GbP 4-2015 Hartmut Bettin

Die zwei Seiten der Sulfonamid-Forschung

Über den Nobelpreisträger Gerhard Domagk

Der Medizinhistoriker Hartmut Bettin erinnert in seinem Artikel an die ambivalente Geschichte der Sulfonamidforschung.

Vorbemerkungen

Der Pathologe und Bakteriologe Gerhard Domagk (1895–1964) wird aufgrund seiner bahnbrechenden Erkenntnisse zur antibakteriellen Wirkung der Sulfonamide, als »erster Sieger über die Infektionskrankheiten« bezeichnet (1). Zum 50. Todestag und 75-jährigen Nobelpreisjubiläum Domagks erscheinen in diesem Jahr vielfältige Würdigungen. Um Domagk nicht in ein falsches Licht zu rücken und dieses erfreuliche Jubiläum nicht zu trüben, wird kaum auf die dunkle Seite der Sulfonamidforschung verwiesen. Doch scheint es neben all den verdienten würdigenden Beiträgen auch einmal angebracht, Domagks Wirken in den Gesamtkontext der Sulfonamidforschung zu setzen; einerseits um zu zeigen, dass es unterschiedliche Wege der Forschung gab, und andererseits, um an die Opfer zu erinnern und darauf zu verweisen, dass die gesamte in die Sulfonamidforschung involvierte Wissenschaftlergeneration eine gewisse Mitverantwortung trägt.

Diesem Bestreben folgt auch die gewählte Form einer parallelen Darstellung der Domagkschen Forschung und der Menschenversuche in Ravensbrück. In keiner Weise soll damit suggeriert werden, dass Domagk selbst an unethischen Menschenversuchen beteiligt war.

Dennoch sollen parallel zur Domagkschen Forschung auch diese unmenschlichen Versuche, die etwa zur gleichen Zeit abliefen, dargestellt werden, denn Domagks Wirken kann nicht ganz und gar isoliert von dem, was um ihn herum geschah, betrachtet werden. Auch für ihn gilt, was Alexander Mitscherlich im Vorwort zu seiner mit Fred Mielke 1960 veröffentlichten und lange Zeit von der deutschen Ärzteschaft ignorierten Dokumentation ärztlicher Verbrechen im Nationalsozialismus »Medizin ohne Menschlichkeit« schrieb: »Solange wir uns nicht vergegenwärtigen, wie weit wir selbst ›Apparat‹ waren, haben wir nichts, überhaupt nichts getan, um den Toten dieser furchtbaren Zeit jenen Respekt und jene Aufmerksamkeit zu erweisen, die allein die Brutalität, mit der sie überwältigt wurden, für die Zukunft entkräften kann.« (8)

Am Pathologischen Institut der Universität Greifswald beginnt Domagk 1924 erste Arbeiten mit dem Ziel, durch chemische Verbindung die Phagozytose von Bakterien und damit ihre Vernichtung zu fördern, ohne dabei den Organismus zu schädigen. Mit seinen Erkenntnissen über dieses prinzipielle Phänomen zur Schädigung oder Ver­nichtung von Infektionserregern habilitiert er sich 1924 in Greifswald für das Fach der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anatomie.(2) Sein väterlicher Freund, verehrter Lehrer und Förderer, der Pathologe Walter Gross (1878–1933) (3) bescheinigt ihm in seinem Gutachten u.a. eine »ausgesprochene Fähigkeit zu fruchtbaren wissenschaftlichen Fragestellungen und eine bemerkenswerte Unabhängigkeit des Denkens von landläufigen, ungenügend bewiesenen Anschauungen« (1). 1925 folgt Domagk Gross als Assistent an die Universität Münster. Zwei Jahre später wird er von dem Chemiker und Leiter der pharmazeutischen Forschung bei Bayer, Philipp Heinrich Hörlein (1882–1954) nach Wuppertal-Elberfeld berufen. Dort übernimmt er bei den Bayer-Werken der I.G. Farbenindustrie AG die Leitung eines neuen Forschungsinstituts für experimentelle Pathologie und Bakteriologie. Unter optimalen Bedingungen kann er hier die in Greifswald begonnen Forschungen fortführen. 1934 synthetisieren die Chemiker Fritz Mietzsch (1896–1958) und Josef Klarer (1898–1953) das Sulfonamid »Prontosil«, dessen antibakterielle Wirkung Domagk erkennt. Nach klinischer Prüfung wird das Prontosil 1935 für die Humanmedizin zugänglich gemacht, insbesondere zur Therapie von Infektionen durch Streptokokken. Seine weiteren Forschungen gelten der Auffindung neuer chemischer Substanzen, die auch gegen andere Bakterienarten noch stärker wirksam sind.

