Der Grundstein ist gelegt, das Haus steht noch nicht
Tobias Henke zur neuen Approbationsordnung
Das Regelwerk für die Ausbildung von Mediziner*innen wird von Grund auf geändert – und die Weichen für die Ärzt*innen der nächsten Jahrzehnte damit neu gestellt. Tobias Henke hat sie aus Sicht der Bundesvertretung der Medizinstudierenden Deutschlands (bvmd) unter die Lupe genommen. Die Kritik an der Approbationsordnung könnte aus einer linken Perspektive sicher noch weiter gehen, ebenso die Forderungen.
Das Medizinstudium ist in den letzten Jahren stärker als je zuvor in den Fokus der Politik gerückt. Mit der Veröffentlichung des Masterplan Medizinstudium 2020 im März 2017 war klar, dass die Ausbildung von Ärzt*innen weitreichend reformiert werden soll. Dass dafür auch die Rechtsarchitektur des Medizinstudiums – und damit die Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO) umgebaut werden musste, war schnell klar.
Im November 2019 war das Bundesgesundheitsministerium dann soweit und teilte den Arbeitsentwurf zur reformierten Approbationsordnung mit einigen kommentarberechtigten Organisationen – darunter auch mit der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd).
Schnell wurde nach einer ersten Durchsicht der 182 Seiten umfassenden Verordnung klar: Es gibt viel Für und Wider. Zuerst einmal ist aber ein klarer Fortschritt erkennbar, denn die Ausbildung von Ärzt*innen soll in Zukunft konsequent kompetenzorientiert stattfinden. Mit der Stärkung von Praxisnähe sowie ärztlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen geht das Studium einen wichtigen Schritt in die Richtung qualitativ hochwertiger Patient*innenenversorgung.
Dafür wird die Struktur des Studiums verändert: Theoretische und klinische Studieninhalte werden im Rahmen eines sogenannten Z-Curriculums stärker verknüpft und bilden in der Theorie ein gutes Modell. Konkret bedarf es aber noch deutlicher Verbesserungen – so müssen in der Neufassung in fakultären Prüfungen vor dem ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung beispielsweise nur 10 % klinische Inhalte integriert sein – ein marginaler Anteil, der oftmals jetzt schon integriert ist, der aber die Strukturbemühungen des sich gerade in der Entwicklung befindlichen Nationalen Lernzielkatalogs Medizin (NKLM) konterkariert. Als Mindestvorgabe sollten daher wie in den Staatsexamina eher 20–30 % klinische Inhalte integriert werden, um die Synchronität von Lehre und Prüfung sicherzustellen.
Wirklich schade ist, dass die fakultären Leistungsnachweise nach wie vor kleinteilig an klassischen Fächern orientiert sein sollen. Dadurch bleiben wir hinter aktuellen didaktischen Möglichkeiten zur Curriculumsentwicklung zurück – und während Chemie und Physik Denkmalschutz genießen, bleiben digitale Kompetenzen einmal mehr auf der Strecke. Mehr noch: Digitale Lehrformate tauchen unter den anzubietenden Unterrichtsformaten nicht einmal als Begriff auf – nicht erst nach der Lehre in Corona-Zeiten dürfte das überholt sein. Lehrmethoden wie Blended-Learning, Flipped Classroom oder Gamification-Modelle (siehe Kasten S. 11) sind in anderen Studiengängen bereits vielfach implementiert und auch an einigen medizinischen Fakultäten pilotiert – und der Nutzen hochsignifikant publiziert.
