GbP 3-2020 Prilutski

Kranke Normalität

Ria Prilutski über die Wirkungsweisen von Rassismus im (deutschen) Gesundheitssystem

Alle oder nahezu alle Menschen im deutschsprachigen Raum haben wohl schon etwas über Rassismus gehört, und viele glauben, gut darüber informiert zu sein. Wenn man sie jedoch fragt, was Rassismus genau ist, kommt meistens eine diffuse und verkürzte Antwort nach dem Muster: »Na, das ist, wenn man Schwarze für schlechter hält als Weiße«. Im schlimmsten Fall wird noch in bester Absicht auf die Gleichheit von Rassen hingewiesen oder gar eine rassistische Gruppenbezeichnung genannt. Um zu verstehen, was Rassismus ist, muss man als erstes verstehen, wie er wirkt. Aus diesem Grund verbinde ich in diesem Artikel grundlegende sozialwissenschaftliche Erkenntnisse mit Fallbeispielen aus dem Bereich der Gesundheitsversorgung.

Das entspricht auch den Aufgaben unseres Vereins, denn Medinetz Jena e.V. engagiert sich gegen Rassismus auf zwei miteinander verknüpfte Weisen: Einmal praktisch, durch Unterstützung von Personen, die aus dem deutschen Gesundheitssystem ganz oder teilweise ausgeschlossen sind, und einmal theoretisch, durch Bildungs- und Aufklärungsarbeit zu Themen wie Rassismus und soziale Ungleichheit.

Rassen, schreibt der Soziologe Wulf D. Hund, sind ein Produkt des Rassismus und nicht seine Voraussetzung. Rassismus beschreibt also einen Prozess und eine Ideologie, durch die Rassen hergestellt werden. Rassen sind soziale Konstruktionen und also nur wirksam, weil Personen kollektiv daran glauben und entsprechend handeln. Das Wort ist gerade in Deutschland jedoch massiv diskreditiert, und so spricht man oft nicht mehr von Rassen, sondern von Ethnien, Kulturkreisen oder ›Migrationshintergründen‹. Rassismus ist jedoch nicht auf den Rassenbegriff angewiesen und verschwindet nicht allein dadurch, dass man bestimmte Begriffe meidet. In der Forschung, und zunehmend auch unter Betroffenen, hat sich mittlerweile der Begriff »Rassifizierung« etabliert, mit dem genau diese Prozesse der Rassenkonstruktionen gemeint sind.

Die Psychologin Birgit Rommelspacher unterscheidet vier Dimensionen der Rassifizierung: Durch Naturalisierung werden bestimmte kulturelle und soziale Eigenschaften als natürlich und unveränderbar bestimmten Gruppen von Menschen zugeschrieben. Die Homogenisierung sorgt dafür, dass Mitglieder dieser Gruppen als Einheit gesehen werden, so dass man von einem Individuum auf die gesamte Gruppe schließen zu können meint. Durch Polarisierung werden die auf diese Weise konstruierten Gruppen einander gegenüber gestellt, und zwar als unvereinbar oder sich gegenseitig ausschließend. Schließlich sorgt die Hierarchisierung für ideologische Abwertung und materielle wie symbolische Benachteiligung einiger dieser Gruppen im Vergleich zu anderen. Rassismus, genauso wie andere zentrale Diskriminierungsformen in modernen Gesellschaften (wie Sexismus oder Klassismus), entwickelte sich als Rechtfertigungsideologie für soziale Ungleichheiten, weswegen Rommelspacher dafür auch den Begriff »Legitimationslegende« verwendet.

