GbP 3-2020 Windel

Rassismus bei Weißen Ärzt*innen und Patient*innen

Anne-Sophie Windel über offene Fragen und Gedanken nach dem Lesen von Amma Yeboahs Text

Beim Gesundheitspolitischen Forum 2019 des vdää hielt Amma Yeboah den Impulsvortrag über Rassismus in der Medizin. Daraufhin entwickelte sich ein interessanter und fruchtbarer Austausch, der unter anderem zur Entstehung dieses Themenheftes führte. Auf Grundlage des Artikels von Amma Yeboah über »Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland« von 2017 dokumentieren wir im Folgenden eine Resonanz aus Weißer ärztlicher Perspektive. Der Text gilt als Einladung zum Fragen und als offener Prozess zum weiteren gemeinsamen Austausch bezüglich Weißsein und Rassismus im Gesundheitswesen.

In Amma Yeboahs Artikel »Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland« werden Weiße Ärzt*innen eingeladen, sich mit Rassismus und den Privilegien als Weiße Person auseinanderzusetzen. Weiße Behandler*innen gehören ins »Zentrum der Erforschung von psychischen Folgen von Rassismus« schreibt sie, denn durch ein unsensibles, teils unbewusstes, teils bewusstes rassistisches Verhalten sorgen Weiße für die rassismusbedingte Traumatisierung von Schwarzen und People of Colour (PoC). Die Beschreibung Yeboahs, dass Rassismus durch eine Stressreaktion bei PoC und Schwarzen eine psychische und biologische »Vernichtung« hervorruft, einen sozialen Tod, trifft und berührt mich. Mir wird dadurch die Brutalität des rassistischen Systems bewusst.

Mir fällt ein, dass Rassismus nicht nur von Weißen Ärzt*innen reproduziert wird, sondern ebenfalls PoC/Schwarze Ärzt*innen von rassistischem Verhalten Weißer Patient*innen betroffen sein können. Ich denke dabei an Erfahrungsberichte von PoC-Kolleg*innen, die sich neben der Anstrengung des ärztlichen Alltags mit rassistischen Kommentaren beschäftigen müssen1. In Rollenspielen in einem geschützten Rahmen oder durch Gespräch könnten Weiße Strategien erlernen, wie sie in solchen Situationen Rassismus entgegentreten können.

Yeboahs Artikel ruft in mir die Frage hervor, wie Weiße Ärzt*innen sich für eine rassismuskritische und menschenfreundlichere Medizin sensibilisieren können. Welche Handlungsformen gibt es, um der angeregten Aufforderung der Auseinandersetzung mit Weißen Privilegien zu begegnen? Welche Orte und Bedingungen müssen entstehen, damit Weiße Mediziner*innen einen rassismussensiblen Gesundheitsraum entwickeln können, Rassismus nicht mehr verschweigen, sondern verlernen, um letztlich besser auf Patient*innen of Colour eingehen zu können und deren Vertrauen zu verdienen? Letztlich sind es offene Fragen, in deren Antworten wir erst gemeinsam wachsen können.

Der Text ist fragmentarisch aufgebaut, denn ich kann nur so über Rassismus und Weißsein sprechen. Ich beginne zu schreiben, lerne über mein Weißsein, kreise um mich, bin betroffen von der Gewalt des Rassismus in der Gesellschaft, teilweise mit einem Gefühl von Ohnmacht, wenn ich an die mörderischen Attentate von Hanau und Halle denke und gleichzeitig die stärkere Sichtbarkeit von rechten Strukturen und Bewegungen im Alltag sehe. Ich bin sprachlos und suche nach Worten für etwas, was ich nur teilweise erfassen kann, wo mir bislang keine Sprache gegeben wurde; ich habe nicht gelernt, über Weißsein zu sprechen. Ich bin als Weiße Person gefragt, auf die Suche zu gehen. Ich spreche von mir in der Ich-Form statt im passiven Neutrum, denn es ist wichtig, mich und jede einzelne Person als Akteurin in der Aufdeckung und Benennung von Rassismus sichtbar zu machen, auch wenn es sich bei Rassismus um ein strukturelles und gesellschaftliches Problem der Weißen Dominanzkultur handelt.

Ich zögere das Verfassen des Artikels hinaus, denn ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Was ist das richtige Format? Brauche ich einen »roten, stringenten Faden« in diesem Text? Ich bin es gewohnt, medizinische Artikel zu lesen und kenne daher eine line­are Herangehensweise an Sachverhalte, die meistens »objektiv-deskriptiv« ist und die persönliche Ebene außen vor lässt. Gleichzeitig ist die Struktur des Rassismus linear-hierarchisch aufgebaut, und wenn ich Rassismus überwinden will, ist es vielleicht nötig, im Prozess zu schauen, wohin die Gedanken führen, ohne »gerade« Antworten zu haben. Darf der Text dadurch auch zirkulär sein? Ich entscheide ja, auch wenn es verwirrt, denn das Thema Rassismus kann für Weiße verwirrend und beängstigend sein.