Mit dem Studium ändern sich auch die Staatsexamina: Die Umwandlung der mündlichen M1-Prüfung in eine klinisch-praktisch strukturierte Prüfung stellt einen entscheidenden Schritt in Richtung Kompetenzorientierung und Vergleichbarkeit dar. Gerade letztere kann aber nur gewährleistet werden, wenn objektive Prüfungsschemata vorhanden sind und mehr als ein*e Prüfende*r anwesend ist – das ist bisher nicht vorgesehen, was durchaus verwundert. Ein Vier-Augen-Prinzip ist in weiten Teilen der Prüfungslandschaft Standard, das sollte es auch bei Staatsexamina sein – zum Schutze der Prüflinge und Prüfenden. Auch die finalen mündlichen Staatsexamensprüfungen, die im Entwurf als vierter Abschnitt der Ärztlichen Prüfung (M4) benannt sind, verbessern eine bisher wenig objektive und nicht ausreichend standardisierte Prüfung. Der erste Teil der neuen M4-Prüfung mit seiner eng am Absolvent*innenenprofil orientierten Struktur, der Bewertung mittels standardisierter Checklisten sowie der Signalwirkung für nötige Lehrinhalte des Praktischen Jahrs bietet einen deutlichen Mehrwert.
Ein großes Gewicht fällt in der neuen Approbationsordnung der Allgemeinmedizin zu. Schließlich weiß man im Bundesgesundheitsministerium um die demographische Entwicklung in Deutschland und die sich daraus ergebenden Versorgungsherausforderungen, vor allem in ländlichen Räumen. Sinnvoll ist daher die Integration längs durch das gesamte Studium, die durch stetes Wiederaufgreifen gelernter Inhalte einen nachhaltigen Kompetenzerwerb ermöglichen kann. Fraglich ist, ob die vorgesehenen acht Wochen Blockpraktikum in Lehrpraxen qualitativ gut umsetzbar sind. Aus Sicht der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland muss hier auf vier, maximal sechs Wochen korrigiert werden. Denn: Ein rein quantitativer Ausbau der Blockpraktika ist nicht zielführend und gefährdet eher die Qualität derselben. In der Allgemeinmedizin selbst gab es Zweifel, wie bei der ohnehin angespannten Zeitsituation insbesondere im ländlichen Raum derartige Kapazitäten für Lehre bereitgestellt werden sollen. Oder wie es ein Allgemeinmediziner ausdrückte: Motivierte Lehrpraxen fallen nun mal nicht vom Himmel. Deswegen wäre es sinnvoller, den engen Fokus auf das Fach Allgemeinmedizin auf den Bereich primärärztlicher Versorgung zu erweitern und die Realität der Primärversorgung zu berücksichtigen.
Ein wesentliches Anliegen für die Medizinstudierenden ist seit jeher das Praktische Jahr (PJ). Die Verbesserung der strukturellen Anforderungen an die Lehre wie die Bereitstellung eines eigenen Arbeitsplatzes, Zugang zum Patientenverwaltungssystem und klar definierte Verantwortlichkeiten für die Betreuung der Studierenden sind ein Schritt in die richtige Richtung. Ein wichtiger und wesentlicher Punkt jedoch fehlt: Die Integration einer Mindestaufwandsentschädigung für PJ-Studierende in Höhe des BAföG-Höchstsatzes zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Studierende, die 40 Stunden und mehr pro Woche zur Patient*innenversorgung, aber auch Patient*innensicherheit beitragen, können nicht noch nebenher ihren Lebensunterhalt in Nebenjobs erarbeiten. Findet eine solche Regelung keinen Eingang mehr in die ÄApprO, scheitert die Neuordnung an einer sensiblen Stelle: Nicht nur soziale Ärzt*innen auszubilden, sondern auch sozial Ärzt*innen auszubilden.
Insgesamt ist also zu sagen: Der Grundbaustein für eine zukunftsfähige Ausbildung von Mediziner*innen ist gelegt. Er liegt an der richtigen Stelle für ein tragfähiges Fundament, hat aber noch teils scharfe Kanten, die des Nachschleifens bedürfen. Und mit dem gelegten Grundstein ist noch kein Haus gebaut, weitere Regelwerke müssen angepasst werden. Nur wenn die Kapazitätsverordnungen an den erhöhten Bedarf an kapazitätsrelevanten Ressourcen, wie z.B. für Lehre einkalkulierte Vollzeitäquivalente angepasst werden, kann Rechtssicherheit für Fakultäten und Studienanwärter*innen geschaffen werden. Nur wenn der Entwicklungsprozess von Nationalen Kompetenzbasierten Lehrmittelkatalogen und den Gegenstandskatalogen produktiv voranschreitet – gewährleistet durch eine gemeinsame, vermittelnde Kommission unter Federführung des BMG, kann die neue ÄApprO auch mit Inhalten gefüllt werden. Nur, wenn an den Universitäten frühzeitig mit der Lehrkonzeptentwicklung nach der neuen ÄApprO begonnen wird, kann die neue Approbationsordnung flüssig greifen. Und nur, wenn gute Lehre dann auch umgesetzt wird – dann kann die Mediziner*innenausbildung wirklich zukunftsfähig werden.
