GbP 4-2015 Nadja Rakowitz

Willkommen Heißen – Flucht-Migration – Medizinische Versorgung

Jahreshauptversammlung und Gesundheitspolitisches Forum des vdää in Leipzig

Nachdem sich das linke Stadtteilzentrum »Kölibri« als Veranstaltungsort für die Jahreshauptversammlung des vdää letztes Jahr in Hamburg so gut bewährt hatte, haben wir für dieses Jahr einen ähnlichen Ort in Leipzig gesucht. Dort wollten wir dieses Jahr tagen, weil es einige neue junge Mitglieder im Osten, vorrangig in Dresden und Leipzig gibt. Mit dem Zentrum für Frauenkultur in Leipzig/Connewitz hatten wir dank der Hilfe unserer Mitglieder vor Ort wieder einen sehr schönen Tagungsort gefunden – mit ausgesprochen freundlichem und hilfsbereitem Team und sehr gutem Essen. Allerdings stellte sich ca. sechs Wochen vor der Tagung heraus, dass wir mit dem Raum, der für 90 Personen ausgelegt war, an ungewohnte Grenzen kommen sollten, da sich mehr TeilnehmerInnen anmeldeten. Das lag sicher am höchst aktuellen Thema und am attraktiven Programm der JHV: »Willkommen heißen – Flucht-Migration – Medizinische Versorgung«. Wir konnten bei der Planung des Themas im Januar dessen Aktualität noch nicht ahnen, sonst hätten wir einen größeren Raum gesucht.

Am Freitagabend gab es in Zusammenarbeit mit dem Medinetz Leipzig, medico international und dem Zentrum für Frauenkultur eine öffentliche Auftaktveranstaltung mit dem Thema: »Der lange Schatten der Festung Europa. Fluchtursachen – Fluchtwege – Leben zweiter Klasse«. Andreas Wulf von medico international referierte über Fluchtursachen, Christoph Arndt berichtete von seiner Arbeit am »Watch the Med-Alarmphone« und davon, wie es den Menschen geht, wenn sie versuchen, über das Mittelmeer zu fliehen. Und letztlich erläuterte Janne Joost-Krüger vom Medinetz Leipzig, wie die Menschen dann medizinisch versorgt werden, wenn sie es bis zu uns geschafft haben. Der Saal war bis auf den letzten Platz voll und die Diskussion war kenntnisreich und sehr politisch. Der Auftakt war gelungen – so der Eindruck der TeilnehmerInnen.

Am Samstag startete dann das gesundheitspolitische Forum zunächst mit einem Panel zur aktuellen Gesundheitspolitik, wo es Thomas Kunkel gelang, sogar das Versorgungsstärkungsgesetz, das Anti-Korruptions- und das Präven­tionsgesetz spannend darzustellen. Gleich im Anschluss erläuterte Peter Hoffmann in einem furiosen Vortrag die Logik der DRG und die Änderungen, die durch das kürzlich verabschiedete aber von kaum Jemandem in seiner ganzen Brisanz zur Kenntnis genommene Krankenhausstrukturgesetz auf uns zukommen werden. Die anschließende Diskussion zeigte, dass es eine richtige Entscheidung war, auch die aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen zum Thema zu machen, auch wenn das Hauptthema Flucht und Migration war. Überraschenderweise bekam dieses Panel bei der schriftlichen Umfrage unter den TeilnehmerInnen die größte Zustimmung.

Danach gab Anna Kühne eine kurze Einführung in die gesetzlichen Grundlagen der medizinischen Versorgung von Migranten und räumte mit dem weit verbreiteten Irrtum auf, dass das Asylbewerberleistungsgesetz medizinische Versorgung »nur im Notfall« ermögliche, sondern »Alles, was zum Erhalt der Gesundheit unerlässlich ist« gewährt. Dies werde von interessierter Seite oft als Notfallversorgung interpretiert, kann aber auch viel großzügiger gelesen werden. Hier ist die Courage der Ärztin oder des Arztes gefragt!

