Nachlass unser
Wie (vermeintliche) Erkenntnisse Machtverhältnisse konstituieren – von Cevher Sat und Urs Mörke
Mit einigem Unbehagen wird im Moment zur Kenntnis genommen, dass die Wissenschaften, auf denen ›westliche‹ Gesellschaften ihr Selbstverständnis zu einem großen Teil aufbauen, nicht in einem Vakuum existieren. Umgestoßene Statuen von Sklav*innenhalter*innen haben einen Diskurs angestoßen, der selbst die Größen der europäischen Aufklärung in Erklärungsnot brächte, hätten sie sich nicht schon dadurch aus der Affäre gezogen, vor Jahrhunderten zu sterben. Um die benötigte Kritik auszuüben, müssen wir aber noch nicht einmal in den Annalen der Geschichte wühlen. Ein Blick ins Hier und Jetzt zeigt, dass genug zu tun ist. Dabei ist es allerdings nicht nur nötig, einige Personen vom Sockel zu holen – sondern auch, den Sockel selbst zu prüfen.
Zwei mit diesem Sockel eng verbundene Disziplinen sind die Psychologie und die Evolutionswissenschaften. Erstere rationalisierte das Irrationale, letztere löste das Rätsel der Herkunft unserer Spezies. Somit ist es nicht verwunderlich, dass Wissenschaftler*innen, die Psychologie und Evolution verbinden, Evolutionspsycholog*innen, gerne von Journalist*innen, Politiker*innen und der Allgemeinbevölkerung herangezogen werden, um Alltägliches zu erklären. Rationaler kann es schließlich kaum werden. Wir mögen Süßes? ›Klar, Energie in Form von Zucker ist überlebenswichtig!‹ Die Gesellschaften des globalen Nordens1 sind reicher als die des globalen Südens: ›Bei jenen waren ja auch die Winter kälter, da musste hart gearbeitet werden, um überleben zu können!‹ In warmen Gegenden habe man sich um so etwas keine Sorgen machen müssen. Wie in dieser Aussage argumentiert der Göttinger Angstforscher Dr. Borwin Bandelow, Psychiater und Ehrenvorsitzender der Gesellschaft für Angstforschung. Nicht nur innerhalb der Wissenschaft hat er sich einen Namen gemacht, er ist auch ein beliebter Interviewpartner im Fernsehen und in Zeitungen; obendrein verkauft er populärwissenschaftliche Bücher. Vom Magazin Cicero wurde er zu einem der 500 einflussreichsten deutschsprachigen Intellektuellen erklärt. Dabei legen sein Einfluss und Erklärungen wie die obige bloß, wie tief rassistische Erklärungsmuster in der Wissenschaft verwurzelt sind.
Bandelow zufolge ist die globale ökonomische Ungleichheit zugunsten des globalen Nordens nämlich Ergebnis eines genetisch angelegten höheren Angstlevels, das in »nachhaltigerem« Verhalten als bei den »Unbekümmerten« im globalen Süden resultiere. Nicht gewaltsame Enteignung und Ausbeutung von Menschen, sondern Sparsamkeit und Nachhaltigkeit sind also Grundlage des Reichtums? Diese biologistische Erklärung reiht sich in eine wissenschaftliche Praxis ein, die die kolonialen Ursprünge des Reichtums des globalen Nordens verdrängt und diese Ursprünge stattdessen in Erzählungen von Nachhaltigkeit, ›Fortschrittlichkeit‹ und Rationalität verortet. Dabei waren es die Wissenschaften selbst, die durch die Konstruktion hierarchisierbarer ›Rassen‹ eine intellektuelle, kognitive Begründung für die Ausbeutung Schwarzer2 und indigener Menschen geliefert haben.
Das ›koloniale Projekt‹ war neben der Anthropologie jedoch auch von der Wissensproduktion durch Disziplinen wie Botanik, Geographie und Linguistik begleitet. Sie lieferten bereits vor dem zunehmenden Einfluss der ›Rassentheorien‹ im 19. Jahrhundert das notwendige Herrschaftswissen über die zu kolonisierende außereuropäische Welt. So ist es nicht verwunderlich, dass Geographen Sitze im Kolonialrat des Deutschen Kaiserreiches innehatten und Politikberatung betrieben.
In post- bzw. dekolonialen Diskursen soll mit dem Begriff der sogenannten epistemischen Gewalt der Zusammenhang von (wissenschaftlichem) Wissen und globalen Ungleichheits-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen analysiert werden – somit also auch die kolonialen Verstrickungen wissenschaftlicher Disziplinen. Diese Perspektive auf Wissen erlaubt es zu verstehen, dass Rassismus ebenso wie die Wissensproduktion konstitutiv für den Kolonialismus waren und dies weiterhin für dessen Kontinuitäten sind. Die vermeintliche Objektivität und historische Ungebundenheit der Wissenschaften werden auf diese Weise infrage gestellt und in einen konkreten gesellschaftlichen Kontext eingebettet.