Tobias Henke ist Medizinstudent und Bundeskoordinator für Gesundheitspolitik in der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland (bvmd). Der Autor meldet keine finanziellen oder persönlichen Interessenskonflikte an.
Ergänzung der Redaktion
Blended Learning oder integriertes bzw. gemischtes Lernen bezeichnet lt. Wikipedia eine didaktisch sinnvolle Verknüpfung von traditionellen Präsenzveranstaltungen und modernen Formen von E-Learning. Das Konzept verbindet elektronische Lernformen mit den sozialen Aspekten der Face-to-Face-Kommunikation sowie ggf. dem praktischen Lernen von Tätigkeiten. Beim Blended Learning werden Präsenzphasen und Online-Phasen funktional aufeinander abgestimmt. Es soll Lernen, Kommunizieren, Informieren und Wissensmanagement, losgelöst von Ort und Zeit in Kombination mit Erfahrungsaustausch, Rollenspiel und persönlichen Begegnungen im klassischen Präsenztraining ermöglichen. (Sauter und Bender. 2004, lt. Wikipedia Blended Learning)
Flipped Classroom ist ein Modell des Blended Learning. Für den Unterricht bedeutet es eine Veränderung um 180 Grad. Im traditionellen Präsenzunterricht bildet die Lehrkraft die Brücke zwischen den Lernenden und dem Wissen. Im Flipped-Classroom-Modell bekommen die Studierenden hingegen direkten Zugriff auf die Lerninhalte. Die Lehrkräfte erfüllen dabei die Funktion von Coaches oder Mentor*innen und die Studierenden bereiten sich auf den Präsenzunterricht selbst vor. Während des Unterrichts können Lehrkräfte sich dann auf die Anwendung und die Vertiefung des Lernstoffs fokussieren. Die Studierenden sollen ihre Hausaufgaben vorbereitet haben und so über das Basiswissen zum Thema verfügen. Während der Unterrichtszeit können sie daher tiefer in die Materie einsteigen und Fragen stellen. So erfahren die Lehrkräfte, welche Probleme die Studierenden haben.
Gamification Modelle: Serious Games sind Spiele, die primär für einen didaktischen Kontext entwickelt werden und somit in Lehrveranstaltungen und Curricula integriert werden können. Deutlich gestiegene Serverkapazitäten ermöglichen es, aufwendige 3D-Simulationen anbieten zu können. Hierbei können sowohl ein hoher Realitätsgrad als auch Elemente der Gamification zur Motivationssteigerung gezielt didaktisch genutzt werden. Z.B. wird an der Uni in Göttingen eine digitale Simulation einer Notaufnahme im Rahmen der Pflichtlehre eingesetzt. In Kleingruppensitzungen von 18 bis 50 Studierenden übernehmen die Teilnehmenden jede*r für sich die ärztliche Tätigkeit in der virtuellen Notaufnahme. Es müssen hierbei bis zu zehn Patient*innen parallel behandelt werden. Die Termine werden von erfahrenen Ärzt*nnen begleitet, die für inhaltliche Fragen zur Verfügung stehen. So sollen die Studierenden lernen können, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen, ohne echte Patient*innen zu gefährden. Und diese soll ermöglichen, den Umgang mit relevanten Krankheitsbildern standardisiert zu lehren und parallel mehr als eine Kasuistik zu bearbeiten.
(Siehe https://hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/serious-games-im-medizinstudium-nun-lasst-den-worten-daten-folgen)
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ausbildung Gesundheitsberufe, Nr. 2 Juni 2020)