn wir keinen Stress mehr haben und ob das nur durch gleiche Gesellschaften zu erreichen ist, wissen wir nicht. Es ist eher unwahrscheinlich, denn es gibt noch andere Faktoren, die eine Rolle spielen. Das ist vielleicht auch als einer der Kritikpunkte an den Erklärungsansätzen von Wilkinson und Pickett zu nennen. Sie fokussieren sehr auf ein monokausales Erklärungsmodell, wo es wahrscheinlich noch andere Einflussfaktoren gibt, wie Institutionen, die auf Menschen wirken und intersektionale Vorstellungsweisen von Benachteiligung. Das ist jetzt auch stark vereinfacht von mir, aber man sieht bei Wilkinson und Pickett eine Zuspitzung, die dem Phänomen nicht gerecht wird.

Gibt es noch weitere Punkte der Kritik, die öffentlich diskutiert werden?

Es gab nach der Veröffentlichung des Buches »The Spirit Level« eine sehr starke Auseinandersetzung. Man muss dabei aber zwischen berechtigter und unberechtigter Kritik unterscheiden. Die unberechtigte Kritik würde ich in den Bereich des Wegwischens der Thesen verorten: Es gab fundamentale Kritikpunkte, die erkennbar das Ziel hatten, diese Forschung zu diskredi­tieren, die aus politischen Kreisen der Liberalen und aus liberalen Thinktanks kamen. Und es gibt die Kritik an einzelnen statistischen und methodischen Vorgehensweisen, die zum Teil berechtigt ist, und so ist auch bis heute die Rezeption von »The Spirit Level« unter Sozialepidemiolog*innen. Man hat Bedenken, das Verhältnis von Ungleichheit und Gesundheit monokausal darzustellen, und es gibt Kritikpunkte an der Auswahl der Länder und der Verwendung von linearen Regressionsmodellen zur Darstellung des Zusammenhangs. Aber im Großen und Ganzen bezweifeln die meisten Sozialepidemiolog*innen nicht, dass es diesen Zusammenhang gibt und dass dieser auch sehr bedeutsam ist.

Inwieweit der Zusammenhang aber kausal ist, ist auch eine Frage. 2015 sind Wilkinson und Pickett in einem vielbeachteten Artikel noch mal nach vorne geprescht6, in dem sie sagen, die Korrelation, die beobachtet werde, erfülle die Kriterien für eine Kausalität. In der Epidemiologie gibt es die Bradford-Hill-Kriterien, nach denen man versucht, so etwas zu beurteilen. Davon sehen sie vier mindestens als erfüllt an. Hier gibt es sicherlich Diskussionsbedarf, ob das wirklich so ist. Aber im großen Ganzen gab es verschiedene methodische Kritikpunkte, die berechtigt waren. Da haben Wilkinson und Pickett zum Teil dann sogenannte Sensitivitätsanalysen durchgeführt, also ergänzend statische Modelle berechnet, die andere Voraussetzungen hatten, um diese Kritik zu entkräften. Sie haben also darauf reagiert und so gab es dann eine wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Ich persönlich kritisiere an Wilkinson und Pickett, dass sie zu sehr auf die monokausale Betrachtungsweise fokussieren. Denn ich glaube, dass es da noch andere Faktoren gibt, die eine Rolle spielen, im Sinne z.B. von intersektionaler Benachteiligung. Zum anderen teile ich die Kritik aus den eher linken Zusammenhängen, dass die psychosozialen Erklärungsmodelle die wesentlichen gesellschaftlichen und politischen Machtverhältnisse nicht benennen oder ignorieren und damit auch die politisch-ökonomischen Bedingungen, die für die Entstehung dieser Ungleichheit verantwortlich sind, nicht in den Blick nehmen. Daraus resultiert meines Erachtens auch eine sehr eingeschränkte politische Idee der Veränderung in diesen Arbeiten. Wilkinson und Pickett kommen schon zu dem Punkt, dass man Umverteilungspolitik braucht, um gleichere Gesellschaften zu schaffen, aber sie haben eigentlich keine politische Theorie der Veränderung. Damit bleibt das Argument im appellativen Bereich. Sie gehen davon aus, dass man nur gute Argumente dafür schaffen muss, dass gerechte Gesellschaften gesünder sind und dass man damit schon gesellschaftliche Veränderung erzeugen könnte. Das ist aus einer politischen Betrachtungsweise naiv.

Wir hatten beim Lesen den Eindruck, dass hier Folgen kapitalistischer Produktion beschrieben, diese aber nicht als solche benannt und auch nicht als solche kritisiert werden. Dementsprechend werden auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, die hinter dieser Ungleichheit stehen, unzureichend beleuchtet. Gibt es andere Ansätze in der Sozialepidemiologie, wo diese Verhältnisse stärker eine Rolle spielen? Oder müsste die Analyse dann auch ganz anders sein?

