Strukturell autoritativ und tendenziell schädlich
Norbert Schmacke und Heinz-Harald Abholz über Gesundheits-Apps
Gesundheits-Apps werden in großem Umfang angeboten und gelten in der Debatte um die Digitalisierung des Gesundheitswesens z.T. bereits als Meilenstein zur Verbesserung der Gesundheitschancen. Der entsprechende Markt ist weitgehend unreguliert. Norbert Schmacke und Heinz-Harald Abholz stellten schon Anfang 2019 gesundheitspolitische sowie medizintheoretische Überlegungen zu den Grenzen dieser Apps in Bezug auf Versorgungsverbesserungen im Vergleich zu traditionellen Beratungsmedien an. Sie kommen zu dem Schluss, dass fast durchgängig angemessene Nutzen- und Schadenbelege fehlen. Die Gesundheitspolitik ist inzwischen schon einen Schritt weiter…
Die Entwicklung von Apps ist zum Thema des Fortschritts in der gesundheitlichen Versorgung geworden. Diese werden gar als ein realisiertes Beispiel der Digitalisierung im Gesundheitswesen benutzt. Was ist dazu bisher an Nutzenbelegen vorgelegt worden, und können Apps überhaupt zu einer verbesserten Versorgung beitragen? Das sind die Fragen, die im Folgenden beantwortet werden sollen.
Politische Wahrnehmung von Gesundheits-Apps
Chancen und Risiken von Gesundheits-Apps« lautet der Titel einer vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Studie [1], deren Ergebnis vom BMG wie folgt kommuniziert wurde: »Medizinische Apps bieten zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten, z.B. für Selbstmanagement und Therapietreue sowie Prävention und Gesundheitsförderung. Umfassende Belege für den Nutzen fehlen bisher. Allerdings gibt es einzelne Hinweise darauf, dass Apps eine positive Auswirkung auf die Zunahme der körperlichen Aktivität, die Anpassung der Ernährung und die Gewichtskontrolle haben können. Die Studie empfiehlt, die weitergehende wissenschaftliche Evaluation von Präventions-Apps sowie Apps zur Diagnostik und Therapie zu fördern, um mehr Evidenz zu schaffen« [2]. Nutzenbelege, gar an medizinisch relevanten Outcomes gemessen, liegen nicht vor.
Der damals zuständige Minister Gröhe kommentierte diese Studienanalyse: »Für viele sind Apps heute schon ein Ansporn, sich mehr zu bewegen, sich gesünder zu ernähren – und sie unterstützen z. B. auch bei der regelmäßigen Einnahme von Medikamenten. Das kann vielen Menschen eine wertvolle Hilfe sein. Doch bei mehr als 100.000 Gesundheits-Apps ist es für Bürger, aber auch für Ärzte nicht einfach, zwischen guten und schlechten Angeboten zu unterscheiden. Nötig sind klare Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Patienten, medizinisches Personal und App-Hersteller« [3]. Damit liegt eine bis heute gültige Einschätzung vor, die »nur« noch die Frage aufwirft, welche Nutzen- und Sicherheitsbelege denn von den Herstellern von Gesundheits-Apps verlangt werden müss(t)en, um sie als begründbar marktfähig oder gar von der GKV als erstattungsfähig zu betrachten.
Die Bertelsmann Stiftung kommt in ihrer Analyse von Apps aus dem Jahre 2018 zu dem Ergebnis, »dass die neue Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation) und die Risikoklassifizierung im Grundsatz auch für Digital Health anwendbar sind.« [4]. Und das bedeutet für die Bertelsmann Stiftung zugleich, »dass sich Digital-Health-Anwendungen in ihrer Art deutlich von anderen Innovationen im Gesundheitswesen unterscheiden. Entsprechend sind bisherige Logiken und Verfahren nicht 1:1 auf diesen neuen Innovationsbereich übertragbar.« [5].