Mit Kriegsbeginn 1939 beschäftigt sich der Mediziner intensiv mit der Bekämpfung des durch eine besondere Bakteriengattung (<i>Clostridium perfringens</i>) verursachten sogenannten »Gasbrandes«, der häufig bei verschmutzten Kriegswunden auftrat. Domagk leitet der Wehrmacht im September 1939 einen Bericht über die Möglichkeiten einer Chemotherapie bei derartigen Infektionen zu. (4) In dieser Phase überrascht ihn am 3. November des Jahres die Verleihung des Nobelpreises. Wegen seiner zu höflichen Dankesantwort an den Rektor des Karolingischen Instituts Prof. Dr. Gunnar Holmgren (1875–1954) in Stockholm wird er am 17. November 1939 von der Geheimen Staatspolizei verhaftet. Nach einwöchiger Haft kommt Domagk frei, muss aber bei der Gestapo in Berlin einen vorgefertigten Brief unterzeichenen, in dem er erklärt, dass »Entsprechend dem Gesetz, über das ich jetzt genau unterrichtet bin, [...] nur eine Ablehnung des mir angebotenen Preises in Frage« komme. (1) Hier wurde auf ein Verbot Hitlers Bezug genommen, das, nachdem der Journalist und Herausgeber der linksliberalen pazifistischen Zeitung Weltbühne Carl von Ossietzky (1889–1938) 1935 den Friedensnobelpreis bekommen hatte, allen deutschen Staatsbürgern untersagte, einen Nobelpreis entgegenzunehmen.

Domagk setzt seine Forschungen fort und publiziert 1940 zusammen mit dem Internisten Carl Hegler (1878–1943) sein umfangreiches, auch im Ausland erscheinendes Werk zur »Chemotherapie bakterieller Infektionen.« Domagk genießt hohes internationales Ansehen. Im Oktober 1940 trägt er zu diesem Thema in Barcelona (5) und im Frühjahr 1941 in Rom vor. Pfingsten 1942 hält er den Eröffnungsvortag auf einem Dermatologen-Kongress in Padua. Kurz zuvor, am 16. Mai 1942, hatte er seine im Tierversuch vorgenommenen »Neuere(n) Untersuchungen zur Behandlung der Gasödeminfektionen mit Sulfonamidpräparaten« in der Klinischen Wochenschrift veröffentlicht. (6)

Menschenversuche zur Wirkung von Sulfonamiden

Wenig später am 20. Juli 1942 beginnen die ersten grausamen Menschenversuche zur Erprobung der Wirkungen von Sulfonamiden auf die Behandlung von Gasbrand. Diese klinischen Versuche erfolgen auf Entscheid des Reichsführers-SS Heinrich Himmler sowie auf Initiative des Generals der Waffen-SS Prof. Dr. med. Ernst Grawitz (1899–1945) (7). Die »Forschungen« stehen unter der Leitung des SS-Gruppenführers, Generalleutnants und beratenden Chirurgen der Waffen SS Prof. Dr. med. Karl Gebhardt (1897–1948). Ausgehend von der nahegelegenen orthopädischen Heilanstalt Hohenlychen werden im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück an 74 polnischen Widerstandskämpferinnen schreckliche Operationen vorgenommen, die man zynisch als eine Art der »Begnadigung« ansieht. Den Versuchspersonen werden dabei, um die Wirkweise verschiedener Sulfonamide und unterschiedliche Therapiemöglichkeiten zu testen, zentimeterlange tiefe Wunden an den Unterschenkeln zugefügt und durch Einbringen von Erde, Bakterien, Holzsplittern, Glas etc. »kriegs­ähnlich« verunreinigt.