So ist ein Aspekt epistemischer Gewalt ihre Funktion in der Normalisierung und Rechtfertigung anderer Gewaltformen. Das oben genannte Beispiel der ›Rassenlehre‹ ist in diesem Kontext zentral. Menschen wurden im Zuge der Systematisierung der Welt in ›Rassen‹ kategorisiert und diesen Gruppen wurden (und werden) wiederum Eigenschaften zugeschrieben, die die brutale Ausbeutung nicht-weißer Menschen sowohl gerechtfertigt als auch reproduziert hat. Ihre Kulturen und Beziehungen wurden zudem als schlicht nicht ›rational‹ der Zerstörung preisgegeben, um aus dem Kolonisierten gar einen »Feind der Werte« zu machen, wie es der Antikolonialist und Psychiater Frantz Fanon ausdrückte. Herrschaft und Versklavung durch weiße Europäer*innen waren dadurch nicht nur legitim, sondern eine von der Natur vorgesehene Notwendigkeit.
Die rassistische Kategorisierung wirkt heute in subtilerer Weise in Form dominanter Narrative des ›fortschrittlichen‹, ›rationalen‹ globalen Nordens, im weißen wissenschaftlichen Kanon und in einer Geschichtserzählung, die die Gewalt des Kolonialismus verschleiert – dies ist die den Kolonialismus überdauernde epistemische Gewalt. Der Eurozentrismus dieser Narrative und die Institutionalisierung der weißen Perspektive als objektiv und hegemonial sind folglich nicht willkürlich, sondern müssen in globalen Machtverhältnissen verortet werden.
Bleiben wir gedanklich bei den ökonomischen Ungleichheitsverhältnissen, identifizieren wir epistemische Gewalt in der Produktion von stereotypem Wissen über den globalen Süden, der als ›irrational‹ und noch ›in Entwicklung‹ konstruiert wird. Dass die kontinuierliche Herstellung des Reichtums des globalen Nordens im Verhältnis zum globalen Süden auf der asymmetrischen Verteilung von Arbeit und Ressourcen beruht, und dass diese Verteilung wiederum auf die koloniale Ordnung zurückzuführen ist, wird unsichtbar gemacht und stabilisiert die vorherrschende Gewalt.
Die Machtverhältnisse drücken sich auch darin aus, dass Wissensproduktion für Menschen aus dem globalen Norden quasi ein Heimspiel ist. Die prestigereichsten Zentren der Wissensproduktion liegen nämlich in den USA und Europa. Grundlage ihrer Forschungen sind von weißen Menschen, oft genug Profiteur*innen des Kolonialismus, entwickelte Ansätze. Von diesem Standard abweichende Formen der Wissensproduktion bekommen selten die Unterstützung mächtiger Institutionen und das mit ihnen verbundene soziale, kulturelle und ökonomische Kapital. Übernommene Ansätze werden dagegen oftmals für den Profit weißer Unternehmer*innen kapitalisiert und der Kontrolle der Communities entzogen, die sie entwickelt haben. Dies geschieht beispielsweise in der Pharmaindustrie und der Landwirtschaft, wo indigenes, häufig mündlich weitergegebenes Wissen über Existenz und Nutzung von Nahrungs- und Heilpflanzen durch Organisationen des globalen Nordens patentiert wird, sodass diese nunmehr das Monopol auf natürliche Ressourcen wie zum Beispiel Reis und Weizen besitzen. Diese Praktiken intellektueller Kolonisierung verschärfen die globale Ungleichheit und stabilisieren intellektuelle Strukturen, die Machtverhältnisse rechtfertigen.
In anderen Bereichen schließt sich die Medizin unreflektiert stereotypem Wissen an, das der Erhaltung eines rassistischen Systems dienen kann. Da sind zum Beispiel die Diagnostik und Therapie nach zugeschriebener Ethnie. Die CKD-EPI-Formel für die Berechnung der Nierenfunktion etwa fordert die Multiplikation des berechneten Wertes mit 1,159, wenn die betreffende Person eine »schwarze Hautfarbe« hat. Hier zeigt sich, wie einige Dinge zusammenspielen, die sich auch schon bei Bandelow andeuten: Objektiv erscheinende Daten fließen mit einigen (un-)bewussten Vorannahmen zusammen, um eine Interpretation zu ergeben, die den Forschenden noch nicht einmal als solche bewusst sein muss. Wenn ein Datensatz zeigt, dass Schwarze US-Amerikaner*innen durchschnittlich einen höheren Kreatininwert vorweisen, heißt das nicht, dass alle Schwarzen das tun. Es heißt noch nicht einmal, dass es unbedingt am Schwarzsein liegt. Genetische Faktoren wurden hier (und auch in anderen, ähnlichen Fällen) nie gefunden.