Wenn die Medizinprodukteverordnung das schärfste Regulierungsinstrument für gesundheitsrelevante Apps sein soll, so schließen wir uns der Einschätzung des arznei-telegramms an: »Wesentliche Informationen zu Nutzen und Schaden bleiben Fachkreisen und Patienten weiterhin vorenthalten: Die bei Arzneimitteln in der EU üblichen öffentlich zugänglichen Bewertungsberichte wird es für Hochrisiko-Medizinprodukte (Klasse III) auch in Zukunft nicht geben« [6]. (…)
Anwendungsgebiete für Gesundheits-Apps
Ernährung und Bewegung: Belege für anhaltende Effekte fehlen. Immerhin gibt es zum Ziel der Gewichtsreduzierung eine RCT [8] und aus demselben Jahr ein Studienprotokoll für eine weitere RCT [9]. Ein Fortschritt gegenüber bestehenden Ansätzen der Gewichtreduktion ist danach nicht in Sicht; wenn überhaupt müssten derartige Apps in mehrdimensionale Konzepte integriert und dann entsprechend getestet werden. Und keine App hat bislang im Bereich der Präventionskonzepte krankheitsspezifische Outcomes erhoben.
Selbstmanagement: Im Mittelpunkt steht z.B. die Kommunikation zwischen Versorgern und Patienten: »Ob eine nachhaltige Verbesserung des Selbstmanagements durch die Verwendung von Apps erzielt werden kann, ist derzeit unklar« [10].
Telemedizinische Versorgungskonzepte: Hier wird für die Diagnostik in Dermatologie sowie Radiologie z.T. Überlegenheit technikbasierter Auswertungs-Verfahren gegenüber ärztlicher Befundbewertung geltend gemacht. Das BMG-Gutachten weist zu Recht darauf hin, dass es wichtig sei, die Validität der Diagnosen dabei zu überprüfen [11], was bisher in keiner Studie erfolgt ist.
Internetbasierte Behandlungsprogramme werden gehäuft für psychische Erkrankungen, hier vor allem für Angststörungen und Depressionen, angeboten; in diesem Fall sogar auch in Form von kontrollierten Vergleichen in Studien. Der Klassiker ist hierbei die personelle Behandlung von Depressionen im Vergleich von Internetbasierten Programmen und kognitiver Verhaltenstherapie. In einer Übersichtsarbeit bewerten Carlbring et al die Ergebnisse vorliegender und bewertbarer Studien als vielversprechend, weisen aber darauf hin, dass echte Vergleiche zwischen krankheitsbezogenen internetbasierten und face to face Ansätzen ebenso fehlen wie Studien mit Langzeitergebnissen zu Outcomes. [12]
Wertschätzung versus Bewertung von Gesundheits-Apps
Der Gesundheits-App-Hype hat weiter Gründe, die über eine Technik-Begeisterung hinausgehen: »Mit Hilfe von zielgruppengerechten Angeboten zu Gesundheitsförderung und Prävention über Apps wollen Krankenkassen/-versicherungen besonders junge Menschen auf sich aufmerksam machen und als Kunden gewinnen. Der tatsächliche gesundheitsbezogene Nutzen von solchen Präventions-Apps bleibt allerdings unklar. Damit Apps in Diagnostik und Therapie durch die Versicherten erfolgreich eingesetzt werden können, bedarf es einer professionellen Beratung und Anleitung. Dabei unterscheiden sich Apps nicht von anderen medizinischen Leistungen« [13].
Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung ist u.a. die jüngste Politik der Techniker Krankenkasse zu sehen, ihren Versicherten eine Diagnostik-App zur Verfügung zu stellen. Auf der Homepage der TK heißt es dazu: »Nutzer der App ›Ada‹, die TK-versichert sind, können dort ihre Beschwerden eingeben, erhalten eine persönliche Analyse und werden auf Wunsch über passende digitale Versorgungsangebote der TK informiert. In der zweiten Ausbaustufe, die voraussichtlich Anfang 2019 startet, können TK-Versicherte den Symptomcheck direkt über die neue ›TK-Doc‹-App nutzen. Nach der Bewertung mittels Künstlicher Intelligenz können sie auf Wunsch das Ergebnis über die App unmittelbar telefonisch, per Mail, per Text- oder Video-Chat mit einem Arzt besprechen« [14]. Eine Evaluation zu Nutzen und Schaden dieses Konzeptes liegt nicht vor. Der eklatante Kontrast zur Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung [15] liegt auf der Hand, wird aber bisher weder von der Politik noch der gemeinsamen Selbstverwaltung als Problem angesprochen.
