GbP 1-2021 Rezension von Bernhard Winter

»Roter Wedding – vorwärts Genossen …«

Zum Wirken des kommunistischen Arztes Georg Benjamin in dem proletarischen Berliner Stadtteil

Bernd-Peter Lange: »Georg Benjamin – Ein bürgerlicher Revolutionär im roten Wedding«, Verlag Walter Frey, Berlin 2019, 197 Seiten, 15 €

»Am Tag nach dem formellen Abschluss der Promotion übernahm er seine Stelle in der Säuglingsfürsorgestelle des Stadtbezirks Wedding für zwei Jahre. Neben dieser Tätigkeit erwarb er in einem Kursprogramm der Sozialhygienischen Akademie Charlottenburg die Fachausbildung für Kommunal-, Schul- und Fürsorgeärzte sowie weitere Qualifikationen. Sie kamen seiner Bewerbung um eine freie Schularztstelle im Bezirk Wedding entgegen, auf der er zunächst aushilfsweise im September 1924 angestellt wurde.« So beschreibt Bernd-Peter Lange etwas trocken den Beginn der Tätigkeit Georg Benjamins im Öffentlichen Gesundheitswesen 1923. Dieser hatte sich auf seine Aufgabe sorgfältig vorbereitet und entsprechend qualifiziert.

Vorausgegangen war bei Georg Benjamin eine innerliche Distanzierung von seiner bürgerlichen Umgebung. Der 1895 Geborene nahm mit einer gewissen anfänglichen Begeisterung am 1. Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger teil. Unter dem Eindruck der Kriegsgeschehnisse näherte er sich politisch linken Positionen an und trat 1916 in die USPD, einer linken SPD-Abspaltung, ein. Nach Kriegsende nahm er das Medizinstudium auf und zog aus dem großbürgerlichen Berliner Stadtteil Grunewald zunächst in den Arbeiterbezirk Gesundbrunnen und schließlich in den Wedding. Georg Benjamin wandte sich von den bürgerlichen Privilegien ab und den elenden Verhältnissen in diesem Stadtteil mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Gesundheitsdefiziten zu. Hier hatte »sozialistische Politik massenwirksam Gestalt« angenommen – in ihrer revolutionären wie auch reformerischen Variante.

1921 zog er in das Wohnheim für ledige Männer am Weddinger Brunnenplatz ein. Dies war einerseits eine preiswerte Unterkunft, bot ihm aber zugleich die Gelegenheit, als »teilnehmender Beobachter« seine medizinische Dissertation über die sozialhygienische Funktion solcher Einrichtungen zu schreiben. Betreut wurde die Arbeit von Alfred Grotjahn, dem einzigen sozialistischen Professor für Sozialhygiene. Grotjahn sollte später ein Gegner von Benjamins Position in der Debatte um den § 218 werden. Während dieser Zeit im Ledigenheim vollzog Benjamin den für ihn politisch prägenden Übertritt von der USPD in die KPD. Zeitgleich beteiligte er sich auch an der Gründung des »Proletarischen Gesundheitsdienstes«. In ihm arbeiteten Mitglieder unterschiedlicher linker Organisationen zusammen, um die medizinische Versorgung auf Veranstaltungen der Arbeiterbewegung sicherzustellen.

Schwerpunkt von Benjamins beruflicher Tätigkeit als Schularzt im öffentlichen Gesundheitswesen blieb bis zu seiner Entlassung 1931 die Sozialpädiatrie. Hier war er jeden Tag mit den prekären und gesundheitsschädlichen Lebensverhältnissen der Arbeiterkinder konfrontiert. In seinem Verantwortungsbereich, der 12 Schulen umfasste, bemühte er sich um eine bestmögliche medizinische Betreuung.

