GbP 4-2019 Dahm-Daphi / Garrido

Delegationsreise nach Südkurdistan (Nordirak)

Prof. Dr. med. Jochen Dahm-Daphi, Dr. med. Marcial Velasco Garrido

In der zweiten Oktoberwoche, in der der Angriff der Türkei auf Rojava (Nordsyrien) begann, bereiste eine zivilgesellschaftliche Delegation aus Pädagog*innen, Journalist*innen, Künstler*innen, Ärzten, IT-Spezialisten, Verwaltungs-Fachleuten und Vertreter*innen verschiedener NGOs sowie dem Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein in Begleitung von Parlamentarier*innen aus dem Bundestag, der Hamburgischen Bürgerschaft, dem Schleswig-Holsteinischen Landtag, sowie der Altonaer Bezirksversammlung den Südkurdistan (Nordirak). Aus dem vdää nahmen die Hamburger  Mitglieder Dr. Marcial Velasco Garrido und Prof. Dr. Jochen Dahm-Daphi teil. Sie berichten hier über ihre persönlichen Eindrücke.

Die Reise erfolgte auf Einladung der Yezidischen Konföderation im Nordirak, mit dem Ziel die Region um den ?ingal-Berg (Shengal-Gebiet) zu erreichen, wo sich wesentliche Siedlungsgebiete der ethnisch-religiösen Minderheit der Yezid*innen befinden, um dort u.a. Projekte zu besuchen, die mit Traumatisierten arbeiten. Der Islamische Staat (IS) drang bei seiner Offensive 2014 in diese Gebiete vor und richtete mit besonderer Grausamkeit gegenüber den »Ungläubigen«  einen Genozid unter der dortigen Bevölkerung an. Über 5.000 Yezid*innen wurden ermordet, 7.000 Frauen und Kinder versklavt und systematisch vergewaltigt. 400.000 Menschen mussten aus ihrer Heimat fliehen. Noch heute gelten 2.000 Frauen als verschollen. Weder die irakische Armee noch die südkurdische Peshmerga (kurdisch Pê?merge), die zu dem Zeitpunkt die militärische Kontrolle in der Region ausübte, gewährten Schutz. Ganz im Gegenteil: die Pê?merge gaben ihre Positionen im yezidischen Gebiet kampflos auf. Auch die Weltöffentlichkeit und insbesondere die Staaten der NATO schauten tatenlos zu. Einzig die kurdischen Volksverteidigungs-Milizen (YPG/YPJ) aus Rojava standen den Menschen zur Seite und hielten den IS vor weiteren Gewalttaten zurück. In der jetzigen Situation mit sozialen Unruhen im Süden des Irak und dem von der Türkei begonnenen Krieges gegen Rojava  wurde der Delegation der Zugang zu den Yeziden im Shengal-Gebiet nahe der ­Syrischen Grenze durch die irakische Armee verwehrt. Unterstützung der humanitären Mission durch die Deutsche Botschaft und das Konsulat – Fehlanzeige.

Die Delegation besuchte unter größten diplomatischen Bemühungen das kurdische Flüchtlingslager Machmur (kurdisch Mexmûr) zwischen Mossul und Erbil (kurdisch Hewlar), das weiter im Landesinneren gelegen ist. Dieses befestigte Lager mit ca. 13.000 Einwohnern wurde 1993 von Geflüchteten aufgebaut, die vor Vertreibungsaktionen der türkischen Armee im anatolischen Nordkurdistan geflohen waren. Nach jahrelangen wiederholten Angriffen, eroberte auch hier der IS im Jahre 2014 dieses Lager, das jedoch durch die PKK und YPG mit US-Luftunterstützung wieder befreit werden konnte. Es wird  als »PKK Hochburg« diskreditiert und immer wieder von der türkischen Armee bombardiert, ebenso wie zahlreiche andere Dörfer im Nordirak. Auch wir mussten Zeuge der jahrelangen Völkerrechtsverletzung werden, als während unseres Besuches türkische Kampfbomber 200 km weit im irakischen Luftraum das Lager überflogen.

Es gelang dort in den letzten Jahren trotz all der Widrigkeiten der Aufbau eines funktionierenden Gesundheitssystems, dessen Bestand nun durch das aktuelle, seit drei Monaten an­haltende Embargo seitens der Barzani-Regierung (KDP) in Südkurdistan gefährdet ist. Schon seit Jahren verhindert die KDP-Regierung immer wieder den Zugang von NGOs zum Camp von Südkurdistan aus, so benötigten wir auch zwei Versuche, um über den Check-Point der KDP-Pê?merge zu kommen. Der Zugang vom südlichen Irak aus wird durch die kritische Sicherheitslage im Irak erschwert. Zwar wird das Gebiet südlich des Camps offiziell von der irakischen regulären Armee kontrolliert, die Lage ist jedoch unübersichtlich mit verschiedenen islamistischen Milizen, die in dieser Region operieren und Teile des Landes kontrollieren.