Der Sachverständigenrat hat in seinem 2018er Gutachten treffend festgestellt, dass digitale Technologien aus methodischer Sicht als komplexe Interventionen zu verstehen sind, die angemessen zu untersuchen sind, möglicherweise auf Grund der hohen Wandelbarkeit von Apps mit einem erweiterten Instrumentarium: »Agile Evaluationsmethoden, die auch in der Lage sind, modulare, sich iterativ weiterentwickelnde Interventionen valide zu bewerten, sind hier erforderlich z. B. SMART: Sequential Multiple Assignment Randomized Trial Method oder CEEBIT: Continuous Evaluation of Evolving Behavioral Intervention Technologies« [16]. Diese Forderung ist von der Politik bislang nicht aufgegriffen worden.
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat eine Orientierungshilfe zur Einordnung von Gesundheits-Apps [17] entwickelt, misst dieser aber selber nur den Charakter von Anhaltspunkten und Hinweisen zu. Und es heißt dann an der entscheidenden Stelle: »Die Entscheidung bzgl. der Abgrenzung und Klassifizierung, welche anhand der konkreten Zweckbestimmung der Software vorzunehmen ist, sowie des entsprechenden Inverkehrbringens obliegt jeweils dem Hersteller (Verantwortlicher nach § 5 MPG), ggfs. in Abstimmung mit einer benannten Stelle«. Von methodischen Anforderungen an die Evaluation ist nicht die Rede.
Im internationalen Schrifttum wiesen Boulos et al schon 2014 darauf hin [18], dass es bei einer damals geschätzten Zahl von 40.000 gesundheitsbezogenen Smartphone-Apps keine verwertbaren Nutzenbewertungen gebe. Und im Rahmen der Differenzierung unterschiedlich relevanter Gesundheits-Apps forderten Maddox et al 2018 [19] dass alle Ansätze von »artificial intelligence«, die den Anspruch erheben, die medizinische Versorgung zu verbessern, dieselben Evidenzbelege zu Nutzen und Schaden liefern müssen wie die Interventionen klassischer Medizin. Die FDA, [20] so diese Autorengruppe, habe das Problem zwar erkannt, lasse aber bislang klare Regularien vermissen.
Es ist überfällig, den weiter expandierenden Markt an Gesundheits-Apps fortlaufend zu analysieren und zu regulieren [21, 22]. So sehr viele der Angebote auch heute noch den Charakter von belanglosem Spielzeug haben mögen, so notwendig ist es im Licht der dramatischen Erfahrungen mit den Medizinprodukten, die Einführung aller Apps, die den Anspruch erheben, bestehende Standards der Diagnostik und Therapie verbessern zu können oder kostengünstiger als die Medizin des menschlichen Kontaktes zu sein, vor Einführung in die gesetzliche Krankenversicherung (gleiches gilt im Prinzip für die PKV) von dem Vorliegen belastbarer Studienergebnisse abhängig zu machen: Sie gehören in den bestehenden Zyklus der Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsverfahren.
Zu den Kriterien für die Zulassung von Apps müsste eine Validierung diagnostischer und prognostischer Tools – wie überwiegend im Medizinbereich schon umgesetzt – gehören. Geschieht dies nicht, so ist mit einer hohen Zahl falsch-positiver als ggf. auch falsch-negativer Ergebnisse zu rechnen. Diese gefährden Nutzer wie Ärzte und erzeugen bei der dann notwendigerweise anfallenden Abklärungsdiagnostik hohe Kosten und manchmal sogar körperliche Schäden. Dies alles geschieht dann zu Lasten der Kassen – zumal davon fest auszugehen ist, dass ein Nutzer sich nicht allein aufgrund von »nur« Anamnese und einfachen Untersuchungen belehren lassen wird, dass sein App-Ergebnis fehlerhaft sei. Wie stark fehlerhaft die meisten Apps sein dürften, zeigen Untersuchungen zur Künstlichen Intelligenz, bei denen hundertfache Befunde ins Kalkulationssystem eingegeben werden, dennoch die Vorhersage zur Prognose weiterhin mehr als mager ist [23,24]. Auch für therapeutische Tools können keine anderen Qualitätsmaßstäbe gelten als sie vom Gesetzgeber für die klassische Medizin gefordert werden. Ansonsten wird es zu Fehl-Behandlungen mit ggf. Schaden beim so definierten Patienten kommen.
