Von der Kostensenkung zum Massenmord
Die Unmenschlichkeit der NS-Medizin begann nicht erst mit der Machtübernahme der Nazis. Ihr Ursprung wurde durch die sozial-rassistischen Ideologien der zwanziger Jahre begründet, welche das Wohl des »Volkskörpers« über die Fürsorge und die Heilung der Schwachen und Kranken und über das Individuum stellte. Sie legte die Grundlage für die spätere Ausmerzung und Vernichtung von psychisch Kranken. Bereits 1984 haben Angelika Ebbinghaus zusammen mit Karl Heinz Roth, Klaus Dörner, Götz Aly und anderen in ihrem Buch »Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg« das Forschungsparadigma vom Heilen und Vernichten in der NS-Medizin entwickelt.« Wir dokumentieren hier einen Auszug aus dem immer noch aktuellen Aufsatz »Kostensenkung, »Aktive Therapie« und Vernichtung« von Angelika Ebbinghaus; von der Redaktion gekürzt und bearbeitet.
Kostensenkung durch Ausgrenzung der Nicht-Arbeitsfähigen
Am 12. Oktober 1931 beraten die leitenden Beamten der Hamburger Wohlfahrts- und Gesundheitsbehörde wieder einmal, wie die Kosten für das Anstaltswesen und vor allem für die beiden psychiatrischen Staatskrankenhäuser Friedrichsberg und Langenhorn gesenkt werden könnten. Martini, der Präsident der Wohlfahrtsbehörde, sagt warum: »In einer Zeit, in der unter dem Druck der Verhältnisse die Barunterstützungen für die in der offenen Fürsorge betreuten, gesunden, arbeitsfähigen und arbeitswilligen Personen, die ohne ihre Schuld untätig sein müssten, stark gedrosselt werden müssten, sei es nicht zu rechtfertigen, für die Unterbringung und Versorgung vielfach geistig und körperlich durchaus Minderwertiger ein Kostgeld von täglich 5,80 Reichsmark (RM) an die Staatskrankenanstalten zu zahlen. Der Unterstützungssatz für Wohlfahrtserwerbslose sei z. Zt. im Durchschnitt 57 RM monatlich, während für einen Geisteskranken in Anstaltspflege noch 174 RM aufzuwenden seien«.
Die Weltwirtschaftskrise traf Hamburg aufgrund seiner Außenhandelsorientierung besonders stark. Von 1928 bis 1932 gingen der wirtschaftliche Gesamtumsatz der Hansestadt um die Hälfte und die Zahl der lohnabhängig Beschäftigten im Durchschnitt um 60 Prozent zurück. Während die Staatseinnahmen rapide sanken, nahmen die Ausgaben ständig zu, weil eine wachsende Zahl von Erwerbslosen auf staatliche Unterstützung angewiesen war. Der Hamburger Senat reagierte im Sommer 1931 auf diese Situation mit einer rigorosen Sparpolitik, um den endgültigen Kollaps seines Haushalts zu verhindern.
Martini stößt – wie aus den Sitzungsprotokollen hervorgeht- offene Türen ein, als er kritisiert, dass die Hamburger Wohlfahrtsbehörde jährlich acht Millionen Reichsmark für »Geisteskranke, Epileptiker usw.« ausgebe und die Kosten sogar noch eine steigende Tendenz zeigen. Allein im August 1931 seien an die beiden psychiatrischen Staatskrankenanstalten 677 000 Reichsmark gezahlt worden. »Hamburg sei bisher stolz auf diese Leistungen gewesen und konnte es sein. Jetzt allerdings zwinge die Not der Zeit, sich von diesen Ideen zu trennen; die Interessen der gesunden fürsorgebedürftigen Personen müssten jetzt denjenigen der Geisteskranken vorgehen, für diese könne nur noch das Notwendigste gegeben werden.« [...]
