Am Kraftort
Über die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« in Alt Rehse
Sabine Lueken beschäftigt sich in ihrem – zuerst in der konkret 12/2015 veröffentlichten – Aufsatz mit Alt Rehse, dem Sitz der Reichsärzteführerschule im NS, der heute bei Esoterikern als »Kraftort« beliebt ist. Das macht die politische Erinnerungsarbeit nicht einfacher.
Kommt man nach Alt Rehse, sagenhaft gelegen am Tollensesee am Rande der Müritzer Seenplatte nahe Neubrandenburg, fällt zunächst ein großes Backsteingebäude auf, das über und über mit Buddhas und tibetischen Gebetsfahnen geschmückt ist: »Alt Rehse has a new name – Maitreya Park«. In einem alten VW-Bus daneben sitzen vier große Buddhastatuen auf der Fahrerbank. Warten sie auf Maitreya, den kommenden großen Weltlehrer? Sie sind so erleuchtet, dass sie im Dunkeln sogar eine Lichterkette illuminiert. Was ist hier los?
Alt Rehse liegt nach der Auffassung rechter und linker Esoteriker auf »heiliger Erde«, hier soll sich der mythische slawische »Kraftort « Rethra befunden haben. Die Nazis glaubten, dass darunter ein verdrängter germanischer Kultort lag; den wollten sie durch ein ihnen besonders am Herzen liegendes Unterfangen regermanisieren: durch die Ausbildung einer völkischen Ärzteelite.
Guckt man sich um im Dorf, findet man idyllische Fachwerkhäuser aus Backstein unter Reet. Grobe Holzbalken mit gekreuzten Pferdeköpfen und eingeschnitzten Inschriften über den Eingangstüren – »Haus Hamburg, errichtet im 3. Jahre«, »Haus Schleswig-Holstein, errichtet im 4. Jahre« – künden von der neuen Zeitrechnung des »tausendjährigen Reiches«. Ein Nazi-»Musterdorf«, 1935 bis 1937 gebaut wie eine niedersächsische Bauernsiedlung, aber mit damals modernsten Mitteln und Zentralheizung. Es besteht aus 22 Häusern, dazu kommen ein Gutshaus und das aus 20 ähnlichen, aber größeren Gebäuden bestehende Ensemble der »Reichsärzteführerschule«. Der historische Ort Alt Rehse, urkundlich seit 1182 nachgewiesen, wurde dafür fast vollständig abgerissen. Die Gebäude und Sportstätten der »Reichsärzteschule« wurden in den Landschaftspark integriert, den der frühere Gutsbesitzer Ludwig Freiherr von Hauff um seinen Landsitz Schloss Lichtenstein am Hang zum Tollensesee seit 1897 angelegt hatte. In Mallin, einem anderen Ortsteil von Penzlin, zu dem auch Alt Rehse gehört, steht ein weiteres verfallendes neogotisches Schloss der Familie von Hauff für 298.000 Euro zum Verkauf.
Am Tor zum Park steht immer noch »Geschlossen – Betreten verboten«. Aber die umstrittene esoterische Wohngemeinschaft, geschmackvollerweise Lebenspark genannt, die Leute in klandestines Sektenleben eingeführt hat, ist 2014 ausgezogen, so wie das Brüderpaar, das sie betrieben hat. Pleite. Nur ein Bewohner bewahrt noch die Gebäude vor dem gänzlichen Verfall. Das Gelände ist an den vorherigen Eigentümer, einen Münchner Immobilienmakler, zurückgefallen und steht zum Verkauf.