Neben seiner ärztlichen Tätigkeit intervenierte er ständig für auf kommunal- und gesundheitspolitischer Ebene. Als Vertreter der KPD, die im Wedding die größte Partei war, saß er seit 1925 im Bezirksparlament. Um seine Forderungen zu entwickeln, nutzte er partizipative Elemente. So übernahm er die Forderungen einer Schulelternversammlung bezüglich Mindestanforderungen auf dem Gebiet der Schulgesundheitspflege für seine Öffentlichkeitsarbeit. Der Schwerpunkt der Forderungen lag dabei auf der Notwendigkeit der Behandlung solcher Kinder, die weder kranken- noch familienversichert waren. Er motivierte Schüler*innen zu Aufsätzen über schulärztliche Reihenuntersuchungen und leitete aus der Auswertung von 112 eingereichten Arbeiten ab, dass die ärztlichen Untersuchungen mit einer Unterrichtung in grundlegenden Gesundheitsfragen verbunden werden sollten.

Praxis zwischen Reform und Revolution

Systematisch nutzte Benjamin seine genauen Kenntnisse der lokalen sozialen Verhältnisse zu gesundheitspolitischen Analysen. So stellte er dar, wie die Betriebskrankenkassen der im Wedding ansässigen Firmen Osram und AEG sich ständig bemühten, die billigstmöglichsten Heilverfahren durchzusetzen oder wie sich in der Jugendfürsorge der Trend durchsetzte, »hygienische Leistungen mit wirtschaftlicher Rentabilität in Einklang zu bringen.« Unstrittig war für ihn, dass ein Gesundheitswesen im Interesse der Bevölkerung nur im Sozialismus aufgebaut werden kann. Dies hielt ihn allerdings nicht davon ab, auf kommunalpolitischer Ebene konstruktive Vorschläge einzubringen. Er engagierte sich für eine stärkere Reglementierung der Kinderarbeit und einen Ausbau des ­vernachlässigten öffentlichen Gesundheitsdienstes, insbesondere des Schularztwesens. Letzteres verstand er ausdrücklich als Gegengewicht zu den privatwirtschaftlich organisierten praktischen Ärzten. 

In den innerparteilichen Auseinandersetzungen beispielsweise zwischen sogenannten »Versöhnlern« und »Ultralinken« hielt er sich eher im Hintergrund und konzentrierte sich auf seine gesundheitspolitischen Themen. In der Auseinandersetzung mit der SPD vertrat er Ende der 1920er Jahre allerdings öffentlich die verhängnisvolle Sozialfaschismusthese. Der Buchautor Bernd-Peter Lange verweist in diesem Kontext auf den Legitimationsdruck, unter dem bürgerliche Intellektuelle in einer kommunistisch-proletarisch geprägten Umgebung standen.

Vielfältig war Georg Benjamin publizistisch aktiv. Unter seinen Publikationen sticht die 1925 publizierte Broschüre »Tod den Schwachen? – Neue Tendenzen der Klassenmedizin« hervor. Er kritisiert hierin die zunehmend aufkommende Eugenik und Rassenhygiene und resümiert: »Unter den Gebieten medizinischer Forschung verdient die moderne Rassenhygiene ganz besondere Beachtung der Arbeiterschaft, weil sie in immer stärkeren Maße politische Bedeutung gewinnt. Ist schon der Begriff Rasse selbst bestimmt von den politischen Verhältnissen im bürgerlichen Staat – man denke nur an die wechselnde Rolle des Antisemitismus, der ›Negerfrage‹ usw. in Ländern wie Polen, Deutschland, Vereinigten Staaten von Amerika – so gewinnt das praktische Ziel der ›Reinhaltung‹ der Rasse und der Gesunderhaltung des ›Volkes‹ erst recht ein politisches Gewicht.« (zitiert in Lange, S. 142f.) Es ist zwar nicht richtig, wie Lange behauptet, dass dies der einzig nennenswerte Beitrag auf Seiten der Linken zu diesem Thema war – so sei an die Kritik von Max Levien erinnert –, aber sicherlich ein bedeutsamer.