Wir können daraus schließen, dass es nicht ausreicht, nicht mehr von Rassen zu sprechen oder keine offensichtlichen rassistischen Beleidigungen mehr zu verwenden. Überall dort, wo Menschen als homogene, sich gegenseitig ausschließende und/oder miteinander konkurrierende Gruppen mit nicht änderbaren Eigenschaften erscheinen und wo einige Menschen aufgrund dieser Darstellungen Vor- und Nachteile erfahren, können rassifizierende Ideologien am Werk sein. Auch wenn solche naturalisierenden Verallgemeinerungen »Ethnien« und »Kulturen« genannt werden, sind inhaltlich nichts Anderes als Rassen gemeint. Die Merkmale, die zur Konstruktion rassifizierter Gruppen herangezogen werden – also die Erzählungen, worin genau die Unterschiede zwischen diesen Gruppen liegen – können dabei sehr unterschiedlich sein. Im modernen Kolonialrassismus sind es bekanntermaßen die Hauttöne sowie die Haarstruktur und die Gesichtszüge. In anderen Fällen werden anhand der Sprache, der geographischen Herkunft oder der religiös konnotierten Kleidung homogene Gruppen konstruiert. Wenn sich keine Merkmale ausfindig machen, können sie auch erfunden oder diskursiv ›ins Blut verlagert‹ werden – so zum Beispiel beim rassifizierenden Antisemitismus oder bei der historischen One-Drop-Rule in den USA, bei der jede Person rechtlich als Schwarz eingestuft wurde, die Schwarze Vorfahren hatte, selbst wenn sie äußerlich nicht von Weißen zu unterscheiden war. Aufgrund dieser enormen Vielfalt von rassifizierenden Zuschreibungen wird in der Forschung häufig von Rassismen im Plural gesprochen.

Welche Auswirkungen hat ein komplexes Phänomen der Unterdrückung und Diskriminierung wie Rassismus nun gesellschaftlich betrachtet, oder konkreter: im Bereich der Gesundheitsversorgung? In seiner Wirksamkeit kann man Rassismus dreidimen­sional begreifen. Einerseits ist Rassismus ein Vorurteil, das auf der zwischenmenschlichen Mikroebene wirkt. Vergleichsweise harmlose, aber für Betroffene dennoch lästige Beispiele dafür sind etwa der Glaube, dass Schwarze Menschen keinen Sonnenbrand bekommen können oder die Überzeugung, dass sie sportlich begabt sein müssen.

Zweitens ist Rassismus als Ideologie zu begreifen, die eine Ungleichbehandlung in Bezug auf Personengruppen rechtfertigt (darauf bezieht sich auch Rommelspachers Begriff der Legitimationslegende). Ein markantes historisches Beispiel aus dem medizinischen Bereich ist der bis weit ins 20. Jahrhundert verbreitete Glaube an die verminderte Schmerzempfindlichkeit Schwarzer Menschen, der für die Betroffenen fatale Konsequenzen hatte. Der Übergang von Vorurteilen zu Ideologien ist zwar fließend, jedoch lassen sich Ideologien nicht so einfach durch individuelle Anstrengungen abbauen wie individuelle Vorurteile, und sie bleiben oft über Jahrhunderte wirksam. Der Mythos über die unechten Schmerzen rassifizierter Patient*innen etwa lebt weiter in veränderter Form auch im heutigen Deutschland. Ein Beispiel hierfür ist die Pseudodiagnose ›Morbus mediterraneum‹, von der auch die Kritische Medizin München in ihrem Essay über Rassismus in der Medizin schreibt (siehe den Text auf S. 4ff.) und die auch heute dafür sorgt, dass die Schmerzen migrantischer Patient*innen nicht ernst genommen werden. Dieses Verhalten wurde vor einigen Jahren auch an einer Station des Jenaer Uniklinikums beobachtet: Menschen mit auffälligen Namen oder Aussprache wurden von Pflegekräften als »Morbus Südländer« diffamiert.