In Mexmûr besuchte die Delegation das Gesundheitszentrum, in dem, weitgehend ehrenamtlich, fünf Ärzt*innen vier Hebammen, zwei Physiotherapeuten, zwei Apothekerinnen und sechs Pflegekräfte das Camp sowie zahlreiche umgebende irakische Dörfer versorgen. Es gibt sechs Behandlungsräume, wenige Notfallbetten, einen Frühgeborenen-Inkubator, ein Labor für elementare Untersuchungen, ein veraltetes Ultraschall-Gerät sowie eine einfache Röntgenanlage. Kompliziertere Operationen oder eine Sectio bei einer Geburt sind jedoch nicht möglich. Seit neuestem gibt es einen nagelneuen Ambulanzwagen – von italienischen Hilfsorganisationen gespendet – mit dem im Notfall oder zur Dialyse nach Mossul oder Erbil gefahren werden kann. Wir konnten eine beträcht­liche Menge dringend benötigter An­tibiotika sowie Geldspenden zur Beschaffung von Betten, Rollstühlen und anderen Hilfsmitteln, übergeben. Besonders Patient*innen mit chronischen Erkrankungen leiden unter den immer wieder verhängten Embargos sowie unter der fehlenden Kontinuität der Versorgung mit Arzneimitteln. In Mexmûr gibt es ca. 1200 Menschen – annähernd 10% der Bevölkerung – mit einer chronischen Erkrankung, die auf eine kontinuierliche Behandlung an­gewiesen sind. Arterieller Hypertonus, Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, Niereninsuffizienz, Asthma bron­chiale und Struma sind auch hier die häufigsten chronischen Erkrankungen. Seit 2013 besteht im Camp ein Gesundheitsrat, der sich aus 50 Personen zusammensetzt und in dem Volksrat integriert ist. Der Gesundheitsrat kümmert sich um alle Belange der Gesundheit, nicht nur um das Gesund-heitszentrum. So werden immer wieder Überprüfungen des Trinkwassers sowie der Hygiene in den Ladengeschäften vorgenommen. Zudem bringt der Gesundheitsrat Ideen für eine gesundheitsförderliche Gestaltung des Camps ein. So regte er z.B. die Bepflanzung von Freiflächen mit Bäumen oder die Abdeckung der Kanalisation an. Der Gesundheitsrat arbeitet an einem weiteren Projekt, einer Gesundheitsakademie, um die Bildung in Gesundheitsthemen – im Sinne eines Empowerments – voranzutreiben.

Mindestens ebenso eindrucksvoll für uns war der Besuch des Tageszentrums Navenda Hevi (Hoffnung) zur Förderung von Kindern mit Handicap. Insbesondere 30 Kinder mit Autismus und Down-Syndrom werden von sechs Psycholog*innen und Heil-Thera­peu­t*innen in ihrer Entwicklung, im musischen und lebenspraktischen Bereich sowie insbesondere in feinmotorischer Bewegung und Sport gefördert. Es kennzeichnet einen tief ausgeprägten Humanismus, sich unter äußerst bescheidenen und bedrängten Lebensverhältnissen den Bedürfnissen und der Förderung von schwerbehinderten Menschen zu widmen.

Wir trafen den inzwischen bekannten kurdischen Geist des gleichberechtigten Umgangs der Geschlechter sowohl im täglichen Umgang wie auch in den Demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen. So wurden wir etwa von unseren Gastgebern gefragt, warum in unserer Delegation »mehr Männer reden als Frauen« …

Mit dem neu entfachten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung durch die Türkei wird eine »Insel« von Demo­kratie, Gleichberechtigung (auf unterschiedliche Ebenen wie Religion und Gender) und Selbstbestimmtheit bedroht und vernichtet, die sich viele im Westen und überall auf der Welt jahrelang erträumt hatten. Die Despoten des Nahen und Mittleren Ostens – allen voran Erdogan mit seinen dschihadistischen Kombattanten – betreiben nicht nur Völkermord, sondern auch einen Verrat an allen Prinzipien humaner Ideale. Zahlreiche Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten sind öffentlich bekannt und sollten auf allen Ebenen politisch und humanitär genutzt werden. Das Flüchtlingscamp in Machmur benötigt dringend ein neues Sonographiegerät mit 3,5- und 10 MHz – Schallköpfen für etwa 20.000 €.

Spenden dafür an Kurdistan-Hilfe e.V., Stichwort »Sonographie Machmur«, bei der Hamburger Sparkasse IBAN DE40 2005 0550 1049 2227 04.

Prof. Dr. Jochen Dahm-Daphi und Dr. Marcial Velasco Garrido sind beide aktiv in der vdää-Regionalgruppe Hamburg.

Weiterführende Literatur

  • Schmidinger T. »Die Welt hat uns vergessen« – Der Genozid des »Islamischen Staates« an den JesidInnen und die Folgen. Wien, Berlin:  Mandelbaum Verlag 2019
  • Diverse Autor*innen. Selbstbestimmung statt Flucht. Demokratische Autonomie im Camp Mexmur. Berlin: Tatort Kurdistan 2019
  • Beiträge der ARTE Mediathek zu Stichworten Syrien, Rojava, Frauen etc.

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Digitalisierung im Gesundheitswesen, Nr. 4 Dezember 2019)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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