Ich spüre gleichzeitig den Druck, »wissenschaftlich« zu sein und mich rechtfertigen zu wollen, dass Rassismus überhaupt existiert. Dabei gibt es im angloamerikanischen Raum diverse Studien (unter dem Stichwort »Racism and health« finden sich bei der Literaturrecherche auf Pubmed am 02.09.2020 3.401 Veröffentlichungen), im deutschsprachigen gibt es soziologische Sammelbände über Rassismus in den Lebenswissenschaften2, aber wenig Literatur von deutschen Mediziner*innen. Ich erinnere mich an Vorlesungen im Studium, in denen ich über das N-Wort mit Weißen Professoren diskutiert habe und als naive kleine Studentin belächelt wurde, die sich mal nicht so anstellen solle. Das N-Wort (in Verbindung mit einer Raucherlunge benutzt) sei doch nicht diskriminierend gemeint.

Es benötigt Orte, um zunächst grundsätzlich zu verstehen, was Rassismus eigentlich meint, damit ein gemeinsames Vokabular besteht. Ich schaue während des Verfassens dieses Textes die Rassismusdefinition der Soziologin Philomena Essed nach: Rassismus sei »eine Ideologie, eine Struktur und ein Prozess, mittels derer bestimmte Gruppierungen auf der Grundlage tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige ›Rassen‹ oder ethnische Gruppen angesehen werden«3. Sicherlich ist es auch wichtig, als Weiße Mediziner*in Studien und Fachliteratur zu lesen, um die Problematik auf biologischer (es gibt keine Rassen) und sozialwissenschaftlicher Ebene (Rassismus existiert und macht krank) zu verstehen. Das faktische Wissen zu Rassismus zu generieren kann im Studium über Seminararbeiten und Ringvorlesungen erfolgen und in der Studienordnung verankert werden.

Ein weiterer Ansatzpunkt wäre die Forschung über Rassismus und dessen körperlich-psychische Folgen im deutschen Gesundheitswesen zu fördern, um Studiendaten für den deutschsprachigen Raum zu haben und dadurch gesetzliche strukturelle Veränderungen zu bewirken. In dem Zusammenhang fällt mir auch die Pseudodiagnose »Morbus Mediteranneus« ein, welche eine »übertriebene, inadäquate« Schmerzäußerung auf eine vermeintlich kulturelle Prägung von Patient*innen mit Migrationsgeschichte aus dem Mittelmeerraum zurückführt (wobei Franzosen, die am Mittelmeer leben, nicht eingeschlossen werden...). Während ich diesem Begriff immer wieder bei Kolleg*innen in der Notaufnahme begegne, wird das Konzept in diversen Artikeln kritisch hinterfragt und als rassistisch eingeordnet4. Ich frage mich, inwiefern wir uns genug Zeit nehmen, um die beschriebenen Symptome einordnen zu können und Falschdiagnosen zu vermeiden. Bezüglich struktureller Defizite denke ich dabei beispielsweise an fehlende flächendeckende Angebote von Dolmetscherdiensten für Patient*innen of Colour, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, mit der Gefahr der falschen oder unzureichenden Behandlung. Auch da könnten Weiße Ärzt*innen auf struktureller Ebene Veränderung hervorrufen.

Des Weiteren findet der Begriff der rassistischen Mikroaggressionen aus Yeboahs Text Resonanz in mir: Inwiefern kann ein geäußerter Schmerz neben einer tatsächlichen somatischen Erkrankung auch ein körperlicher Ausdruck von Trauma durch rassistische Mikroaggressionen sein? Im ungekürzten Artikel von Yeboah wird die Schwarze Psychoanalytikerin Grada Kilomba zitiert, welche die Lebensrealitäten Schwarzer Frauen in Deutschland bezüglich Rassismus analysiert hat. Dabei beschreibt Kilomba, dass der durch Rassismuserfahrung erlebte seelische Schmerz sich körperlich ausdrücken kann. Durch die Verschiebung des Schmerzes auf den Körper wird gezeigt, dass es für die erfahrene rassistische Situation keine Worte gibt, da es »unbeschreibliche Wunden« sind5. Diesen Ansatz finde ich insofern wichtig, als das häufig diagnostizierte oder vermutete funktionelle Störungen oder Somatisierungsstörungen möglicherweise auch Ausdruck von erlebten traumatischen Erfahrungen sein können und wir uns dafür ebenfalls sensibilisieren müssen, um in der Anamnese mit Patient*innen of Colour offen-empathisch für solche Schmerzerlebnisse zu sein. In meinem PJ in der Psychiatrie betreute ich eine Schwarze Patientin mit Psychose, die in ihrer Psychose über rassistische Diskriminierung geklagt hat. Dies erkannte das Weiße Behandler*innenteam nicht an. Im Verlauf wurde die Psychose schlimmer und meine Phantasie ist, dass auch dies eine zunehmende wiederkehrende Verwundung durch Rassismuserfahrung war.

