GbP 4-2015 Projektgruppe Medizin

Tiefpunkt ärztlicher Standespolitik

Zur Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus

Anlässlich des 76. Deutschen Ärztetages, der 1973 in München stattfand, feierte die Ärzteschaft das 100-jährige Bestehen einer organisierten deutschen Ärzteschaft. Im Deutschen Ärzteblatt wurde ausführlich die Geschichte beschrieben, auch die Zeit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Da es in das Geschichtsbild passte, wurde behauptet, dass wegen innerärztlichen Auseinandersetzungen im ersten Halbjahr 1933 das Deutsche Ärzteblatt nicht erschienen sei. Das war eine krasse Geschichtsfälschung: Wie die Projektgruppe Medizin, ein Zusammenschluss junger Medizinerinnen und Mediziner in München, in ihrer Broschüre »100 Jahre Standespolitik – 100 Jahre auf der Seite der Reaktion« darstellte, erschien das Ärzteblatt sehr wohl im ganzen Jahr 1933, es gab nur zwei Jahrgänge. Und im ersten Jahrgang wurde die Machtübernahme »freudigst begrüßt«, kein Wort einer innerärztlichen Auseinandersetzung. Das aber passte nicht in das Weltbild der damaligen Kammerführung. Der Vollständigkeit halber aber muss gesagt werden, dass die heutige Führung der Bundesärztekammer weitaus kritischer mit der Geschichte umgeht und die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus sehr realistisch beurteilt. Wir dokumentieren hier die Broschüre der Projektgruppe in Auszügen.

Machtübergabe an die Nationalsozialisten

Die Nummern des Deutschen Ärzteblatts (DÄB) der ersten zwei Monate des Jahres 1933 zeichnen sich durch scheinbare politische Abstinenz aus: Während die Faschisten die Macht im Reich an sich reißen und mit der Brandstiftung im Reichstagsgebäude ein unübersehbares Fanal der Bestialität und des Terrors setzen, beschäftigt sich das DÄB in (scheinbarer) Zurückgezogenheit vor dem politischen Alltag mit Fragen der neuen Ärzteordnung, der »Studentenschwemme« und der damit verbundenen Überfüllung des Standes, Sozialversicherungsfragen, aber auch mit Fragen der Eugenetik. Gegen die neuen politischen Machthaber nicht eine Zeile.

Diese Zurückgezogenheit gibt das DÄB aber bald auf. In der Nr. 13 vom 30. März veröffentlicht es auf der ersten Seite zwei Telegramme an Hitler und Hindenburg anlässlich der Reichstags­eröffnung, mit denen die ärztlichen Spitzenverbände »freudigst (!) den entschlossenen Willen der Reichsregierung der nationalen Erhebung, eine wahre Volksgemeinschaft aller Stände, Berufe und Klassen aufzubauen, (begrüßen) und sich freudigst in den Dienst dieser großen vaterländischen Aufgabe« stellen. Unterzeichnet sind beide Telegramme von Geheimrat Dr. Stauder, Nürnberg.

In der gleichen Nummer ist eine Vereinbarung vom Ärztevereinsbund und Hartmannbund wiedergegeben, durch welche Gerhart Wagner, 1. Vorsitzender des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes (NSÄB), als Kommissar für beide ärztlichen Spitzenverbände eingesetzt und bestätigt wird. Dadurch soll »die Gewähr für eine reibungslose Zusammenarbeit innerhalb des Standes und mit den neuen Führern von Staat und Volk« (DÄB 62/13/134) gegeben werden. Der langjährige Vorsitzende von Ärztevereinsbund und HB Stauder bekräftigt anlässlich eines Empfangs bei Hitler diese »freiwillige Vereinbarung« (DÄB 62/15/153). Er weist auf die Tradition der ärztlichen Führung hin die »stets ihren Charakter als deutsche Ärzteschaft zu wahren gewusst« habe (ebd.) und deren Ärztetage »Höhepunkte nationalen Wollens« gewesen seien (ebd.). Über die politische Stoßrichtung dieser Vereinbarung lässt Stauder keinen Zweifel aufkommen: Er berichtet über den ersten(!) gemeinsamen Beschluss, der die Aufforderung an die Ärztevereine enthielt, »jüdische und solche Kollegen, die sich der neuen Ordnung innerlich nicht anschließen könnten (gemeint sind hiermit hauptsächlich die Sozialdemokraten und die Kommunisten), zur Niederlegung ihrer Ämter in Vorständen und Ausschüssen zu veranlassen.« (DÄB 62/14/142)

Geradlinig und zielstrebig geht die Entwicklung nach dem Abkommen vom 24. März weiter: Nach einem viertel Jahr »vertrauensvoller Zusammenarbeit« mit dem anerkannten Kommissar (DÄB 62/24-26/263) tritt Stauder als Vorsitzender des ÄVB und des HB zurück, um dem Vorsitzenden des NSÄB und Kommissar für das Gesundheitswesen Wagner Platz zu machen. 

