Viele Probleme schon damals gelöst
Udo Schagen zum Studium der Medizin in der DDR
Zehn Jahre lang, heißt es,
Hast du in schönen Schulen
Die auf Kosten des Volkes errichtet wurden
Gelernt, zu heilen, und für deine Wissenschaft
Ein Vermögen ausgegeben.
Du mußt also heilen können.
Kannst du heilen?
Bertolt Brecht
Seit 1990 gelten für das Medizinstudium an den Hochschulen der neuen Bundesländer die Rechtsvorschriften der neuen Bundesrepublik Deutschland. Ein Teil des ausbildenden Personals verblieb weiter in Kliniken und Instituten der Universitäten (Rostock, Greifswald, Berlin, Halle, Leipzig und Jena) sowie der Medizinischen Akademien (Magdeburg und Dresden) sowie Erfurt, die inzwischen als Hochschuleinrichtung nicht weitergeführt wurde. Sie brachten zwar ihre Erfahrungen in die Ausbildung nach den neuen Vorschriften ein, aber das Studium war schrittweise dem der westdeutschen Universitäten angepasst worden.
Dieser Prozess wurde durch massiven Stellenabbau sowie durch Berufungen westdeutscher Professoren beschleunigt. Die Qualität der Ärzteausbildung in der DDR im Vergleich zur alten BRD war nie ernsthaft bezweifelt worden. Im Gegenteil, es bestand sowohl in Bundes- und Länderministerien wie in den Ärztekammern Konsens, alle ärztlichen Examina der Ausbildungs- wie der Weiterbildungsphase ohne Weiteres anzuerkennen.
75 Jahre nach Kriegsende und der Bildung zweier deutscher Staaten Raum für den Blick auf die Ausbildungsbedingungen zwischen 1945 und 1990 in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR zu geben, ist im allgemeinen Diskurs zu den Nachkriegsjahrzehnten eher die Ausnahme. 1990 hatte ein Fünftel der Gesamtbevölkerung der vereinigten Republik ihr Leben in der DDR verbracht. Diese Sozialisierung wirkt auf die nachgeborenen Jahrgänge weiter. Mir scheint es unumgänglich, die damaligen sowie die Erfahrungen der nachfolgenden Generationen in jede historische Betrachtung einzubeziehen.
Im hier zur Verfügung stehenden Raum ist es nicht möglich, ein vollständiges Bild des Medizinstudiums in der DDR zu geben. Einige bedenkenswerte Charakteristika der DDR-Ausbildung werden vorgestellt, die Kommentierung wird zugunsten der Darstellung von Fakten beschränkt. Am Ende finden sich die Nachweise für alle Angaben sowie auch zusätzlich ausgewählte Literatur.
Das Studium in der DDR orientierte sich an der deutschen Tradition und den bis zum 19. Jahrhundert entwickelten Zulassungsordnungen für den Arztberuf – im Unterschied zu den unter völlig anderen Voraussetzungen entstandenen Anforderungen der Sowjetunion oder Großbritanniens. Anders hätte auch die schon erwähnte prinzipielle Anerkennung aller Abschlüsse nicht erfolgen können.
Besonders dargestellt werden daher
- Ausbildungskapazität und Studenten-Dozenten-Relationen
- Zulassung zum Studium, Frauenförderung, Stipendien,
- die Bedeutung des Akademiker-Verlustes an die BRD,
- das Ausbildungsziel der Hochschulen.
Nicht behandelt wird hier, wieweit die mit der BRD-Approbationsordnung (ApprOÄ) nicht kompatiblen Bestandteile, das Pflegejahr vor der Zulassung und die Militärmedizinische Qualifizierung bzw. das Medizinische Zivilverteidigungspraktikum, den Wissens- und Könnensstand der Absolventen beeinflusst haben. Auch dazu wird auf die Literatur verwiesen.
Ausbildungskapazitäten und Student-Dozent-Relationen (Schagen 1993a)
Die Gesamtzahl der Absolventen im Studienfach Medizin pro Jahr betrug 1989
- in der DDR 1.615, bei 16,7 Millionen also 9,6 Absolventen/100.000 Einwohner,
- in der BRD 9.846, bei 61,7 Millionen also 16 Absolventen/100.000 Einwohner.