Die Medizin, die zeigte, dass Menschen mit einem Feuerzeug in ihrer Tasche nicht deshalb häufiger an Lungenkrebs sterben, sondern weil sie oft rauchen, vergisst, dieselbe Logik bei rassifizierten Gruppen anzuwenden. Sie verfällt in stumpfen Positivismus und reproduziert dabei in diesem Fall das Bild der Schwarzen als klar biologisch abgrenzbare Gruppe zu weißen. Das Paper »Hidden in Plain Sight — Reconsidering the Use of Race Correction in Clinical Algorithms« aus dem New England Journal of Medicine legt obendrein dar, dass durch die meisten dieser ›angepassten‹ Tools Schwarze Patient*innen in niedrigere Risikogruppen als weiße einsortiert werden, wodurch sie eventuell zu spät behandelt werden.
Diese Werte könnten auch gesellschaftlich erklärt werden. Die Suche nach unabänderlichen Naturgesetzen ist damit aber nicht vereinbar. Anstatt also nun Messwerte und Beobachtungen mit Gesellschaftstheorien zusammenzufügen, werden sie isoliert betrachtet. Und auch die Forscher*innen selbst sehen sich als Atome, die ungebunden im Raum umherschwirren. Dabei ist das Wissen, das sie produzieren, nur innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation möglich und wird nur in dieser als mehr oder weniger wissenschaftlich wahrgenommen. Die herrschenden Bedingungen und Diskurse stecken den Raum des Denkbaren ab und strukturieren ihn innerlich. Deshalb können wir auch beispielsweise auf die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts oft nur kopfschüttelnd zurückschauen: Die Zeit für manche dieser Theorien ist abgelaufen. Trotzdem wurden sie von ihren Zeitgenoss*innen als hochmodern und überaus korrekt angesehen. Dieselbe Skepsis, die wir vergangenen Forschungen entgegenbringen, sollten wir gerade deshalb auch auf gegenwärtige anwenden. Nur so können wir Wissenschaft kritisieren, die Herrschaftsverhältnisse unterstützt, während sie wirksam ist.
Urs Mörke und Cevher Sat sind Aktive im Arbeitskreis Antirassismus der Universitätsmedizin Göttingen.
- Wir sprechen vom globalen Norden und Süden, um globale Ungleichverhältnisse zu adressieren, ohne auf negativ behaftete Begriffe wie ›Dritte Welt‹ zurückgreifen und die damit verbundenen Assoziationen reproduzieren zu müssen. Nord/Süd werden dabei abgelöst von ihrer geografischen Bedeutung verwendet.
- Schwarz und weiß beschreiben keine Hautfarben, sondern konstruierte Positionen in einer rassistischen Gesellschaft. Schwarz ist eine Selbstbezeichnung und wird großgeschrieben. Weiß hat die Funktion, eine dominante, privilegierte Position, die häufig nicht benannt wird, sichtbar zu machen.
Literaturverzeichnis
- Claudia Brunner: „Epistemische Gewalt: Wissen und Herrschaft in der kolonialen Moderne“, Bielefeld 2020
- Maria do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan: „Postkoloniale Theorie: Eine kritische Einführung“, Berlin-Frankfurt/Main 2015
- Chika A. Ezeanya: “Contending Issues of Intellectual Property Rights Protection and Indigenous Knowledge of Pharmacology in Africa South of the Sahara”, The Journal of Pan African Studies 5/2013, 24-42
- Frantz Fanon: „Die Verdammten dieser Erde“, Reinbek bei Hamburg 1969
- Silvia Federici: „Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation“, Wien-Berlin 2018
- Silvia Federici: „Die Welt wieder verzaubern: Feminismus, Marxismus & Commons“, Wien-Berlin 2020
- Michel Foucault: „Die Ordnung des Diskurses“, Frankfurt/Main 1996
- Michel Foucault: „Die Geburt der Klinik“, Frankfurt/Main 2016
- Rima Hanano: „Biopiraterie: Die Plünderung von Natur und Wissen“, abrufbar im Internet: https://reset.org/knowledge/biopiraterie-die-pluenderung-von-natur-und-wissen
- Anne-Kathrin Horstmann: „Wissenschaftlicher Kolonialismus zwischen Theorie und Praxis: Die Ostafrika-Expedition der Kölner Handelshochschule 1908“, Köln 2008, abrufbar im Internet: https://www.uni-koeln.de/phil-fak/afrikanistik/kant/data/Horstmann-KANT2.pdf
- Georg Lukács: „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“, in: Geschichte und Klassenbewusstsein: Studien über marxistische Dialektik, Amsterdam 1967
- Darshali Vyas / Leo Eisenstein / David Jones: “Hidden in Plain Sight: Reconsidering the Use of Race Correction in Clinical Algorithms”, N Engl J Med, 383, 2020, 874–882
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Rassimus im Gesundheitswesen, Nr. 3, Oktober 2020)