Diesen weiteren Schritt zu der durch »die politischen Vorgänge absolut notwendige(n) Gleichschaltung der ärztlichen Standesorganisationen« (ebd. 264) begründet er in der letzten Nummer des DÄB (24-25) des 62. Jahrgangs vom 22. Juni 1933: Seine Pflicht als »vom Vertrauen der Ärzteschaft getragenem Führer« erfordere gebieterisch, »dem Manne die Führung des Standes zu überlassen, dem das Vertrauen unseres Volkskanzlers es ermöglicht, mehr als ein anderer Kollege den Bedürfnissen und Bestrebungen unseres Standes zu dienen und sie zu fördern.« (ebd. 264) Und an die Mitglieder der Standesorganisationen richtet er den Appell: »Ich erfülle diese Pflicht im Bewusstsein der bisher mir auferlegten Verantwortung und rufe Sie alle, verehrte deutsche Ärzte, in dieser Stunde auf, in gleicher Weise ihre Pflicht als Standesgenossen zu tun und dem neuen Führer in geschlossener Einigkeit zu vertrauen.« (ebd. 264)

Diese Erklärung des langjährigen Führers der deutschen Ärzteschaft markiert den Tiefpunkt ärztlicher Standespolitik und sollte uns auch heute noch zutiefst zu denken geben. Die Institutionen der Ärzteschaft brauchten von den Faschisten nicht im Sturm genommen zu werden, sie kapitulierten auch nicht aus Resignation vor der Übermacht, sondern sie öffneten den Faschisten bereitwillig alle Tore und boten freudigst ihre Mitarbeit beim Aufbau der faschistischen Diktatur an.
Im Übrigen blieb die Kontinuität der Standespresse unter Wagner nach dem Juli 1933 gewahrt. Der neue Schriftführer des 63. Jahrgangs, Haedenkamp war 1929 Generalsekretär des HB und gehörte dem Vorstand des ÄVB an. (Er war nach dem Krieg bis 1955 Hauptgeschäftsführer der neuen Bundesärztekammer und Vorsitzender des Präsidiums des Deutschen Ärztetages, auf Wunsch der Bundesärztekammer wurde die Straße des Sitzes der BÄK in Bonn nach ihm benannt. Erst 1986 wurde sie umbenannt, Anm. der Redaktion)

Lohn der Gefügigkeit

Der Lohn für die Gefügigkeit und die Unterstützung beim Aufbau der faschistischen Diktatur blieb der offiziellen Ärzteschaft nicht verwehrt. Schon in seiner Rücktrittserklärung hatte Stauder erkannt: »Die dem ärztlichen Stand innewohnenden Kräfte müssen voll eingesetzt und dienstbar werden dem Vaterland und seinen Bedürfnissen; der ärztliche Stand als solcher wird durch die Qualität dieser freudig geleisteten Dienste allein die ihm gebührende und nötige Stellung im Staate erreichen können und erst im aufblühenden neuen Reich wird ihm auch die Erfüllung einer besseren wirtschaftlichen Lage werden, die sich umso günstiger gestalten kann, je mehr Achtung sich der deutsche Arzt im neuen Staat errungen hat ... Erst mittelbar erringt der Stand der Ärzte als Folge dieser klar erkannten und erfüllten Pflicht eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage.« (DÄB 62/24-25/264) Politische Folgsamkeit soll durch wirtschaftliche Privilegien belohnt werden.
Tatkräftig wurde nun die wirtschaftliche Besserstellung der Ärzteschaft in Angriff genommen: Als Maßnahme gegen die »Überfüllung der Berufe der Ärzte« erließ das preußische Ministerium des Inneren einen Runderlass, der die Erteilung der deutschen Approbation an ausländische Ärzte prinzipiell untersagte (DÄB 62/13/154). Am gleichen Ort beklagt sich der ÄVB, dass seinem Wunsch nach Einführung eines Numerus clausus im Medizinstudium für das Sommersemester 1933 noch nicht entsprochen werden könne.

