GbP 4-2020 Wachtler

»Social injustice is killing people on a grand scale«

Ein kurzer Überblick über das Konzept der sozialen Determinanten der Gesundheit – von Benjamin Wachtler

Gesundheit und Krankheit sind wesentlich durch soziale Determinanten bestimmt, also durch die Verhältnisse, in die Menschen geboren werden und in denen sie aufwachsen, arbeiten, leben und älter werden. Auch wenn diese der Medizin nicht direkt zugänglich sind, so ist es doch auch die Verantwortung der Gesundheitsberufe, sich für eine Verbesserung dieser Lebensverhältnisse und eine Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit einzusetzen. Dieser Beitrag soll einen kurzen Überblick über das Konzept der sozialen Determinanten der Gesundheit und seinen Einfluss auf der internationalen und nationalen Ebene geben.

Warum sollen wir Menschen behandeln, um sie dann in die Verhältnisse zurückzuschicken, die sie krank gemacht haben«, fragt Michael Marmot, einer der Pioniere der modernen Sozialepidemiologie, in der Einleitung zu seinem Buch »The Health Gap« (Marmot 2015). Damit dreht er die Frage danach, warum sich Ärzt*innen und andere Beschäftigte in den Gesundheitsberufen mit den sozialen Determinanten der Gesundheit (SDG) beschäftigen sollten quasi um. Warum sollten wir Menschen überhaupt behandeln, wenn sie danach doch durch die Lebensverhältnisse, in denen sie sich befinden, sehr wahrscheinlich, wieder krank werden? Ein Gedanke, den viele Kolleg*innen sicher kennen und der zu Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit oder häufig wohl auch zu einem gewissen Fatalismus führen kann. Eine nachhaltige und damit ökonomische Behandlung soll dazu geeignet sein, Menschen langfristig gesund zu erhalten. Dafür müssen soziale Bedingungen mit in den Blick genommen werden, die der direkten medizinischen Behandlung nicht zugänglich sind, sondern eines breiteren gesellschaftlichen und politischen Engagements bedürfen. Die Gesundheitsberufe haben dabei eine besondere Verantwortung, sich für die Verbes­serung der Lebensverhältnisse ihrer Patient*innen und die Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit einzu­set­zen, sind sie doch einerseits täglich Zeug*innen der gesundheitlichen Auswirkungen ungleicher sozialer Bedingungen und andererseits der nachhaltigen Heilung und Gesunderhaltung ihrer Patient*innen verpflichtet. Es ist von daher sinnvoll, sich näher mit dem Konzept der SDG auseinanderzusetzen, das heute in der internationalen Public Health Debatte überaus einflussreich ist, und zu analysieren, was wir als Gesundheitsarbeiter*innen aus den bisherigen Debatten lernen können.

Arme Menschen sterben früher oder: der soziale Gradient der Gesundheit

Dass Menschen, die in Armut leben, eine kürzere Lebenserwartung haben, ist heute wohl den meisten bekannt oder wird sie zumindest nicht weiter überraschen. Die mittlere Lebenserwartung ab der Geburt von Frauen in den niedrigsten Einkommensgruppen in Deutschland ist ungefähr 4,4 Jahre geringer als die von Frauen in der höchsten Einkommensgruppe. Bei Männern liegt dieser Unterschied bei ungefähr 8,6 Jahren. Diese Ungleichheit in der mittleren Lebenserwartung ist dabei über die letzten 25 Jahre relativ stabil geblieben (Lampert et al. 2019). Die Zusammenhänge zwischen Armut und einer erhöhten Sterblichkeit bzw. einer geringeren Lebenserwartung sind dabei für einzelne Länder zumindest seit Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt. Eine erste empirische Analyse für verschiedene Stadtteile von Paris legte Louis René Villermé bereits 1826 vor. Friedrich Engels veröffentlichte 1845 das Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«, in dem er die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen der arbeitenden Klasse und dem Bürgertum beschrieb. Und auch in Deutschland wurden solche Unterschiede durch die Pioniere der Sozialmedizin, wie Rudolf Virchow und Salomon Neumann spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben. Dabei lag der Fokus auf den Wirkungen der absoluten Armut und den krankmachenden hygienischen Bedingungen, die zu Epidemien mit Infektionskrankheiten wie der Cholera führten, die vor allem die Armen dahinrafften.