Die Zahl der berufstätigen Ärzte (Arztdichte) betrug 1990 in er DDR 254 Ärzte/100.000 Einwohner und in der BRD 316/100.000 Einwohner, damals beides im internationalen Vergleich ein Wert auf den ersten Rängen. Die Zahlen für Studienanfänger lagen in den alten Bundesländern nach früherem kontinuierlichem Anstieg etwa ab Beginn der achtziger Jahre relativ konstant bei 11.000 bis 12.000 Studenten jährlich, in der DDR stiegen sie in diesem Zeitraum ebenfalls nur noch von ca. 1.700 auf über 1.800. Den Stand vor der Vereinigung gibt die Tabelle 1 wieder.
Ausgehend von den tatsächlichen Gesamt-Absolventenzahlen westdeutscher Universitäten der letzten Jahre (1989: 9.314) sowie den vorliegenden Untersuchungen über Studienabbrecher ergab sich sechs bis sieben Jahre später die Absolventenzahl von etwa 330 im Durchschnitt für die westdeutschen Hochschulen, für die DDR (1989: 1.515) von knapp 170. Auffälligster Unterschied waren die pro Jahr aufgenommenen und ausgebildeten Studenten. Westdeutsche Hochschulen wiesen eine Jahrgangsstärke von ca. 400 auf, ostdeutsche etwa die Hälfte. Um erste Rückschlüsse auf die Ausbildungsintensität zu erlauben, sollen Lehrpersonal- und Bettenzahlen für die klinische Unterweisung mitbetrachtet werden. Als Beispiel dienen die Berliner Hochschulen mit folgenden Anhaltswerten für 1990:
Für die FUB wurden, grade weil dadurch der Vergleich schärfer wird, die Studentenzahlen für das 13. und höhere Fachsemester nicht aufgeführt, da sie keine zusätzliche Lehrbelastung verursachten. Die Personalzahl für die HUB enthält, da sie anders nicht zur Verfügung stand, auch die Dozenten für Zahnmedizin, Medizinpädagogik, Krankenpflege und sog. Fremdausbildung mit insgesamt zusätzlichen 1.291 Studenten. Selbst wenn die Personalzahl deshalb um ein Drittel reduziert werden müsste, beliefe sich das Student-Dozent-Verhältnis für die FUB auf 4,2:1 und für die HUB auf 2,2:1. Das Student/Bett-Verhältnis für die FUB wäre 1,4:1, für die HUB 1,2:1. Da es in erster Linie um die früheren Studienbedingungen geht, bleiben die späteren für beide Universitäten, insbesondere aber für die Charité, empfohlenen und dann umgesetzten drastischen Reduzierungen von Betten und Personal hier außer Betracht.
Für die westdeutschen Universitäten wurde zum Wintersemester 1990 aufgrund der 7. Novellierung der ApprOÄ, die ein intensivere Studentenbetreuung zum Ziel hatte, eine Reduzierung der Zulassungszahl um ca. 20 % angestrebt und umgesetzt. Eine überschlägige Berechnung ergibt, dass bei Übernahme der westdeutschen Rechtsvorschriften (Approbationsordnung, Landeshochschulrecht) die Charité‚ statt der früheren jährlichen Zulassung von 300–400 Studenten mindestens 450–600 hätte zulassen müssen, also ohne die inzwischen eingeleiteten Betten- und Personalreduzierungen eine Erhöhung um ca. 50 % die Folge gewesen wäre. Wird davon ausgegangen, dass sich die Situation an den anderen DDR-Hochschulen ähnlich darstellte, so hätte dies dort eine Erhöhung der Ausbildungskapazität um insgesamt ca. 800 im Jahr ergeben. Die mit großem Aufwand betriebene Reduzierung der Studienplätze an den westdeutschen Hochschulen wäre auf alle deutschen Hochschulen gesehen schlagartig wieder um mindestens ein Drittel vermindert, die Zahl der Studenten also nicht so stark reduziert worden. Der Weg, dies zu verhindern, war die schrittweise erfolgende Personalreduzierung an den Hochschulen der neuen Länder einschließlich des Beschlusses, Erfurt als Sitz einer Medizinischen Fakultät ganz aufzugeben.