Es ist m.a.W. dringend erforderlich, ein Kriterienraster zu entwickeln, mit dem die Flut an Gesundheits-Apps systematisch gescannt und für Markt- und GKV-Zulassung je nach Nutzen- und Gefährdungspotential von belastbaren Belegen abhängig gemacht wird. Gleiches gilt für die immer häufiger von unterschiedlichsten Anbietern entwickelten elektronischen Gesundheitskarten mit ihren teils hoch sensiblen Daten. Der Handlungsbedarf wird in den USA massiv reklamiert [25, 26]. Auch Autoren, welche die Chancen digitaler Applikationen prinzipiell hoch bewerten, fordern größere Transparenz und Sicherheitsstandards im Sinne des Verbraucherschutzes ein [27]. In Bezug auf Gesundheits-Apps kommen aus den USA die ersten Nachrichten bzw. juristischen Verfolgungen von Daten-Übertragung der App-Eingaben an Betreiber Sozialer Netze [28].
Wo sind die »natürlichen« Limitationen der Gesundheits-Apps?
Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig zu klären, was von der »Logik einer App« her überhaupt möglich ist und ob dies zu Verbesserungen in der Versorgung führen kann oder sogar Schaden erwarten lässt. Hinter Apps stehen medizinische Algorithmen zu Diagnostik und Therapie. Diese fassen zusammen, was das Wissen zu einem Themenbereich – Diagnose, Beschwerden, Befunden etc. – beinhaltet und welche Versorgungshandlungen daraus erfolgen sollten. Algorithmen sollten zwingend evidenzbasiert sein, also im Wesentlich eine Studienbasierung haben bzw. aus Evidenz basierten Leitlinien stammen. Ist dies nicht der Fall, so wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Nutzen mittels Algorithmus oder App schon im Vornherein ausschließen können. Und wie oben gezeigt, fehlt es bislang nahezu durchgängig an belastbaren Belegen.
Ist es aber der Fall, dass eine Evidenz-Basierung im Hintergrund stehender Algorithmen vorliegt, so gibt es dennoch erheblichen Grund zum Zweifel, dass ein Nutzen-Zuwachs im Vergleich zu herkömmlicher Versorgung anzunehmen ist. Algorithmen stellen Zusammenfassungen und damit Vereinfachungen der Darstellung des bestehenden Wissens sowie der daraus resultierenden Handlungskonsequenzen für den Versorger – oder in Apps den Nutzer – dar. Dies ist bei Algorithmen sogar deren Funktion. Nur finden sich Algorithmen meist in einem Textzusammenhang – z.B. einer Leitlinie – und machen es dort leichter, dann eine feiner differenzierte Darstellung auch nachzulesen, die in allen Algorithmen schon aus didaktischen Gründen wegfallen müssen. Algorithmen bilden das Kerngerüst, nicht aber das weiter differenzierte Wissen ab.
Bei Apps kommt es dann nochmals zu einer weiteren Vereinfachung: Es muss auf das Laienverständnis angepasst werden und es müssen an Stellen mit vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten meist weitere Vereinfachungen vorgenommen werden. Und – im Gegensatz zu Algorithmen – gibt es meist keinen differenzierenden Text, der Schritte mit Entscheidungscharakter in einer App abwägend darstellt.