Durch den allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt, der mit verbesserten hygienischen Bedingungen und medizinischem Fortschritt ein­herging, kam es über die folgenden Jahrzehnte hinweg zum sogenannten epidemiologischen Übergang, der sich durch eine Abnahme der Bedeutung der Infektionskrankheiten für die allgemeine Krankheitslast und Sterblichkeit beschreiben lässt. Die mittleren Lebenserwartungen der Bevölkerungen in Europa stiegen deutlich an und die Altersstrukturen der Gesellschaften veränderten sich. Damit nahm die Bedeutung chronischer Erkrankungen, v.a. der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, als der bald häufigsten Todesursache zu, die bis in die 1950er Jahre hinein wenig verstanden und behandelbar blieben. Die Risikofaktoren der ischämischen Herzerkrankung wurden ab Ende der 1940er Jahre zunehmend durch große Kohortenstudien erforscht, wie z.B. in der Framingham-Heart-Studie in den USA.

Dieses Ziel hatte auch die 1967 in London begonnene Whitehall-Studie, die eine der wichtigsten Grundlagen für die Entstehung des Konzepts der SDG und der modernen Sozialepidemiologie werden sollte. Für diese Studie wurden britische Staatsdiener in einer prospektiven Kohortenstudie beobachtet. Die Ergebnisse zeigten, dass das Risiko an ischämischer Herzkrankheit zu versterben in den niedrigsten beruflichen Stellungen am höchsten war und graduell über die beruflichen Hierarchien hinweg abnahm, mit dem geringsten Risiko für Menschen in den höchsten beruflichen Positionen (Marmot 1978). Dieses Phänomen des sozialen Gradienten (Marmot 2004) beschäftigt seitdem die Public Health Wissenschaft. Es bedeutet, dass nicht nur die absolute Armut und die damit verbundenen Lebensverhältnisse einen Einfluss auf die Gesundheit haben, sondern dass es andere Mechanismen geben muss, die diese graduellen Unterschiede im Erkrankungs- und Sterberisiko besser erklären. Ein sozialer Gradient wurde seitdem international für eine Vielzahl von meist chronischen Erkrankungen aber auch von Infektionserkrankungen, wie z.B. der pandemischen Influenza 2009 oder aktuell in einigen Ländern auch für COVID-19, beschrieben.

Theorien zur Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit

Wie die beobachteten gesundheitlichen Ungleichheiten genau entstehen, ist bis heute das Objekt wissenschaftlich-theoretischer Diskussionen. Dabei sind neben den materiellen Erklärungsmustern heute einige Theorien zur Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit besonders einflussreich, auf die hier kurz eingegangen werden soll. Die aktuell einflussreichste Theorie, die eng mit dem Konzept der SDG und dessen Protagonist*innen verbunden ist, ist das psychosoziale Modell der Entstehung gesundheitlicher Ungleichheit. Dabei liegt der Fokus auf der Betrachtung von Stressreaktionen des Individuums, die durch die Wahrnehmung der eigenen relativen sozialen Deprivation und den damit einhergehenden Lebens- und Arbeitsbedingungen entstehen. Dadurch kommt es zu einer Ausregelung physiologischer Systeme wie dem sympathischen ­Nervensystem und anderer psychoneuro-endokrinologischer Systeme, insbesondere der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse. Werden diese Systeme über eine längere Zeit aktiviert, kommt es zur so genannten allostatischen Belastungsreaktion (McEwen 1993), die Modellierungen des Immunsystems zur Folge hat und auch zu hirnorganischen Veränderungen führen kann und das ­Risiko für Krankheiten und Krankheitsvorstufen erhöht. Bruce McEwen beschreibt dies als einen Vorgang der täglichen Abnutzungsreaktion am Organismus durch chronische Stressreaktionen.