In diesem Streit um eine schnelle und effektive Kostensenkung setzte sich erst einmal der von der Gesundheitsbehörde favorisierte Vorschlag durch. Friedrichsberg und Langenhorn waren bereit, »Billig-Abteilungen« einzurichten, in denen die Patienten für 3,50 Reichsmark pro Tag verpflegt werden sollten, so dass für diese Abteilungen gleiche Kosten wie in den Versorgungsheimen entständen. Beide psychiatrischen Anstalten wollten zusammen 600 bis 700 Billig-Plätze zur Verfügung stellen. [...] In den zwanziger Jahren wurde immer wieder der Ausbau der offenen Fürsorge propagiert, weil diese dem Staat billiger als die teure Anstaltsfürsorge käme. Dieses Argument wurde in allen Sparvorschlägen zur Kostensenkung im Gesundheitswesen von1931 wiederholt. [...]
Im Januar 1933 hatte die Wirtschaftskrise im Reichsdurchschnitt ihre Talsohle durchschritten, nicht so in Hamburg. Während die reichsweite Arbeitslosenquote bei 22% lag, betrug sie in Hamburg noch 30 %. Insgesamt gab es 145 509 Arbeitslose. Jeder dritte Hamburger was auf staatliche Unterstützung angewiesen. [...]
Nach 1933 wurde die gesamte Sozial und Gesundheitspolitik sozial rassistischen Handlungsmaximen unterworfen. Die weniger tüchtigen, die »Erbminderen«, all die, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen konnten, sollten in der neuen »Leistungsgemeinschaft« nicht länger »gepäppelt« werden. Denn »die Fürsorge, die zwar den einzelnen nutzt, aber dem Gemeinwohl schadet, ist unzulässig«. Oberster Grundsatz für die Fürsorge war: »Art und Maß der Hilfe nach dem Wert des Einzelnen für das Volksganze zu bestimmen«. Die »Geisteskranken« rangierten auf dieser sozial rassistisch begründeten Stufenleiter ganz unten. Bereits im April 1934 wurde die zwangsweise Verlegung von Menschen, die in Anstalten leben mussten, geplant. [...] Die Verlegungsaktion beginnt in Hamburg im Dezember 1934. »In mehr als 60 Transporten sind mehr als 1 800 Geisteskranke in einem ¾ Jahr in andere Anstalten verlegt worden.« [...]
Im November 1937 geht der Hamburger Stadtphysikus Holm bereits zur offenen Vernichtung über, in dem er wie im Ersten Weltkrieg Hungerrationen empfiehlt: »Es ist selbstverständlich, dass man an unheilbare oder nur zum Teil heilbare Kranke und an Sieche nicht dieselbe Menge und Wertigkeit der Verpflegung geben kann wie an Kranke, die wieder zur vollen Leistung gebracht werden können…« Die Verlegungsaktionen von 1941, 1943 und 1944, die mit planwirtschaftlichen Maßnahmen, Forschungs- und Heilungsabsichten, später dann mit der Kriegssituation und den Luftangriffen begründet wurden, dienten ausschließlich der Tötung der erst erfassten dann selektierten und deportierten Menschen. [...]
