GbP 4- 2016 Udo Schagen

»Würdiger« Repräsentant deutscher Ärzte

Udo Schagen über Ferdinand Sauerbruch

Warum »Sauerbruch« in einem Heft über Medizin und Nationalsozialismus? Ärzte (und Ärztinnen) waren prozentual weitaus häufiger Mitglied nationalsozialistischer Organisationen als die Angehörigen fast aller anderen Berufsgruppen. Ihre soziale Herkunft, ihre Verwurzelung in nationalkonservativem Gedankengut und ihre Akzeptanz des biologistischen Mainstreams der Medizin trugen dazu bei. An den schlimmsten Verbrechen gegen Menschlichkeit und Menschheit, der Zwangssterilisation, den »Euthanasie«-Morden, den Humanexperimenten, der Ausgrenzung (Rassenhygiene) und Vernichtung der Juden und anderer Bevölkerungsteile im Deutschen Reich und in allen von der Wehrmacht besetzten Gebieten, waren tausende Ärzte beteiligt. Hannah Arendt wie Karl Jaspers wiesen darauf hin, dass es sich um Verbrechen »gegen die Menschheit« und nicht allein »gegen die Menschlichkeit« handelte; die Anklage im Nürnberger Ärzteprozess aufgrund von »crimes against humanity« bezieht sich gemäß der Bedeutung des Begriffs auf beides! Eine NSDAP-Zugehörigkeit war nicht Voraussetzung für das Mittun. Sauerbruch als einer ihrer prominentesten Repräsentanten und als auch noch Jahrzehnte später hoch verehrter Arzt und Chirurg steht für Denken und Verhalten deutscher Ärzte. Nur eine kleine Minderheit übte Widerstand.

Der »genialste« Chirurg(1) der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war wie wohl kaum ein anderer Arzt noch zu Lebzeiten zum Idol von Patienten und Ärzten geworden. Seine ab 1951 in hunderttausenden Buchexemplaren in mindestens acht Auflagen vertriebene »Autobiographie« und der danach gedrehte Spielfilm trugen zur Verbreitung seines Grenzen sprengenden Ruhms bei.(2) Dabei haben Buch wie Film den Wahrheitsgehalt dessen, was die Regenbogenpresse auch heute über Reiche und Berühmte der Welt berichtet.(3) Wer also war Sauerbruch wirklich?

Zum 1. Oktober 1927 begann der 52-jährige Ernst Ferdinand Sauer­bruch (1875-1951) als ordentlicher Professor seine Tätigkeit an der Berliner Humboldt Univer­sität. Da war er schon der be­deutendste deutsche Chirurg. Das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung berief regelmäßig Professoren an die Medizinische Fakultät der Reichshauptstadt, die schon als Direktoren und Lehrstuhlinhaber anderer Universitäten tätig gewesen waren. Dies garantierte den Ruhm von Fakultät und Universität, handelte es sich dabei doch immer um Personen, die als Wissenschaftler vorher zu Ruhm und Ehren gekommen waren und mit denen sich nun auch Berlin schmücken konnte. Die Berufung dorthin galt als Höhepunkt einer Wissenschaftlerkarriere.