Diese menschenverachtenden Versuche erfolgen zu einem Zeitpunkt, als die ethischen Standards in Deutschland bereits sehr hoch waren und international als vorbildlich angesehen wurden. Die 1931 vom Reichsgesundheitsrat und vom Reichsministerium des Innern verabschiedeten »Reichsrichtlinien zur Forschung am Menschen« hatten u.a. neben der freiwilligen Einwilligung in Erprobungen, auch die besondere Pflicht und Verantwortung des Arztes für Leben und Gesundheit der Probanden sowie vorherige Tierversuche und sorgfältige Schaden-Nutzen-Abwägungen festgeschrieben.(13) Sie bewegten sich aber eben nur auf einer vorrechtlichen Ebene und konnten auch deshalb in der NS-Zeit ohne rechtliche Konsequenzen ignoriert werden. Den fragwürdigen wissenschaftlichen Hintergrund der Sulfonamidexperimente in Ravensbrück bildet ein Streit zwischen den Vertretern der traditionellen Richtung chirurgischer Wundversorgung und den Befürwortern einer chemischen Behandlung mit Sulfonamiden. (8)

Die Tagungen über neue Erkenntnisse zur Wirkung der Sulfonamide und ebenso Domagks Publikationen auf diesem Gebiet, häufen sich gerade zu dieser Zeit. Anfang 1943 nimmt er an vier Sulfonamidabenden der Berliner Medizinischen Gesellschaft teil, auf denen die Anwendung dieser Chemotherapeutika in fast allen Fachgebieten besprochen wird. (4)

Wenige Monate später im Mai 1943 stellen Karl Gebhardt und der beteiligte Chirurg und Sturmbannführer der SS Fritz Ernst Fischer (1912–2003) ihre »Besondere(n) Versuche über Sulfonamidwirkungen« auf der 3. Arbeitstagung Ost der beratenden Fachärzte vor. An der Tagung nehmen 200 beratende Ärzte der Wehrmacht teil. Obwohl deutlich wird, dass es sich um Menschenversuche mit mehreren Todesfällen handelt, regt sich in der Diskussion kein Widerspruch gegen die Art dieser Versuche. (8) Der teilnehmende bedeutende Chirurg Ernst Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), der den Beitrag von Gebhardt und Fischer gehört haben muss, äußerte lediglich resümierend, dass er die Sulfonamide nicht ablehnen, »aber mit mehr Reserve und Kritik« beurteilt wissen möchte. (9)

Domagk hielt zu dieser Zeit Gastvorträge an mehreren ungarischen Universitäten. Im Zusammenhang mit seiner Ernennung zum Ehrensenator der Greifswalder Universität im Juli 1943, referiert Domagk auch vor dem Greifswalder Medizinischen Verein und der naturwissenschaftlichen Gesellschaft zu seinem Forschungsgebiet. (4) Inzwischen widmet er sich aber verstärkt auch den Tuberkelbakterien und dem antituberkulotischen Effekt des Thioacetazons (TBI), ohne jedoch ganz von den Sulfonamiden zu lassen. Noch bis zum August 1943 werden die grausamen Versuche in Ravensbrück, an denen auch der Chirurg Ludwig Stumpfegger (1910–1945) und die Lagerärztin Herta Oberheuser (1911–1978) beteiligt waren, weitergeführt. (8)

Auf einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie im Oktober 1943 in Dresden betont Domagk, dass der Erfolg der Sulfonamide bei der Therapie von Wundinfektionen von der Frühbehandlung abhänge (1). Insgesamt erscheinen 1943 sieben Publikationen von ihm zu den Sulfonamiden und zur Chemotherapie bakterieller Infektionen. Obwohl Domagk auch noch 1944 zu den Sulfonamiden vortrug, (10) finden sich in den Jahren 1944/45 keine Veröffentlichungen mehr von ihm. Allerdings war Wuppertal im Juni 1943 stark zerstört worden und gesundheitlich ging es ihm in dieser Zeit nicht gut. Zudem überholte das Penecillin, das seit 1942 großtechnisch in Jena produziert wurde, die Sulfonamide in ihrer Wirkung. Domagk lebte offenbar in seiner eigenen Welt der Forschung und Wissenschaft. Von den schrecklichen Sulfonamid-Experimenten in Ravensbrück erfuhr er nach eigener Aussage erst 1946, also nach dem Krieg. (1)