1934 enteignete der Hartmannbund nach gescheiterten Verkaufsverhandlungen das Gut
Der »Reichsärzteführer« und Vorsitzende des Hartmannbundes, Gerhard Wagner, und sein Stellvertreter Hans Deuschl, der dann Leiter der Ärzteschule wurde, trieben ihre Herzensangelegenheit schnell voran. Bereits vier Monate nach Erwerb wurde Richtfest im Beisein prominenter Nazi-Größen gefeiert. »Wir nationalsozialistischen Ärzte wollen die Vorkämpfer sein für neue biologische Grundsätze in Medizin und Naturwissenschaft, die auf das engste verwurzelt sind mit Blut und Boden unseres Volkes und Vaterlandes.«
Ab 1935 bis Ende 1941 besuchten etwa 10.000 bis 12.000 Ärzte (jeder sechste bis zehnte im Reich), außerdem zahlreiche Apotheker und Hebammen, die Kurse der »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft«. Sie sollten dort das erbbiologische, eugenische und »rassenhygienische« Rüstzeug für ihre besondere Tätigkeit im NS-Staat erwerben. Ab 1936 gab es auch Vorträge über Naturheilkunde und »Neue Deutsche Heilkunde«, deren Anhänger Himmler und Hess waren; 1937 kam ein eigenes erbbiologisches Institut hinzu. Die Kurse dauerten sieben bis zehn Tage, für sogenannte Jungärzte auch mal vier Wochen, die ihnen auf ihr praktisches Jahr im Rahmen der Ausbildung angerechnet wurden. Man konnte sich nicht anmelden, sondern wurde berufen. Eingebettet in einen stark reglementierten Tagesablauf, fanden Vorlesungen über »Rassenhygiene«, Auslese, »Euthanasie« und Krankenmord, praktische Kurse, sportliche Ertüchtigung und gemeinsame Freizeitaktivitäten statt. Soldatische Elemente wie einheitliche Trainingskleidung und Kopfbedeckung, später Uniformen, »Duz-Befehl«, Arbeitsdienste, Mehrbettzimmer, Frühsport und Fahnenappelle gehörten dazu. Denn man wollte den Ärzten nicht nur praktische Informationen über die neue Ausrichtung der deutschen Gesundheitspolitik und die entsprechenden Gesetze des NS-Staates (»Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, »Nürnberger Rassegesetze«) vermitteln, vor allem sollte das Gefühl einer eingeschworenen Gemeinschaft entstehen. Und eine neue Eliteethik: Im Mittelpunkt ärztlichen Bemühens sollte nicht mehr der einzelne Patient, sondern der Dienst am gesunden »Volkskörper« stehen. Zu diesem »Dienst« gehörten Zwangssterilisation, hunderttausendfacher Krankenmord in den Heil- und Pflegeanstalten und am Ende auch die Selektion an den Rampen der Vernichtungslager.
Alt Rehse ist gebaute »Blut-und-Boden- Idylle«, sagt der Kunsthistoriker Rainer Stommer, seit 2005 Projektleiter der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte (EBB) Alt Rehse. Mit angeblich landestypischen Gebäuden gaben Dorf und Dorfgemeinschaft die Kulisse ab
für eine gesunde »arische« »Volksgemeinschaft« auf der Basis deutschen Bauerntums. Die Anlage spiegele das Selbstbewusstsein der deutschen Ärzteschaft als Mitgestalter, nicht nur Befehlsempfänger, des neuen Staates, sagt Stammer. Ablesbar ist das auch an der Topografie: Die Häuser sind entlang einer eigenständigen Querachse gebaut, nicht – wie sonst typisch – hierarchisch an der Hauptachse des Dorfes.
Alle Häuser sind zum Tollensesee hin ausgerichtet, der Blick vom Nazi-Gemeinschaftshaus, wo die Appelle stattfanden, ist großartig. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dieser besonders idyllischen Gegend und der Radikalität der von dort ausgehenden Verbrechen? Ja, sagt der Psychoanalytiker Hans Ludwig Siemen in einem Vortrag im Rahmen der kürzlich in Alt Rehse abgehaltenen Herbsttagung des Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation. Wer dort (zeitweise) lebte, konnte ein Elitebewusstsein ausbilden (»Wie toll, stark und gesund sind wir«), unterstützt durch die herrliche Umgebung, und das eigene »Böse« abspalten, indem er es auf die anderen projizierte, die Minderwertigen, Kranken, Siechen und Unheilbaren: »Sollen die doch von dieser herrlichen Erde verschwinden« – so oder ähnlich könnte man damals empfunden haben. Die Idylle sollte gesellschaftliche Realität werden.
Wer die Kursteilnehmer waren, lässt sich heute nicht mehr feststellen. Die Themen und Namen von Referenten hat Thomas Maibaum 2007 in seiner Doktorarbeit Die Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt Rehse, die auch online zu finden ist, rekonstruiert. Dazu gehörten neben Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler, Eugen Fischer und Otmar von Verschuer Kurt Blome, Leiter des nationalsozialistischen ärztlichen Fortbildungswesens und späterer stellvertretender »Reichsgesundheitsführer«, sowie Karl Gebhardt, Professor an der Heilanstalt Hohenlychen, die im Nürnberger Ärzteprozess angeklagt wurden. Blome wurde freigesprochen, Gebhardt hingerichtet.