Ich denke an mein Medizinstudium und ein Gefühl von Konkurrenzdenken, Leistungsdruck und »Einzelkämpferdasein«. Mir wird vorgelebt, dass ich alleine für mich und meinen Weg und mein Wissen als Ärztin verantwortlich bin. Diese Struktur verhindert implizit, verwundbar und fragend zu sein, und mich bezüglich Unklarheiten und offener Fragen zum Rassismus zu zeigen, da ich keine fertigen Antworten habe und dies als »schwach« angesehen werden könnte. Ich wünsche mir einen Weg aus der gefühlten Isolation hin zu einer Kultur des Austausches und des offenen Fragens, in der ich mit anderen Weißen Mediziner*innen aus der Unsicherheit der Sprachlosigkeit in Worte und Bewegung gelangen kann. Dabei denke ich an Supervisionsgruppen, die explizit das Thema Rassismus und die Intersektionalität anderer Diskriminierungsformen beinhalten und wo Rassismus nicht als nebensächliches Beiwerk besprochen wird. Oder Podiumsdiskussionen auf Kongressen der medizinischen Fachgesellschaften, wie z.B. im November 2019 bei der vdää-Veranstaltung. Dort kann es die Möglichkeit geben, in einer Kultur der Wertfreiheit und des offenen Hinschauens die Dynamik von Rassismus zunächst zu verstehen und zu spüren, um durch das Verständnis in kommenden Situationen gegen Rassismus verändert agieren zu können. In Anlehnung an Yeboahs Text motiviert mich dabei als freudvoller Ausblick die Tatsache, dass ich dann eine professionelle Ärztin für Schwarze und People of Colour bin, wenn ich mich mit meinem Weißsein auseinandersetze, da dies der »Bestimmungsfaktor für den Therapieerfolg« ist6. Indem ich mir sanft mein Weißsein anschaue und die Verantwortlichkeit für mein Handeln übernehme, kann ich mehr über meine Prägungen lernen und neue Formen finden, wie ich achtsam in den Kontakt gehe. Dadurch kann eine menschlichere, erfolgreiche Ärzt*innen-Patient*innenbeziehung entstehen und Vertrauen jenseits geschichtlicher und struktureller Gewalt wachsen.

Anne-Sophie Windel beschäftigt sich seit einigen Jahren mit Rassismus und Weißsein und arbeitet aktuell als Assistenzärztin der Inneren Medizin in Solingen

  1. Siehe u.a. den ungekürzten Text von Amma Yeboah: »Rassismus und psychische Gesundheit in Deutschland«, in: Karim Fereidooni und Meral El (Hg.): »Rassismuskritik und Widerstandsformen«, Wiesbaden 2017, S. 143-161
  2. AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (Hg.): »Gemachte Differenz – Kontinuitäten biologischer ›Rasse‹-Konzepte«, 2009
  3. Philomena Essed: »Multikulturalismus und kultureller Rassismus in den Niederlanden«, in: »Rassismus und Migration in Europa«, ARGUMENT-Sonderband AS 201, 1992, S. 375
  4. Z.B. Ciani-Sophia Hoeder: »Einsames Leiden – Alltagsrassismus in der Medizin«,11.03.2020, in: https://rosa-mag.de/; Yannick von Eisenhart Rothe: »Diagnose ›Morbus Mediterraneus‹: Das rassistische Klischee von wehleidigen Migrantinnen«, 18.09.2019, in: https://www.bento.de/; Lina Verschwele: »Medizin: Gibt es Rassismus in deutschen Arztpraxen?«, Süddeutsche Zeitung 15.08.2020
  5. vgl. Grada Kilomba: »Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism«, Kurzgeschichten in englischer Sprache, Münster 2018, S. 133
  6. Yeboah 2017, a.a.o.

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Rassimus im Gesundheitswesen, Nr. 3, Oktober 2020)


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