Schließlich ist Rassismus immer auch ein soziales Verhältnis, das die Organisation der Gesellschaft in ihrer spezifischen historischen Form beeinflusst. Hier wirkt er auf struktureller Ebene und weitgehend unabhängig von Überzeugungen oder Intentionen einzelner Personen. Im Gesundheitsbereich besteht struktureller Rassismus vor allem in Fragen des Zugangs. Rassifizierte Gruppen können aus zwei Gründen einen tendenziell schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung haben: Entweder aufgrund einer Sonderregelung, durch die sie systematisch diskriminiert werden (das prominenteste Beispiel aus unserer Arbeit ist das Asylbewerberleistungsgesetz), oder weil sie ihre (theoretisch vorhandenen) Rechte aufgrund ihrer sozialen Benachteiligung nicht wahrnehmen können. So können viele Geflüchtete oft keine ärztliche oder psychotherapeutische Hilfe wahrnehmen, wenn ihnen kein*e Dolmetscher*in zur Verfügung gestellt wird. Hinzu kommen oft gesundheitsgefährdende Lebensbedingungen (isolierte Massenunterkünfte, die jetzt in Pandemiezeiten oft als Ganze unter Quarantäne gestellt werden) und gesundheitliche Schäden durch Diskriminierung als solche. Für gravierend benachteiligte Personengruppen wie Asylsuchende oder Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis ist struktureller Rassismus alltäglich und allgegenwärtig. Es ist eine, wenn auch traurige und skandalöse, Normalität.

Die verschiedenen Dimensionen und Wirkungen von Rassismus sind natürlich nur analytisch trennbar, in der Praxis hängen sie oft miteinander zusammen und bedingen sich gegenseitig.

In einem Fall aus unserer Praxis weigerte sich ein Kinderarzt am Telefon, einen Säugling zu behandeln, dessen Vater lediglich eine Duldung und dessen Mutter keine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland besaß. Die Begründung lautete, dass die Eltern nach seiner Meinung das Land verlassen sollten und dies nur tun werden, wenn niemand ihr Kind behandelt. Die strukturelle Ebene des Rassismus bewirkt in diesem Fall, dass der Zugang zur medizinischen Versorgung für eine (u.a. nach Kriterien der Staatsangehörigkeit und geographischer Herkunft) rassifizierte Gruppe der Illegalisierten erschwert wird, und diese strukturelle Benachteiligung wird durch die Schwierigkeit der Vaterschaftsanerkennung in rechtlich prekären Situationen sowie durch das deutsche Abstammungsrecht von der Mutter an das Kind weitergegeben. Die ideologische Komponente sorgt dafür, dass die Menschheit in der Wahrnehmung des Arztes in klar voneinander abgegrenzte Gruppen aufgeteilt wird, deren Mitglieder unterschiedliche Berechtigung haben, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten und dort medizinische Versorgung in Anspruch zu nehmen. Dadurch, dass diese Ideologie nicht nur von einem einzelnen Arzt, sondern kollektiv und politisch wirksam vertreten und umgesetzt wird, werden Gruppen wie Geduldete und Illegalisierte erst erschaffen und von dem Recht auf medizinische Versorgung weitgehend ausgeschlossen, was die ideologische Ebene wiederum bekräftigt. Im konkreten Fall wird auf der zwischenmenschlichen Ebene die (Gleich-)Menschlichkeit des Kindes durch die Behandlungsverweigerung in Frage gestellt: Das Baby hat in den Augen des Arztes keinen Patient*innenstatus, sondern wird degradiert zum Mittel der Disziplinierung seiner Eltern.

In einem Fall aus der Arbeit des Anonymen Krankenscheins Thüringen wurde eine Patientin of Colour in einer Arztpraxis dazu aufgefordert, die Behandlung als Privatpatientin zu bezahlen, obwohl sie einen anonymen Krankenschein vorlegte, nach dem die Behandlung abgerechnet werden konnte. In einem Telefonat entschuldigte sich die Ärztin zwar, rechtfertigte ihre Handlungen jedoch damit, dass »solche immer betrügen würden«. Hier verschränkt sich das rassistische Vorurteil mit der strukturellen Dimension des Zugangs zu medizinischer Versorgung.