1945 kam der Oberkommandierende der Sowjetischen Streitkräfte, Marschall Shukow, nach Alt Rehse. Zu der von ihm angeordneten Sprengung kam es nicht mehr. 1948 zog in das Haupthaus ein Kinderheim für Kriegswaisen, 1952 ein Lehrerbildungsheim, 1955 eine LPG. 1958 übernahm die Nationale Volksarmee der DDR das Gelände. Sie errichtete in den siebziger Jahren eine 25 Bunker umfassende unterirdische Anlage als Telefon und Nachrichtenzentrale der Reservearmee Nord in Neubrandenburg – für den Ernstfall. Ab 1990 nutzte die Bundeswehr das Gelände.
Nach der Wende wurde Alt Rehse zu einem typischen Streitfall der »offenen Vermögensfragen« zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Der Hartmannbund wollte seine alte Eliteanstalt wiederhaben. Aber Alt Rehse wurde der kassenärztlichen Selbstverwaltung zugesprochen, die sich eine Fortbildung für Ärzte an diesem Ort wieder vorstellen konnte. Das wurde jedoch mit knapper Mehrheit abgelehnt. Die Chance, den Ort zur Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Medizinerbild zu nutzen, sah man damals nicht: »Man kann nicht gegen ein ganzes Dorf Geschichte aufarbeiten wollen«, so der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). In der Gemeinde gab es Widerstand, die Streitigkeiten zogen sich über viele Jahre – auch vor diversen Gerichten – hin. 1993 gab die KV die Liegenschaft an den Bund zurück, die Einzelhäuser des Musterdorfs wurden an ihre Bewohner verkauft. Inzwischen ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung zu einer anderen Ansicht gelangt und unterstützt das Vorhaben eines Gedenkorts finanziell, der Bund und das Land Mecklenburg-Vorpommern prüfen gerade die Nachhaltigkeit. Eine Restfinanzierung wäre möglich, wenn jeder der etwa 400 000 Ärzte in der Bundesrepublik fünf Euro spenden würde.
Seit 2011 findet in Alt Rehse alle zwei Jahre als Fortbildung für Ärzte eine Tagung zum Thema »Ethik in der Medizin und im Gesundheitswesen« statt, 2013 über »Euthanasie – Palliation – Sterbebegleitung«; im Oktober dieses Jahres tagte man über »Ethische Aspekte der modernen Fortpflanzungsmedizin. Social Freezing – Leihmutterschaft – Embryonenspende«. Die Namen der Vortragenden (Gerhard Baader, Hans-Walter Schmuhl, Michael Wunder, Klaus Dörner und andere) machen Hoffnung, dass diese biopolitischen Themen jetzt kritisch behandelt werden.
Das Dorf, diese falsche Idylle der Nazi-Architektur, gewann absurderweise 1995 die Bronzemedaille beim Bundeswettbewerb »Unser Dorf soll schöner werden«. Um als Gedenkort zu taugen, müsse Alt Rehse in seiner architektonischen und städtebaulichen Form erhalten werden, sagt Rainer Stommer. Und der Besucher muss Informationen zur Geschichte des Orts bekommen.
Der Verein EBB Alt Rehse hat 2009 zusammen mit dem Berliner Verein Beth Zion die Gutshaus-GmbH gegründet und das alte Gutshaus gekauft, um dort den Lern- und Gedenkort zu etablieren. Der Gutsverwalter war ein Vertrauter Martin Bormanns, der sich häufig in Alt Rehse aufhielt und im Gutshaus eine Wohnung hatte. Ältere Bewohner im Dorf erinnerten sich noch daran, wie »Onkel Martin« auf seinem Pferd über das holprige Kopfsteinpflaster ritt, erzählt Stommer.
Zahlreiche prominente NS-Führer hatten nordwestlich von Berlin Güter oder Landsitze. Die Morde im Frauen-KZ Ravensbrück, die Menschenversuche im Lazarett Hohenlychen, einem ehemaligen Nazi-Modekurheim, der Todesmarsch der Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen ab dem 21. April 1945, die Abtransporte der Kranken zum T4- Gasmord aus der Heil- und Pflegeanstalt Domjüch bei Neustrelitz: all das geschah in dieser idyllischen Landschaft. Wo man kratzt, kommt ein »böser Ort« zutage. Nicht überall können Gedenkstätten entstehen. Aber an dem Täterort Alt Rehse lässt sich gut studieren, wie das »Dritte Reich« funktioniert hat.
Sabine Lueken ist Historikerin und schrieb in konkret 11/15 über den Film »We Come as Friends«.
Die Ausstellung »Alt Rehse und der gebrochene Eid des Hippokrates« ist in der EBB Alt Rehse (www.ebbalt- rehse.de) zu sehen. Zuerst erschienen in der Zeitschrift konkret 12/2015
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)