Nach der Mittagspause startete dann das erste Panel zum Thema strukturelle Herausforderungen in der medizinischen Versorgung von MigrantInnen, bei dem Kayvan Bozorghmer von der Uni Heidelberg Forschungsergebnisse zur medizinischen Versorgung von Asylsuchenden vorstellte, Heidrun Nitschke vom Öffentlichen Gesundheits­dienst Köln die Rolle von ÖGD und NGOs bei der medizinischen Versorgung von MigrantInnen erläuterte und Vera Bergmeyer vom MediBüro Bremen das »Bremer Modell« vorstellte. In Bremen bekommen registrierte Flüchtlinge eine AOK-Karte wie andere Versicherte auch und sind so – bis auf wenige Ausnahmen und Einschränkungen – in die medizinische Regelversorgung eingegliedert. Dies erspart eine Menge Bürokratie auf Seiten der Sozialbehörde aber auch der Arztpraxen und ermöglicht den Flüchtlingen eine nahezu diskriminierungsfreie Behandlung. Kayvan Bozorghmer zeigte, dass die Stadt Hamburg, in der das Bremer Modell seit 2012 ebenfalls gilt, ausgerechnet habe, dass man damit – im Vergleich zum Standardverfahren mit Antrag bei der Behörde etc. – sogar Geld spart.

Beim nächsten Panel wurde die Frage gestellt: »Wie gehen wir in unserer Praxis mit MigrantInnen um?« Zur Beantwortung hatten wir Matthias David, Gynäkologe an der Charité, Elisabeth Wesselman, Fachreferentin für Interkulturelle Versorgung im Gesundheitswesen aus München und Eben Louw, Psychologe aus Berlin eingeladen. Matthias David stellte am Beispiel Frauenheilkunde Ergebnisse einer Untersuchung zur Betreuung und Versorgung von Migrantinnen vor, während Elisabeth Wesselman diskutierte, wie im Krankenhausalltag »gleich gute« Behandlung aller angestrebt werden müsse, die eben gerade nicht Gleich-Behandlung heißen könne, sondern zuallererst die individuellen Unterschiede berücksichtigen müsse. Eben Louw war angefragt über rassistische Dynamiken im medizinischen Alltag und strukturelle Barrieren einer antirassistischen Gesundheitsversorgung zu sprechen, wobei er auf letzteres das größere Gewicht legte. Nachdem bei diesem Panel jeder 15 Minuten referieren konnte, wurde das Plenum in drei gleich große Gruppen geteilt, die jede jeweils noch mal 15 Minuten Zeit hatte, mit jedem Referenten einzeln zu diskutieren. Das war praktisch mit einiger Bewegung im Raum verbunden und nach einem langen Tag voller interessanter Vorträge eine ausgesprochen gelungene Abwechslung in der Kommunikationsform. Wir werden das in Zukunft öfter praktizieren…

Nach dem Abendessen konnten die TeilnehmerInnen, noch einem Bericht von Rudi Schwab folgen, der in München beim NSU-Prozess als Arzt tätig ist und deshalb bei fast allen Sitzungen der Verhandlung anwesend war. Die Schlüsse unseres Prozessbeobachters waren allerdings alles andere als mutmachend. Wer bis dahin noch an funktionierende Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit hierzulande glaubte, wurde gründlich desillusioniert.

Am Sonntag nahmen noch erfreulich viele an der Mitgliederversammlung teil. Dabei wurde zum einen Resümee der Arbeit des Vereins in 2015 gezogen und zum anderen über zukünftige Projekte diskutiert. Es wurde ein neuer Arbeitskreis im vdää gegründet: der AK Flucht und Migration.

Bei der Wahl wurde Wulf Dietrich erneut zum Vorsitzenden gewählt und der geschäftsführende Vorstand auf 5 Personen erweitert, so dass die wachsende Arbeit auf mehr Schultern verteilt werden kann. Auch der erweiterte Vorstand wurde noch einmal vergrößert auf 26 Personen, von denen einige bei der JHV neu geworbene Mitglieder des Vereins sind. Besser lässt sich der Erfolg der Jahreshauptversammlung eigentlich nicht belegen…

Alle Beiträge der ReferentInnen der JHV finden sich auf der Homepage des vdää unter Themen/Gesund­heits­politik (Deutschland)

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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