Zulassung zum Studium, Frauenförderung, Stipendien
Der spätere Leiter des Instituts für Pathologische und Klinische Biochemie der Charité, Johann Gross, schreibt in seinen autobiographischen Notizen:
»Im Jahre 1956, ich war in der 11. Klasse, informierte unser Klassenlehrer über die Möglichkeiten eines Studiums in der Sowjetunion (SU). Die Vorbereitung darauf und der Abschluss des Abiturs erfolge an der Arbeiter- und Bauern Fakultät ›Walter Ulbricht‹ (ABF II) in Halle. Die Arbeiter und Bauernfakultäten (ABF) waren Bildungseinrichtungen, die vor allem Arbeitern und Bauern, auch älteren Personen, die Möglichkeit bot, das Abitur zu machen. Als Folge des 2. Weltkrieges hatten viele junge Menschen keine Chance, das Abitur abzulegen (…). Das galt erst recht für Kinder von Arbeiter und Bauern, denen aus sozialen Gründen der Weg in die Universitäten verstellt war. Es galt auch, eine neue Intelligenz mit antifaschistischer Gesinnung heranzubilden. Ich bewarb mich aus zwei Gründen: 1. Das Studium in Moskau erschien mir sehr interessant, schließlich hatte die SU den Faschismus besiegt. Eine zweite Sprache perfekt zu erlernen, erschien mir ebenfalls erstrebenswert. (…) 2. Der Wechsel an die ABF II in Halle bedeutete zugleich eine finanzielle Entlastung meiner Eltern. Man galt an der ABF als Student und erhielt ein Stipendium von 188 M monatlich. (…) 1957/58 änderte sich die Linie des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen für das Medizinstudium in der SU, dieses wurde eingestellt. Offensichtlich waren die Studienkonzepte für die Ausbildung (…) zu unterschiedlich.« (Gross 2020)
Arbeiter- und Bauernkinder wurden, zu Lasten der Kinder aus bürgerlichem Elternhaus, bevorzugt zugelassen. Hinter dieser Feststellung verbirgt sich allerdings eine hohe Komplexität der Entwicklung dieses Prinzips im Einzelnen, auf die hier nicht eingegangen werden kann. Es muss, wie auch für die folgende Darstellung des Frauenanteils, auf die Literatur verweisen werden (Schagen 1996, 2009). Sie kam auf dem Hintergrund besonderer Förderung zustande. Schon 1964 lagen die Anteile für Absolventinnen des Humanmedizinstudiums bei 56,2 %. Dies wirkte sich bis zum Ende der DDR in folgender Weise aus:
Tab. 3 Die Entwicklung des Anteils der Ärztinnen an allen berufstätigen Ärzten in Prozent
Das Prinzip der besonderen Förderungen bis dahin aus sozialen Gründen selten zum Studium gekommener Studenten machte eine familienunabhängige Finanzierung erforderlich. Ab 1951 erhielten alle (!) Studenten unabhängig vom Familieneinkommen der Eltern ein, später auch erhöhtes, Stipendium in Höhe von 180 Mark als Grund- und zusätzlich bis zu 80 M als Leistungszulage. Ein aus ökonomischen Gründen vom Staatssekretariat für das Hochschulwesen der DDR 1955 unternommener Versuch, Stipendien wieder in Abhängigkeit vom Elterneinkommen zu vergeben, scheiterte auch am Widerstand der Studenten. An Beträge in dieser Höhe war zum damaligen Zeitpunkt in der alten Bundesrepublik nicht zu denken. Das Studentenwerk Göttingen ging für die alte BRD z. B. für 1953/1954 von monatlichen Studienkosten ohne Gebühren von DM 145 aus. Stipendien hätten so gut wie nie die Höhe des Bedarfs erreicht. Nicht einmal ein Recht auf eine einkommensabhängige finanzielle Studienförderung, etwa im Sinne des zum WS 1957/58 eingeführten Honnefer Modells, das ca. 15–20 % aller Studenten in Anspruch nehmen konnten und des ab 1971 an seine Stelle tretenden BAFÖG, gab es damals in der BRD (Schagen 2001a).
Die Bedeutung des Akademiker-Verlustes an die BRD
Ein großes Problem des DDR-Gesundheitswesens war die Aufrechterhaltung einer der Erweiterung prophylaktischer, therapeutischer und metaphylaktischer Möglichkeiten entsprechenden Arztdichte.
Aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wissen wir, dass »allein bis 1961 (…) über 97.000 akademisch ausgebildete Fachkräfte die DDR verlassen « haben. (Köhler 1995 nach Buck-Bechler in: Benndorf u.a. 2001, S. 91). Im Jahr 1961 stammten 10.267 Ärzte, das waren 10,9 % aller Ärzte in der Bundesrepublik, aus der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR, weitere 14,5 % waren schon bei Kriegsende aus diesem und den früheren deutschen Ostgebieten stammende Ärzte. Die bekannte, besonders enge Verflechtung der deutschen Ärzteschaft mit den Organisationen das Nationalsozialismus hatte dazu geführt, dass der größte Anteil dieser Ärzte schon zum Kriegsende und kurz darauf die von der sowjetischen Armee eroberten Gebiete Richtung Westdeutschland verlassen hatte. Der Anteil der »SBZ-Flüchtlinge« (BRD-Terminologie bis in die siebziger Jahre) in der Ärzteschaft bzw. der »Republikflüchtigen« (DDR-Terminologie) war bei den west westdeutschen Ärzten doppelt so hoch wie im Durchschnitt der westdeutschen Bevölkerung. 10.267 Ärzten aus der DDR, die in der Bundesrepublik tätig waren, standen in der gesamten DDR nur 14.592 berufstätige Ärzte gegenüber! Von der Gesamtzahl der jeweiligen Medizinstudenten in der DDR wurden für die Jahre 1959 und 1961 29 bzw. 21 %, für 1960 sogar 44 % als »Abgangsquote « registriert und mindestens für einen Kreis von Fachleuten veröffentlicht. Diese Zahlen sind keine »normalen« Abbrecherquoten, was bei Berücksichtigung des schon damals bestehenden Betreuungssystems der Studenten in Seminargruppen als ganz unwahrscheinlich anzunehmen wäre, sondern sie sind nur auf dem Hintergrund der »Republikflucht« zu erklären. Insgesamt musste diese Situation zu besonderen Anstrengungen um die Erhöhung der Studienplatzzahlen in der Medizin führen, u.a. zur Gründung der drei Medizinischen Akademien in Magdeburg, Dresden und Erfurt. (Schagen 1996). Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 hatte diese Migration von Ost- nach Westdeutschland ein abruptes Ende.
Das Ausbildungsziel der Hochschulen
Zwei umfangreiche Publikationen geben Informationen über die Entwicklung und Gestaltung des Studiums in den unterschiedlichen Phasen der beiden deutschen Staaten: Ein 500 Seiten starker Band zu »Neuen Wegen in den Fakultäten«, der 1993 als Ergebnis der Kooperation von über 60 Autoren aus Ost und West erschien (Habeck u.a. 1993). Die Berichte von über 15 meist in verantwortlicher Position an der Studienreform der beiden Staaten Beteiligter wurden 2000 auf einer Wissenschaftlichen Arbeitstagung vorgestellt und dokumentiert. Auch hieraus können nur einzelne Aspekte hervorgehoben werden. (Benndorf u.a. 2001)
Ein in der alten Bundesrepublik unbekannter Aspekt war die Aufteilung der Studienjahrgänge in auf Dauer zusammengehörige Seminargruppen von ca. 20 Studenten mit einem ausgewählten und festen Betreuer aus dem Kreis der Dozenten, deren Aufgabe es war:
- »die Studenten in allen politisch-ideologischen, geistig-kulturellen, allgemein fachlichen und persönlichen Problemen zu beraten und zu betreuen,
- die Gemeinschaftsarbeit zwischen Hochschullehrern und Studenten maßgeblich mitzugestalten und zu entwickeln,
- die Arbeit der gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere des sozialistischen Jugendverbandes, zu unterstützen,
- die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Mentoreinrichtungen, den Einrichtungen des Berufspraktikums und den von ihnen betreuten Gruppenkollektiven zu unterstützen und im Rahmen eines Aufgabengebietes enge Beziehungen zu diesen Einrichtungen zu unterhalten.« (Ausbildungs- und Erziehungsprogramm von 1969, in Benndorf u.a., 2000, 116).
Eine wesentliche Aufgabe dieser Seminargruppen war es auch, dafür zu sorgen, das jedes Mitglied über die gegenseitige Unterstützung der Gruppe alle Examina und somit den zeitgerechten Fortgang im Studium durchlaufen konnte. Statt Konkurrenz sollte hier also Kooperation und gegenseitige Unterstützung gelernt werden.