Mir ist beim Lesen von »The Inner Level« aufgefallen, dass Wilkinson und Pickett an keiner Stelle die Ursache der Ungleichheiten benennen und da fragt man sich schon, wann denn nun mal etwas dazu kommt. Ich glaube nicht, dass das aus fehlendem Wissen darum passiert. Ich denke, es geht hier um das Vorbringen einer gewissen Idee und der Hoffnung, dass diese Einfluss hat, und dadurch argumentativ benutzt werden kann, ohne direkt in die linksradikale Ecke gestellt zu werden. Aus einer wissenschaftlich-epidemiologischen und auch aus einer aktivistischen Sicht muss man aber diese grundlegenden politischen ökonomischen Verhältnisse und Zusammenhänge mehr in sein Denken einbeziehen. Das prominenteste Beispiel dafür ist die Harvard Professorin Nancy Krieger, die eine ökosoziale Theorie der gesellschaftlichen Verteilung von Gesundheit und Krankheit vorgelegt hat, in der sie sehr stark die psycho-sozialen Aspekte mitberücksichtigt und integriert, und unterschiedliche Ebenen der Betrachtungsweise anmahnt. Also eine biologische, gesellschaftliche, soziale und politische Ebene unter der Einbeziehung von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren historischen Bedingungen – auch mit ganz bewusster Fokussierung auf Diskriminierung aufgrund von Ethnie, Geschlecht und Klasse. Das ist meines Erachtens extrem wichtig, um auf die zugrundliegenden Fragestellungen und gesellschaftlichen Probleme, die zur Produktion von Gesundheit und Krankheit führen, fokussieren zu können. Also sie gibt damit der epidemiologischen Forschung neue Ansatzpunkte. Das ist sicherlich heute das umfangreichste und politischste Modell von der Entstehung von Gesundheit und Krankheit und der Verteilung dieser in der Gesellschaft.

Welche konkreten politischen Konsequenzen ergeben sich aus diesen Forschungsergebnissen für uns und welche leiten Wilkinson und Pickett ab?

Das Hauptargument bei Wilkinson und Pickett ist es – weil sie die ungleiche Gesellschaft als Ursache für die ungleiche Verteilung von Krankheit und Gesundheit ausgemacht haben – die Ungleichheit zu bekämpfen. Dabei schlagen sie die Umverteilungspolitik also Steuerpolitik vor und neue korporatistische Modelle der Arbeiterkontrolle. Wer sich genauer informieren möchte, kann dies gut auf den Seiten von The Equality Trust7 tun. Da sind auch viele Grafiken aus den beiden Büchern und viele andere Materialen zu finden.

Zwischenfrage: Was ist equality trust? Kannst du das kurz erklären?

Das ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich stark auf die Arbeit von Richard Wilkinson und Kate Pickett beziehen, auch mit ihnen zusammenarbeiten und versuchen, politische Lobbyarbeit zu machen. Für uns ist dieses Argument auch ein ganz wichtiges, denn das gesundheitliche Argument ist den meisten Menschen deutlich zugänglicher und verursacht ein stärkeres Empörungspotential: Es wird von den meisten Menschen als ungerecht wahrgenommen, dass ungleiche soziale Ressourcenverteilung auch zu verkürzter Lebenserwartung für die Benachteiligten führt. Die ungleiche Verteilung von Reichtum alleine wird dagegen häufig nicht als ungerecht angesehen. Das ist ein wichtiger Punkt, an dem wir als Ärzt*innen auch eine gewisse politische Interventionsmacht haben. Ich würde mir wünschen, dass wir diese auch weiter ausbauen und sehe eine gewisse Verantwortung im Bereich der Gesundheitsberufe. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass ein Großteil der gesundheitlichen Verteilung in einer Gesellschaft und der Last von Krankheit wenig mit der medizinischen Versorgung zu tun hat, weil das vielmehr von Arbeits- und Lebensverhältnissen abhängt, die ja per se nicht durch medizinische Behandlung verändert werden können, so muss doch unser Argument sein, dass wir uns für soziale Gerechtigkeit und damit auch für die Gesunderhaltung großer Bevölkerungsgruppen und die Verbesserung der Gesundheit von allen einsetzen. Dafür bringen Wilkinson und Pickett schon starke Argumente durch ihre Beschreibung der Zusammenhänge zwischen Einkommensungleichheit und Gesundheit vor. Ich würde diese persönlich noch ergänzen um eine Analyse der grundlegenden politisch-ökonomischen Verhältnisse: Was sorgt dafür, dass Menschen mehr oder weniger Einkommen haben und mehr oder weniger Reichtum und Ressourcen zur Verfügung stehen, die dann noch dazu führen, dass sie besser oder schlechter gestellt sind hinsichtlich ihrer Gesundheit. In Großbritannien beispielsweise wird das stärker bis hinein in die offiziellen Standesverbände diskutiert. Generell wäre es für die Gesundheitsberufe in Deutschland sicherlich schon ein Fortschritt, sich gegenüber der Politik überhaupt zu äußern und Druck aufzubauen. Da sehe ich eine Aufgabe für den vdää.

Ben Wachtler ist Arzt und Public Health Wissenschaftler und lebt in Berlin. Cevher Sat und Felix Ahls sind Mitglieder der GbP-Redaktion.

Fußnoten

  1. Richard Wilkinson / Kate Pickett: The Spirit Level. Why Equality is Better for Everyone, London 2009; auf Deutsch: Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 2010; Richard Wilkinson / Kate Pickett: The Inner Level. How More Equal Societies Reduce Stress, Restore Sanity and Improve Everyone’s Well-being, London 2019
  2. OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) ist eine internationale Organisation mit 37 Mitgliedstaaten, die ein hohes Pro-Kopf-Einkommen haben und als entwickelte Länder gelten.
  3. Siehe: https://www.equalitytrust.org.uk/
  4. McEwen, B. S., & Stellar, E.: Stress and the individual: Mechanisms leading to disease, Archives of Internal Medicine 1993, 153(18), 2093-2101. doi:10.1001/archinte.1993.00410180039004
  5. McEwen, B. S.: Protective and Damaging Effects of Stress Mediators, New England Journal of Medicine 1998, 338(3), 171-179. doi:10.1056/NEJM199801153380307
  6. Pickett, K. E., & Wilkinson, R. G.: Income inequality and health: A causal review, Social Science & Medicine 2015, 128, 316-326. doi: https://doi.org/10.1016/j.socscimed.2014.12.03
  7. https://www.equalitytrust.org.uk/

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Nr. 4, Dezember 2020)











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