Aktive Therapie
Das »wissenschaftliche« Heilen war in Hamburg der psychiatrischen Universitätsklinik vorbehalten. Die Universitätsklinik war die Stelle, die in Hamburg die ersten Selektionen an Kranken vornahm, sie entschied darüber, wer behandelt und wer in eine einer billigen Pflegeanstalt untergebracht wird. Nach Bürger-Prinz – der damit ganz auf der Linie der Hamburger Senatsbeschlüsse liegt – hat die städtische beziehungsweise Universitätspsychiatrie als zentrale Aufnahmestation für sämtliche psychisch und nervös auffälligen Kranken zu fungieren. Hier werden die Kranken beobachtet und »nach Klärung« der Diagnose »der Behandlung zugeführt ... Kranke, bei denen mit einer langen Krankheitsdauer zu rechnen ist oder die als chronisch angesehen werden müssen, werden in Heil- und Pflegeanstalten, die meist außerhalb der Städte gelegen, sind, verlegt. Die städtischen Aufnahmeabteilungen wenden alle modernen Mittel zur Heilung der akuten Krankheiten an, ferner leiten sie im engen Kontakt mit den Angehörigen die notwendigen polizeilichen und gesetzlichen Maßnahmen ein (Entmündigungs- und Pflegschaftsverfahren, Begutachtungen erbgesundheitlicher und ehegesundheitlicher Art), ferner ergreifen sie alle Maßnahmen, die die Wiedereingliederung der zur Entlassung kommenden Kranken erforderlich macht«. Die Universitätsklinik ist also die Stelle, die in Hamburg die ersten Selektionen an Kranken vornimmt. Sie entscheidet darüber, wer behandelt und wer in einer billigen Pflegeanstalt untergebracht wird. [...] Schon in früheren Zeiten haben Ärzte den Körper psychisch Leidender häufig malträtiert. Die Patienten wurden gepeitscht, auf Drehstühle geschnallt, in kaltes Wasser getaucht und mussten ähnliche Grausamkeiten mehr erleiden, die ihnen in therapeutischer Absicht zugefügt wurden. In den dreißiger Jahren haben die Psychiater das Gehirn als Behandlungszentrum für psychische Leiden und Störungen entdeckt. Ein zeitgenössischer Psychiater nennt diese Entwicklung zu Recht: die Wandlung von der Körperschock zur Hirnschocktherapie. [...]
Cardiazolkrampftherapien verbreiteten sich in den dreißiger Jahren in Windeseile. Seit Juni 1936 wird auch an der Hamburger Universitätsklinik mit Insulin und Cardiazolkrampftherapien »geheilt«. [...] Die Aufnahmeziffern in der psychiatrischen Universitätsklinik stiegen steil an, die Aufenthaltsdauer der Patienten verkürzte sich. Die Entwicklung hin zur Alternative zwischen »aktiver« Schnellheilung mittels aggressiver Behandlungsformen und Zwangsunterbringung in Verwahranstalten nahm Gestalt an. Der Preis, den die Kranken zu zahlen hatten, war hoch. Die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den jährlich in die Klinik Aufgenommenen und den in ihr Gestorbenen lässt sich sicher zum Teil auf die neuen, aggressiven Behandlungsformen zurückführen. So gab es schon vor der Deportation der »Unheilbaren« zur Tötung durch Giftgas, Injektionen und Essensentzug eine Tötungswelle durch die neuen Schockverfahren. [...]
Planung für die Nachkriegszeit
Bereits 1941 überlegt der Verwaltungsdirektor von Langenhorn, Gerhard Hanko, wie das »Irrenwesen« nach dem Krieg zu reorganisieren sei. Gesundheit und Rassengesetze, die inzwischen überall angewandte Arbeitstherapie und nicht zuletzt die territoriale Ausweitung Deutschlands mussten seiner Meinung nach in Struktur und Anzahl der psychiatrischen Anstalten Niederschlag finden. Hanko kritisiert, dass es zu viele und vor allem zu viele kleine Anstalten gebe, und dadurch die Kosten mit jährlich 314 Millionen Reichsmark allein für das »Altreich« zu hoch lägen. Nach seinen Berechnungen gibt es 1937 insgesamt 186 staatliche Anstalten mit 128 000 und 257 Privatanstalten mit 42 500 Betten. Hanko plädiert für die Schaffung von Großanstalten mit 4 000–5 000 Betten in der Nähe von städtischen Ballungsgebieten, mit großen landwirtschaftlichen Nutzflächen: »Arbeitstherapeutische Erfolge lassen sich im Großeinsatz sehr gut erreichen, besonders bei Massenarbeiten, wie Kartoffelaufnehmen, Hackfrüchte bearbeiten und Flachsraufen. Darüber hinaus bieten Groß-Anstalten mit genügend Gelände die Möglichkeit, Arbeiten zu leisten, für die Masseneinsatz von Arbeitskräften erforderlich ist, wobei zu denken ist an Seidenraupenzucht, Obstzucht, und besonders Hühnerzucht, wo unter Einsatz von geringem Aufsichtspersonal eine Menge Patienten bei richtiger Anleitung trotz ihrer Krankheit noch wertvolle Mitarbeiter innerhalb der großen deutschen Volkswirtschaft sein und bleiben können«. Die Hankoschen Reorganisationspläne entsprechen ganz der Tradition der Hamburger Fürsorgepolitik: Jeder, der staatliche Unterstützung erhält, soll nach Möglichkeit zur produktiven Arbeit herangezogen werden. [...]