In der alten Bundesrepublik war das Studium »auf eine Ausbildung auszurichten, welche die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen und selbständigen Ausübung des ärztlichen Berufs« zum Ziel haben sollte. Der Begriff »selbständig« wies im gesundheitspolitischen Diskurs auf das Recht zur Niederlassung in eigener Praxis hin, assoziierte also immer die Möglichkeit der vollständig selbständigen Ausübung des ärztlichen Berufs in eigener Praxis. Gleichzeitig bestand aber unter den für die Lehre Verantwortlichen schon lange Konsens, dass die Fakultäten dies seit langem nicht mehr leisten konnten. Die Vorschrift war und blieb das Ergebnis des langjährigen Kampfes ärztlicher Standesvertreter, die damit eine ansonsten unvermeidliche Pflichtweiterbildung vor der Niederlassung verhinderten. Die DDR kannte dagegen eine mindestens vierjährige obligatorische Weiterbildung für alle Ärzte im Anschluss an das Medizinstudium. Daher konnten die Inhalte der Basisausbildung an der Hochschule auf die wesentlichen Punkte reduziert und das für eine selbständige Tätigkeit notwendige Spezialwissen dann in der Weiterbildungsphase vermittelt werden. (Schagen in Habeck u.a. 1993, S. 4/5).
Zusammenfassung
Mindestens bis zum Mauerbau 1961 hatte das DDR-Studien und -Gesundheitswesen mit der Abwanderung von Ärztinnen und Ärzten in den Westen zu kämpfen. Im Sinne eines Brain-Drain profitierte die alte Bundesrepublik von den hohen Investitionen der DDR in ihr Bildungswesen in erstaunlichem Maße – etwa wie dies für die ökonomisch besser aufgestellten alten Kolonialmächte gegenüber Entwicklungsländern der Fall war.
Zum Zeitpunkt des Beitritts der neuen Bundesländer sprachen die wichtigsten objektiv zu erfassenden Basisdaten für qualitativ bessere Bedingungen des Medizinstudiums an den Fakultäten der DDR im Vergleich zur alten Bundesrepublik. Das Verhältnis sowohl von Dozenten wie von Betten zu den Studienjahrgängen war deutlich günstiger. Die Unterstützung der Studenten bei der Aneignung des Stoffes durch die Organisation des Unterrichts in kontinuierlich betreuten Seminargruppen von je 20 Studenten war deutlich größer. Zudem waren die Studienjahrgänge je Hochschule kleiner und damit sowohl für die Studierenden wie für die Dozenten besser überschaubar.
Die heute wieder viel diskutierte und beklagte kontinuierliche Reproduktion neuer Ärztegenerationen aus der gleichen sozialen, in der Regel besonders privilegierten, Schicht und die gleichzeitig weiter bestehende Benachteiligung von Studienbewerbern aus bildungsfernen Schichten, in der DDR-Terminologie: Arbeiter- und Bauernkinder, war in der DDR bzw. schon in der SBZ aufgrund grundsätzlicher politischer Entscheidungen zum Hochschulzugang auf einen anderen Weg gebracht worden. Dies ging mit einer sehr frühen Regelung der familienunabhängigen Stipendienvergabe für alle Studenten einher, so dass im Unterschied zu der in diesem Heft geschilderten Situation (siehe den Beitrag, S. 12ff.) keine finanziellen Hürden mehr vor der Aufnahme eines Studiums bestanden.
Ebenfalls sorgten schon kurz nach dem Krieg besondere Förderprogramme dafür, dass der Frauenanteil zunächst im Studium, dann aber auch bei den berufstätigen Ärztinnen zu gleichberechtigten Anteilen an den Absolventen aber auch der Berufstätigen führten, von denen die Bundesrepublik weit entfernt war. Sogar bei den leitenden Positionen konnte ein zwar langsamer aber doch auch deutlicher Anstieg beobachtet werden (Schagen 1996).
Das ebenfalls in diesem Heft (siehe Beitrag S. 7ff.) beklagte Kernproblem der bei uns immer noch bestehenden völligen Desintegration von Ausbildung und Weiterbildung war in der DDR dadurch gelöst, dass das Ausbildungsziel des Hochschulstudiums in verlässlicher Weise mit den Weiterbildungszielen der Facharztqualifikation über die staatliche Verantwortung und die Organisation des Übergangs verknüpft war.
Udo Schagen ist Arzt; er leitete von 1986 bis 2004 die Forschungsstelle Zeitgeschichte der Medizin, zunächst an der FUB und dann an der Charité / Universitätsmedizin Berlin.
Literatur
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