Man hat es also bei Apps i.d.R. mit einem sehr »groben Werkzeug« zu tun. Grobe Werkzeuge sind aber nur tauglich, eine erste Orientierung zu geben, hinter der dann weitere Schritte erfolgen müssen, die weiter zu differenzieren helfen. Es muss dann die »Feinarbeit« gemacht werden. Daraus folgt für Apps: Sie können bestenfalls dem Nutzer auf etwas aufmerksam machen – so wie es bisher Illustrierten-Artikel machten. Eine »Feinarbeit« danach hat aber mit Hilfe des Behandlers zu erfolgen: Damit geschieht in etwa das, was in jedem Screening-Programm (Früherkennungsprogramm), bewusst auch so geplant, geschieht: Man findet Viele, weiß aber, dass nur Wenige von der gesuchten Krankheit betroffen sind oder einer Behandlung wegen dieser bedürfen. Dies macht immer die Abklärungsdiagnostik bei Screenings notwendig. Und für den Bereich der Therapie ist es identisch, auch hier muss unter Berücksichtigung aller Aspekte des Betroffenen/Patienten entschieden werden, wer von diesen eine Behandlung braucht, welche für diesen die beste ist und wie man dies dem Patienten nahebringen kann. Denn Viele haben einen bestimmten Befund, gar eine bestimmte Krankheit, aber nur einige davon brauchen jene oder – aus bestimmten Gründen – eine andere Behandlung, oder gar keine Behandlung. Dahinter steckt, dass der Mensch, der Kranke, ein sehr komplexes ›Gebilde‹ ist – z.B. mehrere Krankheiten zugleich hat, eigene Vorstellung zum Umgang mit seiner Krankheit hat etc. Und der Behandler muss in dieser Komplexität des Patienten das herausfinden, was adäquat für diesen Menschen ist [29].
In einem Algorithmus – und erst recht in der nochmals vereinfachenden Darstellung einer App für Laien – ist eine solche Differenzierung in Bezug auf die Notwendigkeiten und Möglichkeiten von entweder weiter gehender Diagnostik oder dem Finden eines Therapiekonzeptes für den einzelnen Menschen/Patienten nicht möglich. Denn eine Behandlungsempfehlung einer App kann nicht die differenzierende Beurteilung, die im Vorfeld einer Empfehlung notwendig ist, erarbeiten lassen: Zu viele Aspekte, Zusatzbefunde und nicht zuletzt die Präferenzen des Patienten können in einem solchen System nicht berücksichtigt werden. Und es sei daran erinnert: Selbst Künstliche Intelligenz in Hand der Experten ist zumindest heute noch sehr beschränkt in Bezug auf valide Aussagen– und selbst, wenn dort massenhaft mehr Daten eingegeben werden, als eine App abverlangen kann [23,24]. Die Autoren der viel zitierten Studie zum Vergleich der Qualität dermatologischer Diagnosen inclusive Melanomen zwischen erfahrenen Dermatologen und künstlichen neuronalen Netzen merkten denn auch an, dass ihre Pilotstudie in weiteren praxisnahen Vergleichsstudien fortgeführt werden muss [30]. Hänssle, Erstautor einer Nachfolgestudie [31] wird im Deutschen Ärzteblatt wie folgt zitiert: »Der Computer spuckt lediglich Wahrscheinlichkeiten aus. Was das letztlich bedeutet, muss dann der Arzt entscheiden« [32]. Es ist weiter anzumerken, dass derartige hoch aufwändige interessante Ansätze ›künstlicher Intelligenz‹ bei der Auswertung von Bilddateien nicht zu der Annahme führen dürfen, dass sie in Bereiche außerhalb der Bildgebung übertragbar wären.
Man hat sich klar zu machen, dass selbst relativ klar erscheinende Dinge wie »weitere Diagnosen«, die ja abgefragt werden können, sehr Unterschiedliches enthalten: Ein »Hochdruck« kann akut oder auch auf 10 Jahres-Perspektive gesehen sehr bedrohlich aber auch sehr harmlos sein. Ein Gallensteinleiden kann einem Ultraschallbefund entsprechen, aber auch eine potentiell gefährliches Leiden mit Leberschäden und Koliken beinhalten. Oder als anderes Beispiel: Eine Medikation wegen des Leidens A kann mit einer anderen Medikation wegen Leidens B »relativ kontraindiziert« sein. Nur muss sie nicht selten dennoch für beide Krankheiten erfolgen – hier zu entscheiden, überfordert jede vorstellbare App. Eine Feinarbeit durch den Behandler ist noch aus anderem Grund notwendig: Es sind fast immer personen-getragene Beziehungen notwendig, um alles vom Patienten zu erfragen, Feinheiten seiner Darstellung zu Beschwerden oder einem Leiden herauszufinden, um dann erst zu dem zu kommen, zu dem er Bedenken hat, die ausgeräumt oder berücksichtigt werden müssen. Und der Patient muss zu Behandlungen (Diagnostik oder Therapie) gewonnen werden: Dafür ist zum einen Information erforderlich, aber zu großem Teil auch beziehungs-getragener ärztlicher Rat mit Hintergrund einer gewachsenen Patient-Arzt-Beziehung.