Bei den Ärzten der Tötungsaktion »T4« stießen diese Vorstellungen allerdings auf Ablehnung. Sie kritisieren die Zahlenangaben, die Hanko seinen Reduktionsplänen zu Grunde legte. So sei infolge der »Sterilisierung Geisteskranker«, »unserer Aktion (damit ist die T4 Aktion gemeint) und der Auswirkungen des künftigen Gesetzes über die Gewährung letzter Hilfe, in Zukunft ein sehr erheblich geringerer Krankenbestand zu versorgen … als bisher.« Die Berechnungsgrundlage sei überholt, weil sie noch aus der Zeit vor der systematischen Ermordung psychisch Kranker stamme. [...]
Die »T4«-Täter waren keine brutalen Schlächter, sondern sie wollten durchaus auch heilen. Sie wollten sogar heilen um jeden Preis. Um möglichst viele Menschen gesund und vor allem auch arbeitsfähig zu machen, sollten überall moderne psychiatrische Heil- und Forschungsanstalten eingerichtet werden. Nur diejenigen, die trotz der modernen, »aktiven« Therapieformen nicht geheilt werden konnten, sollten nach dem Abschluss der Massentötungen ausgesondert und auf aseptische, klinische Weise getötet werden. Der Mord wurde in »Erlösung« umgedeutet. [...]
Die Psychiatriepolitik des »Mustergaus« Hamburg befand sich in vollem Einklang mit den Nachkriegsplänen der Verantwortlichen für die Massenvernichtung. Hamburg hatte vieles davon seit Jahren vorweggenommen. In Hamburg bestand eine effektive Arbeitsteilung. Die Universitätsklinik mit ihrer Schleusenfunktion war vor allem für die »aktive« Behandlung und zentrale Selektion der Patienten da. Die »Bewahrfälle«, die mittels der verschiedenen Schocktherapien »Defektgeheilten« – wie es damals hieß – kamen nach Langenhorn. Solange sie noch zu irgendeiner Arbeit nützlich waren, durften sie wenigstens überleben. Die »unnützen« und »unproduktiven Esser« wurden ab 1941 erbarmungsloser selektiert und zu Vernichtung deportiert als anderswo. Nur diejenigen die noch zu »produktiver Arbeitsleistung« verwertbar schienen, wollte Hanko in einer großen arbeitstherapeutischen Zwangsanstalt in gebührendem Abstand von Hamburg untergebracht wissen. All die Menschen, die als unheilbar und nicht mehr arbeitsfähig eingestuft wurden, wurden ab 1941 umgebracht. Die Berliner Tötungszentrale schaffte es schließlich nicht mehr, die von der Hamburger Verwaltung geforderten Tötungstransporte zusammenzustellen.
(Auszug aus: Angelika Ebbinghaus: »Aussonderung und Vernichtung in den Anstalten«, in: Angelika Ebbinghaus / Heidrun Kaupen-Hass / Karl Heinz Roth: »Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich«, Hamburg 1984, S. 136-146)
Angelika Ebbinghaus ist Diplom Psychologin, Historikerin, Psychologische Psychotherapeutin und im Vorstand der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts tätig.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)