Am 20. August 1947 werden drei der an den Sulfonamidversuchen in Ravensbrück beteiligten Ärzte und Ärztinnen auf dem Nürnberger Ärzteprozess verurteilt: Karl Gebhardt zum Tode, Fritz Fischer zu lebenslanger Haft und Herta Oberheuser zu 20 Jahren Gefängnis. (8) Auch der Direktor des I.G.-Farben-Werks in Wuppertal-Elberfeld Heinrich Hörlein (1882–1954), der Gerhard Domagk eingestellt hatte, steht 1947 im I.G.-Farben-Prozess, zusammen mit zwei weiteren Führungskräften wegen angeblicher Beteiligung an diesen Experimenten vor Gericht. Es kann jedoch nachgewiesen werden, dass die Firma die Lieferung von Präparaten nach Ravensbrück eingestellt hatte, nachdem bekannt geworden war, wie diese verwendet wurden. Hörlein und die beiden anderen werden im Juli 1948 freigesprochen. (1)(11)

Domagk kann am 10. Dezember 1947 endlich seinen Nobelpreis in Stockholm in Empfang nehmen, dessen Gelddotation allerdings inzwischen laut Nobelpreis-Statut verfallen ist. (12)

Hartmut Bettin, Universitätsmedizin Greifswald, Institut für Geschichte der Medizin

Literatur

  1. Grundmann E: »Gerhard Domagk – der erste Sieger über die Infektionskrankheiten«, Münster [u.a.] Lit. 2001
  2. Domagk G: »Untersuchungen über die Bedeutung des retikuloendothelialen Systems für die Vernichtung von Infektionserregern und für die Entstehung des Amyloids«, Virchows Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin 1924; 235/3: 594–638
  3. Domagk, G.: »Walter Gross«, Deutsche medizinische Wochenschrift 59 (1933), S. 1683f.
  4. Domagk, G.: »Lebenserinnerungen in Bildern und Texten«, Leverkusen: Bayer AG, Geschäftsbereich Pharma 1995
  5. Domagk, G.: »Quimioterapia de las infecciones bacterianas.« Conferencia pronunciada por Gerardo Domagk, Academia Española de Dermatología y Sifiliografía. 4. Reunión Nacional de Dermatólogos Españoles, Barcelona, Octubre 1940, Madrid 1940
  6. Domagk, G.: »Neuere Untersuchungen zur Behandlung der Gasödeminfektionen mit Sulfonamidpräparaten«, Klinische Wochenschrift 1942; 21/20: 448-455 (16. Mai 1942)
  7. Eckart W U: »SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Prof. Dr. med. Ernst Grawitz«, in: Ueberschär G R (Hrsg.): »Hitlers militärische Elite. Vom Kriegsbeginn bis zum Weltkriegsende«, Bd. 2, Darmstadt Primus 1998; 63–71
  8. Mitscherlich A / Mielke F (Hrsg.): »Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses«, 16. Aufl., Frankfurt a. M. 2004; 18, 171–199, 365f.
  9. Bericht über die 3. Arbeitstagung Ost der beratenden Fachärzte vom 24. bis 26. Mai 1943 in der Militärärztlichen Akademie Berlin
  10. Domagk, G.: »Neuere Fortschritte in der Sulfonamidtherapie bakterieller Infektionen« Vortrag vor der Medizinischen Gesellschaft Göttingen, Sitzung vom 20. Januar 1944
  11. wollheim memorial. Nürnberger Prozeß gegen I.G. Farben (1947/49), www.wollheim-memorial.de/de/nuernberger_prozess_gegen_ig_farben_194748
  12. Statuten der Nobelstiftung und Sondersatzungen betr. den Preis für Physiologie und Medizin, Stockholm 1930, § 5
  13. Reichsminister des Inneren, Reichsrichtlinien zur Forschung am Menschen. Reichsgesundheitsblatt 55 (1931), 174 f.

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)


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