Georg Benjamins politisches Engagement blieb für ihn nicht ohne persönliche Folgen. Ein jäher Einschnitt im Berufsleben bedeutete die Entlassung als Stadtschularzt 1931. Vorausgegangen waren jahrelange politische Auseinandersetzungen innerhalb des Gesundheitsamtes, die Lang im Kern auf das zunehmend feindliche und verhärtete Verhältnis zwischen KPD und SPD zurückführt. Die KPD war zwar im Wedding die stärkste Partei, sah sich aber einer Mehrheit von SPD und bürgerlichen Parteien gegenüber, die Benjamins Entlassung durchsetzte. Deren konkreter Anlass lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Benjamins sozialdemokratischer Gegenspieler innerhalb der Gesundheitsverwaltung war der Arzt Salo Drucker. Dieser war Assistent von Benjamins Doktorvater Alfred Grotjahn. Wie Benjamin war er Mitglied des Vereins sozialistischer Ärzte, wenn man so will eine Vorläuferorganisation des vdää. Drucker wurde als Sozialdemokrat und Jude 1933 von den Nazis seines Postens enthoben und kam 1940 im KZ Sachsenhausen zu Tode.

Nach seiner Entlassung als Stadtschularzt eröffnete Georg Benjamin eine Kassenarztpraxis. Schwerpunkt blieb auch hier die Versorgung proletarischer Kinder und Jugendlicher. Aus seiner ärztlichen Tätigkeit im Wedding kannte er aber auch das Leid der Frauen, die angesichts der Strafandrohungen durch den § 218 illegal durch Unprofessionelle abtreiben lassen mussten, sehr genau. Politisch hatte er sich in der Vergangenheit bereits an Kampagnen zur Streichung dieses Paragrafen aus dem Strafgesetzbuch und für die Freilassung des Arztes und Dramatikers Friedrich Wolf, der wegen seines gegen den § 218 gerichteten Theaterstückes »Cyankali« zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war beteiligt. In seiner Praxis nahm er jetzt selbst unter medizinischen Kautelen Abtreibungen insbesondere bei vergewaltigten und armen Frauen gebührenfrei vor, was strafrechtlich äußerst riskant war.

Ausführlich schildert Bernd-Peter Lange die verschiedenen Wohnungen von Georg Benjamin und seiner Frau Hilde, der späteren DDR-Justizministerin, im Wedding. Diese Darstellungen sind zeitweise ermüdend, verweisen aber auf die auch heute noch gelegentlich unter linken bürgerlichen Intellektuellen diskutierte Frage, ob man sich in der Lebensweise den Menschen, mit denen man arbeiten will, anpassen sollte. Georg Benjamin beantwortete dies eher pragmatisch. Eine gute Ausstattung der Wohnung und Urlaubsreisen waren für ihn selbstverständlich.

Nach der Machtübernahme der Nazis ging Georg Benjamin sofort in den Widerstand, zunächst öffentlich, später illegal. Noch anlässlich der Reichstagswahlen am 05.03.1933 hängte er eine große rote Fahne aus seinem Praxisfenster. Die bereits verbotene KPD blieb im Wedding stärkste Partei. Dennoch deutet diese mutige Tat aus heutiger Sicht auf eine vollständige Unterschätzung des Naziterrors hin, der folgen sollte. Seine nebenberufliche Tätigkeit als Säuglingsarzt in Neukölln verlor er bereits im März 1933, da die NS-Behörden ihn als Juden klassifizierten. Nach illegaler Tätigkeit für den Informationsdienst der KPD wurde er zweimal zu Haftstrafen verurteilt. Nachdem er seine zweite sechsjährige Haftstrafe wegen der »Vorbereitung zum Hochverrat« in Brandenburg-Görden verbüßt hatte, wurde er nicht entlassen, sondern in das KZ Mauthausen überstellt, in dem er im August 1942 ermordet wurde.

Das Buch von Bernd-Peter Lange fokussiert zwar auf Georg Benjamins Wirken im roten Wedding, schließt aber andere Aspekte seines Lebens wie beispielsweise sein Verhältnis zu seinem bekannten älteren Bruder Walter nicht aus. Es überwindet die bisher vorherrschende offiziöse DDR-Geschichtsschreibung (u.a. eine Biografie seiner Ehefrau Hilde), in dem der Autor gerade auch die Widersprüche im persönlichen und politischen Handeln von Georg Benjamin darstellt. Bei allen Mängeln – ein Lektorat hätte dem Buch gutgetan – kann es »im Vergangenen den Funken Hoffnung anfachen« (Walter Benjamin).

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Nr. 4, Dezember 2020)


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