Eigentlich kann eine App, soll mit ihr kein Schaden über Vergröberung von real vorhandener Komplexität angerichtet werden, nur mit dem Satz enden: Gehen Sie zum Behandler; bzw.: Es scheint, dass Sie keine Behandlung brauchen. Damit aber kommen Apps nicht über das hinaus, was Illustrierten-Artikel, in denen man sich oder ein Problem von sich erkennt, auch schon leisten. Das ist in beiden Fällen etwas Gutes, nur ist es technischer getragen mittels App deswegen nicht besser. Also kann man raten, es der Präferenz des Käufers zu überlassen, ob er sich Illustrierte oder eher Apps kauft. Aber es steht zu befürchten, dass bei einer App – im Vergleich zur Illustrierten – ein größeres Schadensproblem entstehen kann: Apps sind strukturell autoritativ und machen – gestärkt noch durch Technik-Begeisterung ihrer Nutzer – Vorgaben, was zu tun ist. Nur sind diese Vorgaben – gemessen am Standard der heutigen ärztlichen Versorgung – häufig inadäquat für den Nutzer, werden aber mit der Autorität eines technischen Systems »vorgebracht«. Wer dann ohne eine »Feinarbeit« bei einem Behandler dem Ergebnis einer App folgt, läuft große Gefahr, falsch behandelt zu werden. Da ist die Komplexität eines Problems, das in der textlichen Form eines Illustrierten-Artikels oder einer Aufklärungsbroschüre vorgestellt wird, noch viel eher darzustellen. Und solche Texte enden nicht – oder nur mit deutlich schwächerer Autorität – mit Vorgaben zu Diagnostik oder Therapie.
Schlussfolgerungen
Apps können von deren »Logik« her keine Versorgungs-Verbesserung über das hinausgehend erbringen, was auch Texte in Form von Zeitschriften-Artikeln oder Broschüren zu identischen Themen vermitteln. Gesundheits-Apps mit diagnostischem, prognostischem und therapeutischem Anspruch bergen automatisch immer auch Schadenspotentiale, wie jede medizinische Anwendung generell dies tut – und bedürfen deshalb angemessener Regulierung für ihre Zulassung. Zu bedenken ist, dass Apps auch insofern zusätzlichen Schaden anrichten können, weil sie in einer stark durch digitale Medien definierten Welt vermutlich mit einem hohen Grad von Autorität von vielen Menschen erlebt werden – mehr als Zeitschriften-Artikel allemal. Insofern sind unsere Kernaussagen: Man sollte sich nicht verleiten lassen, intuitiv zu unterstellen, dass Apps inhaltlich grundsätzlich andere Lösungen von Versorgungsproblemen im Vergleich zu klassischen Medien bieten können. Selbst aber dann, wenn für klinisch relevante Apps die zu fordernde Nutzen-Schadens-Studien angefertigt werden, ist schon heute gut begründbar zu vermuten, dass aufgrund der Logik der Apps und der nicht ausreichenden Studiendaten zu vielen diagnostischen und therapeutischen Interventionen, die im Hintergrund ja vorhanden sein müssten, Apps nur sehr begrenzt sichere »Aussagen« präsentieren können. Und damit wiederum ist zu schlussfolgern, dass sich kaum ein Zusatznutzen in Bezug auf Outcomes von Erkrankungen ergeben wird – etwas, was man in der Medizin heute ja bei Zulassung neuer Leistungen vorlegen muss.
(Der Artikel ist zuerst erschienen in der Zeitschrift »Gesundheits- und Sozialpolitik«, 2/2019; wir danken dem Nomos-Verlag für die freundliche Erlaubnis, ihn nachzudrucken.)
Prof. Dr. med. Norbert Schmacke, Abteilung Versorgungsforschung, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen; Prof. Dr. med. Heinz-Harald Abholz, Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Düsseldorf
Literatur
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(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Digitalisierung im Gesundheitswesen, Nr. 4 Dezember 2019)