Tausende Teilnehmer des ersten Weltkrieges hatten amputiert werden müssen, auch wegen der noch kaum wirksamen Medikamente gegen regelmäßig auftretende Infektionen. Sauerbruch entwickelte ein Verfahren, künstliche Ersatzglieder bei Armamputierten durch Benutzung der Muskeln des Amputationsstumpfes willkürlich bewegbar zu machen. Eine von ihm entwickelte Kunsthand galt noch Jahrzehnte als Standard. Eine andere seiner neuen Operationsmethoden verbesserte die Versorgung von Patienten, deren Oberschenkel entfernt werden musste, dramatisch. Die chirurgische Pioniertat des Druckdifferenzver­fahrens ermöglichte erstmals ausgedehnte Operationen an der Lunge sowie am offenen Herzen. Er war aber, nach den Worten eines »Enkelsohnes« auf einem chirurgischen Ordinariat, nicht nur ein virtuoser Chirurg – in Zeiten der begrenzten Narkosemöglichkeiten war oft die Geschwindigkeit der operativen Tätigkeit ausschlaggebend – sondern auch auf theoretischem Gebiet von außerordentlicher Originalität und ungewöhnlichem Ideenreichtum.(4)
Auf persönlicher Ebene kein Antisemit und sicher auch, trotz deutsch-nationalkonservativer Grundhaltung, nie in Versuchung, der NSDAP beizutreten, hat sich Sauerbruch wie andere Berühmtheiten, der Dirigent Wilhelm Furtwängler und der Schauspieler-Theaterchef Gustaf Gründgens, nicht nur nicht gescheut, sich für den Nationalsozialismus als internationales Aushängeschild missbrauchen zu lassen. Noch mindestens bis 1939 hat er regelmäßig für das nationalsozialistische Deutschland geworben.(5) Er sprach von »verjudeten Krankenhäusern« in Berlin, was von Verfolgung bedrohte berühmte Kollegen endgültig von der Notwendigkeit der Emigration überzeugte(6), verteidigte im Herbst 1933 auch »harte Maßnahmen und schwere Eingriffe, die jede revolutionäre Tat begleiten«(7) und wehrte sich nicht gegen die Vernichtung der beruflichen Existenz von über 250 Kollegen, die die Charité im Zuge der antisemitischen Verfolgungen verlassen mussten. Dem »Führer« dankte er für die Ver­leihung des Nationalpreises in einer Rundfunkrede überschwänglich und bewertete dessen frühe »Kampfzeit« gegen die junge Weimarer Republik Anfang der zwan­ziger Jahre noch 1938 positiv.(8) Gegen die Mordaktionen an behinderten Menschen, als »Euthanasie« beschönigt, ging er aber in privaten Eingaben vor.(9) Als medizinischer Gutachter des Reichforschungsrates befürwortete und verlängerte er Forschungsprojekte in Konzentrationslagern, wie diejenigen Otmar Freiherr von Verschuers und Josef Mengeles.(10)

So muss der geniale Chirurg, der sich selbst als unpolitisch empfand, als schwankender und differenzierter, aber doch als Bejaher des Nationalsozialismus, auch in seinen schlimmsten und unmenschlichsten Facetten, in Erinnerung bleiben.

Dr. Udo Schagen, Institut für Geschichte der Medizin,

Vertiefende Lektüre: R. Nissen: »Helle Blätter – dunkle Blätter«, Stuttgart 1969 – M. Dewey / U. Schagen / W. U. Eckart / E. Schönenberger: »Ernst Ferdinand Sauerbruch and his ambiguous role in the period of National Socialism«, Annals of Surgery, August 2006, 244 (2): 315-321 – U. Schagen: »Das Selbstbild Berliner Hochschulmediziner in der SBZ und ihre Verantwortung für die Universität im Nationalsozialismus«, in: »Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945«, hg. v. S. Oehler-Klein / V. Roelcke / K. Grundmann / S. Schleiermacher, Stuttgart 2007, 121–144

Anmerkungen

  1. Rolf Winau / Ekkehard Vaubel: »Chirurgen in Berlin. 100 Porträts«, Berlin 1983
  2. Wolfgang Eckart: »Der Welt zeigen, daß Deutschland erwacht ist ...: Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) und die Charité-Chirurgie 1933 bis 1945, in: Sabine Schleiermacher / Udo Schagen (Hg.): »Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus«, Paderborn 2008, 189-206 – Udo Schagen: »Der Sachbuchautor als Zeithistoriker: Jürgen Thorwald korrigiert Nachkriegslegenden über Ferdinand Sauerbruch«, Non Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 6, Nr. 172 : 102-129
  3. Schagen 2007, wie oben angegeben
  4. Fritz Kümmerle: »Ferdinand Sauerbruch«, in: Wilhelm Treue / Rolf Winau (Hrsg.): »Berlinische Lebensbilder. Mediziner«, Berlin 1987; Nissen 1969, wie oben angegeben
  5. Ferdinand Sauerbruch: »Deutsche Männer, deutsche Frauen!«, [Rede, II. Reichstagung Volksgesundheit und Genußgifte, 5.–7. März 1939], Ziel und Weg 9 (1939): 213-217
  6. Hermann Zondek: »Auf festem Fuße. Erinnerungen eines jüdischen Klinikers«, Stuttgart 1973
  7. Ferdinand Sauerbruch: »Offener Brief ›An die Ärzteschaft der Welt‹«, mehrfach abgedruckt, u. a. in: Klinische Wochenschrift 12 (1933): 1551; auch in: Internationales Ärztliches Bulletin, Januar 1934, Nr.1, 3-4 (mit kritischer Erwiderung)
  8. Dewey et al. 2006 und Eckart 2008, wie oben angegeben.
  9. Fridolf Kudlien / Christian Andree: »Sauerbruch und der Nationalsozialismus«, Medizinhistorisches Journal 15 (1980): 201-222
  10. Eckart 2008, wie oben angegeben

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)


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