Dieses Erklärungsmodell ist auch deshalb so einflussreich, weil es über die hier skizzierten Mechanismen anschlussfähig ist für Theorien der Entstehung chronischen Stress, wie z.B. dem Effort-Reward-Imbalance Modell von Johannes Siegrist (1996) oder dem Anforderungs-Kontroll-Modell von Robert Karasek (1979). Neben dem psychosozialen Modell ist die Theorie der fundamentalen Ursachen von Bruce Link und Jo Phelan (1995) heute in der Diskussion weiter relevant. Diese Theorie versucht v.a. die über die Zeit persistierende gesundheitliche Benachteiligung von Menschen in niedrigeren sozioökonomischen Positionen zu erklären, die unabhängig vom medizinischem Fortschritt und neuen präventiven Ansätzen zu sein scheint. Sie erklären dies damit, dass ein höherer sozioökonomischer Status mit einer Vielzahl von Ressourcen verbunden sei, wie z.B. Geld, Wissen, Prestige, Macht und nützlichen sozialen Kontakten, die unabhängig von den grundlegenden Mechanismen der Krankheitsentstehung dazu führen, dass Menschen mit einem höheren sozioökonomischen Status ihre Gesundheit immer besser schützen können als Menschen ohne diese Ressourcen.
Kritik am Konzept der SDG und dem psychosozialen Erklärungsmodell gab es v.a. von Vertreter*innen »neo-materieller« Erklärungsmuster, die in dem Konzept die auch heute noch bestehenden Ungleichheiten in den materiellen Ressourcen und den damit direkt verbundenen gesundheitlichen Folgen, zu wenig berücksichtigt sehen (Muntaner & Lynch 2002). Außerdem wurde von Vertreter*innen der Theorie der politischen Ökonomie der Gesundheit kritisiert, dass das Konzept der SDG zwar auf die Lebensverhältnisse als wichtige Ursache der individuellen Gesundheit hinweise, dabei aber die Ursachen dieser Lebensverhältnisse ignoriere, also das politisch-ökonomische System und die grundlegenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die erst zu diesen Lebensverhältnissen führten. Dadurch sei das Konzept auch nicht in der Lage, die »Schuldigen« für diese gesundheitlichen Ungleichheiten zu benennen und vergebe damit die Möglichkeit einer wirklich tiefgreifenden Veränderung dieser Ursachen (Birn 2009, Navarro 2009, Krieger 2011). Das umfangreichste Modell zur Erklärung der gesellschaftlichen Ungleichverteilung von Gesundheit und Krankheit hat die Harvard Professorin Nancy Krieger entwickelt. Sie beschreibt eine öko-soziale Theorie, welche die biologische, öko-soziale und soziale bzw. politische Ebene von Gesundheit miteinander verbindet und dabei explizit die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die politisch-ökonomischen Verhältnisse mitberücksichtigt (Krieger 2011). Dieses Modell hat in den letzten Jahren deutlich an Einfluss gewonnen und hilft dabei neue Ansatzpunkte für die Forschung und Praxis zu erkennen.

Das Konzept der sozialen Determinanten der Gesundheit und seine Wirkung

Über die letzten Jahrzehnte ist das Konzept der SDG überaus erfolgreich gewesen und der Bezugspunkt einer wachsenden Bewegung in internationalen Organisationen geworden. Ein Meilenstein dieses Prozesses war sicherlich die WHO Kommission zu den sozialen Determinanten der Gesundheit unter der Leitung von Michael Marmot, die 2008 ihren viel beachteten Abschlussbericht »Closing the gap in a generation: health equity through action on the social determinants of health« vorgelegt hat. Heute findet sich das Ziel der Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit durch die Beeinflussung der SDG in nahezu allen internationalen Gesundheitsstrategien, wie z.B. der Health 2020 Strategie der WHO für Europa. Auch in den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (Sustainable Development Goals) spielen die SDG eine wichtige Rolle. Einige Regionen haben seitdem eigene Berichte zu den sozialen Determinanten der Gesundheit und gesundheitlichen Ungleichheiten vorgelegt, wie z.B. das WHO Regionalbüro für Europa im Jahr 2014 und zuletzt die panamerikanische Gesundheitsorganisation im Jahr 2019.