Nachdem die ärztlichen Futterkrippen nach außen hin abgesichert waren, wurde der Schlag gegen die inländische Konkurrenz geführt: Bereits im Heft 63/2 wird von Verhandlungen des HB mit dem Verband der privaten Krankenversicherungsunternehmen über die »Frage der Ausschaltung nichtarischer Ärzte aus der Behandlung von Mitgliedern privater Krankenversicherungen« (S. 48) berichtet. Arische Patienten sollten in Zukunft nur noch von arischen Ärzten behandelt werden. Gleichzeitig mit dieser Ausschaltung der nicht-arischen Kollegen aus den privaten Versicherungen erfolgte das Herausdrängen aus den RVO-Kassen. Am 29. Juli erschien eine Anordnung des Kommissars, nach der verboten wurde: »1. dass deutschstämmige und fremdrassige Ärzte einander vertreten; 2. dass deutschstämmige Ärzte Überweisungen an fremdrassige Ärzte vornehmen oder Überweisungen von ihnen annehmen; 3. dass deutschstämmige Ärzte fremdrassige Ärzte zu Konzilien zuziehen oder sich von ihnen zuziehen lassen.« (DÄB 63/5/131) Diese »Anordnung« präzisiert Wagner in einer späteren Nummer des DÄB: »Anstatt deutschstämmig und fremdrassig ist zu setzen arisch und nicht arisch«. Nichtarischen Ärzten stehen solche gleich, die sich im kommunistischen Sinne betätigt haben ... (DÄB 63/8/218) Tausenden von jüdischen, aber auch sozialdemokratischen und kommunistischen Ärzten wurde durch diese Anordnung die Existenzgrundlage entzogen.

Am 26. Juni erlässt Wagner eine Anordnung, nach der allein der HB die wirtschaftlichen Belange der angestellten Ärzte in der faschistischen Angestelltenfront zu vertreten habe. (DÄB 63/2/47) Am 11. August werden die bisherigen Kassenärztlichen Vereinigungen zur Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) zusammengefasst. Ihre Geschäfte werden durch den HB und seine Hauptgeschäftsstelle in Leipzig verwaltet (DÄB 63/8/217). Die KVD wurde zu einer Körperschaft des Öffentlichen Rechtes. Mit der Verabschiedung der lang umkämpften Reichsärzteordnung (RÄO) am 13.12.1935 sind die ärztlichen Standesvertreter am Ziel ihrer Wünsche. Zu diesem »Markstein in der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens und der Ärzteschaft« heißt es am 31. Dezember 1935 im DÄB: »Das Gesetz beseitigt nach einer unbefriedigenden Übergangszeit mit einem Schlage alle Reste einer noch auf die liberalistische Zeit zurückgehenden Ordnung der Rechtsverhältnisse und der Eingliederung des deutschen Ärztestandes in Staat und Volk. Der Arzt hat den seinen Aufgaben und seiner Berufung fremden Rechtsboden der Reichsgewerbeordnung verlassen und eine neue sittliche und organisatorische Grundlage für sein berufliches Leben und für die Erfüllung seiner Pflichten erhalten.« Diese RÄO legte im Einzelnen folgendes fest:

  • Schaffung einer neuen Vertretungskörperschaft, der Reichsärztekammer, in der alle Ärzte Zwangsmitglieder sind (Ausnahme: Sanitätsoffiziere)
  • Reichsärzteführer als Führer der Reichsärztekammer, wird von Hitler selbst berufen
  • KVD bildet eine besondere Abteilung der Reichsärztekammer
  • Sicherung des freiberuflichen Charakters des Arztes
  • Schaffung einer eigenen Gerichtsbarkeit

Die Forderungen, die in der faschistischen RÄO verwirklicht wurden, stellen heute die Privilegien der Ärzteschaft dar, um deren Erhalt ihre offiziellen Führer einen erbitterten Kampf führen: Die Freiberuflichkeit der Ärzte, die einheitliche, schlagkräftige und autonome Standesorganisation, die besondere Standesgerichtsbarkeit.

Ausschnitt aus: Projektgruppe Medizin: »100 Jahre Standespolitik –100 Jahre auf der Seite der Reaktion«, München

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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