GbP 4-2015 Wulf Dietrich

Und danach?

Der Nürnberger Ärzteprozess

Nach der Kapitulation von Nazideutschland 1945 fanden einige Kriegsverbrecherprozesse gegen Repräsentanten des NS-Regimes statt. Im Nürnberger Ärzteprozess mussten sich 23 Angeklagte von Dezember 1946 bis August 1947 als führende NS-Vertreter des staatlichen medizinischen Dienstes verantworten. Der Prozess wurde als Fall Vereinigte Staaten vs. Karl Brandt et al. bezeichnet. Keiner der Angeklagten zeigte während der Verhandlung Reue oder Bedauern gegenüber den Opfern. Sieben der Angeklagten, unter ihnen Karl Brandt, wurden zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet; neun zu langjährigen Haftstrafen Verurteilte wurden bereits Anfang der Fünfzigerjahre aus der Haft entlassen. Einige der an den Höhen-Versuchen im KZ Dachau beteiligten Mediziner wurden später von den USA übernommen und dort zu Pionieren der Weltraummedizin. Drei der 40 mit der T4-Aktion befassten Gutachter wurden Ordinarius an deutschen Universitäten.

Mit dieser Verurteilung der Repräsentanten einer »Medizin ohne Menschlichkeit« aber war die Diskussion der Rolle der Medizin im Nationalsozialismus für lange Zeit erledigt. Die Tatsache, dass die Ärzteschaft mehrheitlich in der NSDAP organisiert war und ihre Vertreter aktiv an der Organisation des Gesundheitswesens beteiligt waren, wurde nicht weiter thematisiert, von Selbstkritik war keine Rede. Karl Haedenkamp, der den Übergang der ärztlichen Standesorganisation in den NS-Staat organisiert hatte, wurde in der Nachkriegszeit Funktionär der ärztlichen Standesorganisation. Hans Joachim Severing, SS- und NSDAP-Mitglied seit den frühen 30er Jahren und beteiligt an der Überweisung von geistig Behinderten in eine Tötungsanstalt, war von1955-1991 Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, 1978 sogar Präsident des Deutschen Ärztetages (nur ein Abrechnungsbetrug führte hier zu seinem Rücktritt). Noch 1987 behauptete der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, in einem vieldiskutierten Interview, dass sich nur ein »Clique ... radikaler Ärztekader« unter dem Nationalsozialismus ethisch verwerflich verhalten habe, und dass die »Vergangenheitsbewältigung nicht kollektiv die Ärzte diffamieren« dürfe. Diese habe in der überwiegenden Mehrheit keine Kenntnisse der Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen gehabt. Die Frage, warum die verfasste Ärzteschaft sich erst so spät, unvollständig und häufig bagatellisierend mit der Thematik auseinandergesetzt hat, bleibt bisher unbeantwortet.

Wulf Dietrich

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)


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