Die Europäische Union finanziert aktuell eine breit angelegte »Joint Action Health Equity Europe«, die das Ziel hat, gesundheitliche Ungleichheiten in den Mitgliedsstaaten zu erforschen und Strategien zu deren Reduzierung zu entwickeln. Und auch auf nationaler Ebene haben einige Länder Gesundheitsstrategien vorgelegt, wie z.B. Italien, Finnland und Großbritannien, die explizit die Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit durch die Veränderung der SDG als Ziel haben. Gleichzeitig wird das Konzept auch von internationalen Berufsverbänden wahrgenommen und unterstützt. So hat der Weltärztebund 2011 in seiner Oslo-Deklaration das Konzept der SDG angenommen und ruft seine Mitgliedsverbände auf, sich für die Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit einzusetzen. In Großbritannien hat sich eine »Inequality in Health Alliance«  aus verschiedenen medizinischen Berufsverbänden und Fachgesellschaften gegründet, um sich gemeinsam gegenüber der Politik für eine Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit einzusetzen. Das Konzept der sozialen Determinanten der Gesundheit ist heute also aus den Programmen und Strategien internationaler Gesundheitsorganisationen nicht mehr wegzudenken. Auf der Ebene der Nationalstaaten gibt es ebenfalls Beispiele für nationale Gesundheitsstrategien, die diese Ziele teilen. Ob daraus aber auch wirkliche politische Entscheidungen resultieren, die geeignet sind, gesundheitliche Ungleichheit zur reduzieren, ist leider noch nicht so klar.

Nationale Strategien zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit – Das Fallbeispiel Großbritannien

Großbritannien ist sicherlich das Land in Europa, das bisher am meisten unternommen hat, um gesundheitliche Ungleichheit zu bekämpfen. Die Labour-Regierung zwischen 1997 und 2010 machte die Bekämpfung gesundheitlicher Ungleichheit zu einem ihrer Kernthemen. Bereits kurz nach der Wahl gab die Blair-Regierung eine unabhängige Untersuchung der gesundheitlichen Ungleichheit in Großbritannien in Auftrag. Der ehemalige Chief-Medical-Officer, Donald Acheson, legte 1998 den Abschlussbericht vor, der Empfehlungen enthielt, wie die sozialen Determinanten der Gesundheit auf unterschiedlichen Ebenen beeinflusst werden sollten, um gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren. 2003 präsentierte das Gesundheitsministerium eine erste umfangreiche nationale Strategie, wie das Ziel einer Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit um 10%, gemessen an einer Reduzierung der Ungleichheit in der Kindersterblichkeit und der mittleren Lebenserwartung, bis zum Jahr 2010 zu erreichen sei. Insgesamt wurden gut 20 Milliarden britische Pfund für unterschiedliche Interventionen von frühen Hilfen über Tabakkontrollpolitiken bis zur Entwicklung gesunder Kommunen ausgegeben.
Evaluationen dieser Programme zeigten, dass die ambitionierten Ziele der Strategie wohl nicht (Mackenbach 2011) oder zumindest nicht komplett (Bambra 2012) erreicht werden konnten. Eine weitere Studie zeigte das ernüchternde Ergebnis, dass es keine erkennbaren Unterschiede in der Entwicklung der gesundheitlichen Ungleichheit in Großbritannien im Vergleich mit Ländern ohne eine solche Strategie gegeben habe (Hu 2016). Die meisten Autor*innen sind sich einig darin, dass dies v.a. darauf zurückzuführen sei, dass zu wenig politische Entscheidungen getroffen worden seien, die wirklich in der Lage wären, die allgemeinen Lebensbedin­gungen der Menschen zu verbessern, wie steuerliche Interventionen zugunsten von Geringverdiener*innen oder eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns. Von vielen Beobachter*innen wird diese Episode der britischen Sozial- und Gesundheitspolitik daher als vertane Chance gewertet. Die Tory-Regierung seit 2010 setzte zwar einige konkrete Gesundheitsprogramme weiter fort, doch haben sich die Chancen für politische Entscheidungen zur Minimierung sozialer Ungleichheit drastisch reduziert.