In einem Fall, von dem uns die Organisation Women in Exile im Rahmen des Workshops über die Gesundheitsversorgung von geflüchteten Frauen berichtete, handelte es sich um eine aus Eritrea geflohene junge Frau, die sich auf der Flucht ein Hormonimplantat zur Verhütung einsetzen ließ. Dies ist unter Frauen auf der Flucht eine verbreitete Praxis, da sie damit rechnen müssen, auf ihrem Weg nach Europa vergewaltigt zu werden. Das Implantat sollte jedoch nach einem Jahr entfernt werden. Die Frau bekam nach ihrer Ankunft in Deutschland schwere Beschwerden (Blutungen) und suchte einen Gynäkologen auf, dem sie ihrer Geschichte erzählte mit der Bitte, das Implantat zu entfernen. Der Arzt teilte ihr jedoch mit, dass er das nicht tun wird, da Verhütung eine private Entscheidung sei und keine Krankenkasse die Entfernung des Implantats bezahlen wird. Die junge Frau wurde gezwungen, mit dem Implantat und der sich erschwerenden Beeinträchtigung damit weiter zu leben. An diesem Fall wird die Wirksamkeit von Rassismus als soziales Verhältnis deutlich, da Rassismus hier durch eine unreflektierte »Gleichbehandlung« reproduziert wird. Die Intention des Arztes, der den Eingriff verweigert, muss nichts mit rassistischen Vorurteilen zu tun haben, um rassistische Effekte zu erzeugen: Durch die formalisierte Anwendung eines ideologischen und gesundheitspolitisch legitimierten Grundsatzes (»Verhütung ist Privatsache«) entsteht eine rassifizierende Ungleichheit zwischen Menschengruppen, indem ihre ungleichen Lebenschancen und -situationen negiert werden.

Der Fall erscheint uns symptomatisch für den Umgang mit reproduktiven Rechten von geflüchteten Frauen, der, zumindest in seinen Konsequenzen, auch die Spuren der eugenischen Tradition der rassistischen Reproduktionskontrolle in sich trägt: Rassistisch Privilegierte entscheiden, welchen Teilen der Bevölkerung und in welchem Umfang das Selbstbestimmungsrecht in Fragen der Verhütung und der Geburt zugestanden wird. Gerade die reproduktive Selbstbestimmung von geflüchteten Frauen bleibt in der Arbeit von unserem Verein und ähnlichen Organisationen ein enormes Problemfeld. So berichteten Women in Exile von einem Fall, in dem bei einer geflüchteten Frau ohne ihre Einwilligung während eines anderen Eingriffs ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen wurde. In unserer Arbeit gab es vor einigen Jahren einen Fall, bei dem einem 18-jährigen geflüchteten Mädchen eine ungewollte Schwangerschaft durch gezielte Lügen, eine Abtreibung wäre in Deutschland verboten, aufgezwungen wurde – mit desaströsen Konsequenzen für die Betroffene.

Diese Ausführungen sind gleichzeitig als Einladung zu verstehen – Einladung zur interdisziplinären Auseinandersetzung mit Rassismus und zu analytischen und zugleich sensibilisierten Blick auf seine Auswirkungen. Wenn wir Rassismus besser verstehen und erkennen können, können wir ihn hoffentlich effektiver bekämpfen.

Ria Prilutski ist Soziologin und Mitglied von MediNetz Jena e.V.

Literatur

  • Wulf. D. Hund: »Rassismus«, Bielefeld 2007
  • Kritische Medizin München: »Über Rassismus in der Medizin – Ein Essay der Kritischen Medizin München«, 2020, in:
  • https://kritischemedizinmuenchen.de/ueber-rassismus-in-der-medizin/
  • Birgit Rommelspacher: »Was ist eigentlich Rassimus?«, in: Claus Melter/Paul Mecheril: »Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung«, Schwalbach 2011, S. 25-38
  • Tino Plümecke: »Rasse in der Era der Genetik. Die Ordnung des Menschen in den Lebenswissenschaften«, Bielefeld 2013
  • Women in Exile & Friends: Campaign Newsletter Nr. 12, November 2017, unter: https://www.women-in-exile.net/newsletter/

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Rassimus im Gesundheitswesen, Nr. 3, Oktober 2020)


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