Im Gegenteil, die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen in der britischen Gesellschaft haben in den letzten zehn Jahren weiter deutlich zugenommen und die Austeritätspolitik hat zu dramatischen Engpässen z.B. im Gesundheitssystem geführt. Analysen haben dabei gezeigt, dass insbesondere in den Regionen gespart wurde, die ohnehin schon am schlechtesten ausgestattet waren. Die gesundheitlichen Ungleichheiten haben seit 2012 ebenfalls deutlich zugenommen. England ist eines der Länder mit entwickelten Ökonomien, das seit 2011 eine deutliche Verlangsamung der Zunahme der mittleren Lebenserwartung gezeigt hat (Leon 2019). Dies stellt einen dramatischen Einschnitt dar, hatte doch die Lebenserwartung für alle sozioökonomischen Gruppen seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich zugenommen. Das Nationale Statistikamt berichtet, dass sich die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den sozial am meisten deprivierten Regionen um 0,4 Jahre für Männer bzw. 0,5 Jahre für Frauen vergrößert haben. Diese betrugen schon zuvor ca. 10 Jahre für Männer und ca. 8 Jahre für Frauen. Getrieben wird diese besorgniserregende Dynamik durch eine weiter zunehmende Lebenserwartung bei Menschen in den am wenigsten deprivierten Regionen, wohingegen gleichzeitig die Lebenserwartung in den am meisten deprivierten Regionen stagniert oder zurückgeht.
Besonders ausgeprägt ist diese Dynamik bei Frauen. So hat die mittlere Lebenserwartung für Frauen in den besser gestellten Regionen zwischen 2013 und 2018 um durchschnittlich 80 Tage zugenommen, wohingegen sie für Frauen in sozial deprivierten Regionen um 95 Tage abgenommen hat. Es ist stark anzunehmen, dass die Situation durch die COVID-19 Pandemie weiter verschärft werden wird. Auswertungen der Todesfallstatistiken durch das Nationale Statistikamt haben gezeigt, dass die Mortalitätsrate in Verbindung mit COVID-19 für Menschen in den am meisten deprivierten Regionen Englands ungefähr doppelt so hoch ist wie für ­Menschen in den am wenigsten deprivierten Regionen. So werden die bereits bekannten Unterschiede in der Gesamtmortalität weiter erhöht. Viele Autor*innen führen diese ­Situation auf die Austeritätspolitik der Regierung seit 2010 zurück, die soziale Sicherungssysteme und das Gesundheitssysteme an die Grenze der Funktionsfähigkeit gebracht habe. Zusammenfassend kann man sagen, dass Großbritannien heute in Bezug auf gesundheitliche Ungleichheiten, trotz der historisch einmaligen politischen Möglichkeit zu Beginn der 2000er Jahre, im europäischen Vergleich nicht gut dasteht.

Fazit

Dieser kurze Überblick macht deutlich, wie einflussreich das Konzept der SDG vor allem im englischen Sprachraum und auf internationaler Ebene geworden ist. Gleichzeitig zeigt sich, wie hier am Beispiel von Großbritannien, dass dies nicht zwangsläufig zu einer Reduzierung von gesundheitlicher Ungleichheit führt. Das Vorhandensein gesundheitlicher Ungleichheiten (health inequities), also von Unterschieden, die vermeidbar, unnötig und ungerecht sind (Whitehead 1992), bedeutet immer auch, dass ein Teil der Gesamtkrankheitslast und vorzeitige Sterblichkeit in einer Gesellschaft verhinderbar wäre. Das ist ein starkes Argument, das auch von Gesundheitsberufen in Deutschland mehr vorgebracht und verinnerlicht werden sollte.

Gleichzeitig zeigen uns die Erfahrungen international, dass eine wirkliche Veränderung nur bei gleichzeitigen Aktionen auf unterschiedlichen Ebenen zu erzielen ist. Dabei stehen häufig eher technische Lösungen und umschriebene Interventionen im Vordergrund und politische Veränderungen, die zu einer Reduzierung sozialer Ungleichheiten führen könnten, werden meist vernachlässigt. Die medizinischen Berufe sind hier in einer besonderen Verantwortung. Zum einen müssen sie die Lebensverhältnisse ihrer Patient*innen in die Planung der v.a. primärmedizinischen Versorgung integrieren und Möglichkeiten der konkreten sozialen und psychologischen Interventionen auf der individuellen Ebene schaffen. Das kann am besten durch interdisziplinäre Stadtteilgesundheitszentren und Polikliniken geschehen, die gleichzeitig auch in die Lebensverhältnisse wirken können. Gleichzeitig dürfen wir dabei aber nicht vergessen, dass solche praktischen Lösungsansätze ohne gleichzeitige Veränderungen auf der politischen und ökonomischen Ebene nicht erfolgreich sein werden. Es ist daher unsere Aufgabe, uns auch für politische und ökonomische Veränderungen einzusetzen, die zu mehr sozialer Gerechtigkeit und einer Verbesserung der Lebensbedingungen der sozial und gesundheitlich Benachteiligten beitragen. Nur so können gesundheitliche Ungleichheiten wirklich bekämpft werden.

Benjamin Wachtler ist Arzt und Public Health Wissenschaftler aus Berlin.

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(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Soziale Ungleichheit und Gesundheit, Nr. 4, Dezember 2020)


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