»Gegen das Vergessen«
Viele der älteren kritischen Mediziner wurden politisiert während der Auseinandersetzungen Ende der Sechzigerjahre. Eine wesentliche Rolle bei diesem Prozess spielte die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Ein bestimmendes Moment dabei war das Schweigen der Väter-Generation. Wie war es möglich, dass über die grausamen Verbrechen der Nazi-Zeit nicht gesprochen wurde? Warum wurde die Vergangenheit unter den Teppich gekehrt und der materielle Wohlstand in Form des »Wirtschaftswunders« in den politischen Mittelpunkt gestellt? Der politische Feind war »Russland«, der Freund die USA – so einfach war die politische Landschaft damals.
An den Universitäten musste die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit von der Studentenschaft erkämpft werden. Ich studierte in den sechziger Jahren Medizin in München und hörte Vorlesungen über »Gesundheitsfürsorge« und »Rechtsmedizin« bei Professor Hans Joachim Sewering. Der alte Nazi und später hoch dekorierte bundesrepublikanische Standesfunktionär sollte uns jungen Studenten die juristischen Grundlagen eines auf den Patienten zentrierten Gesundheitswesens lehren. Kein Wunder, dass man dabei politisch aktiviert wurde.
Dieses Beispiel zeigt, dass es eine personelle Kontinuität in der Medizin von der nationalsozialistischen Zeit in die Bundesrepublik gab. Im Programm des vdää heißt es, dass der historisch einmalige Bruch des deutschen Faschismus mit medizin-ethischen Prinzipien nach 1945 in beiden deutschen Staaten die medizin-ethische Debatte geprägt habe. Vorliegende Ausgabe von Gesundheit braucht Politik, macht deutlich, dass diese medizin-ethische Debatte in der Bundesrepublik über fast 40 Jahre praktisch nicht geführt wurde, nur einige wissenschaftliche »Außenseiter« beschäftigten sich mit dieser Thematik. Vielleicht war der Bruch mit der Vergangenheit gar nicht so radikal, wie häufig behauptet. Erst der Berliner Gesundheitstag 1980 brachte das Thema Medizin und Nationalsozialismus in die breite Öffentlichkeit. Die offizielle Ärzteschaft machte sich nur sehr zögerlich und halbherzig an die Aufarbeitung der Vergangenheit. Der in diesem Heft abgedruckte Artikel der Projektgruppe Medizin, eines Zusammenschlusses junger Ärztinnen und Ärzte in München, aus dem Beginn der siebziger Jahre zeigt die Kontinuität der ärztlichen Standesvertretung von den zwanziger Jahren in die nationalsozialistische Zeit sowie deren Übergang in die bundesrepublikanische Wirklichkeit.
Die ideologischen Stützen der nationalsozialistischen Medizin waren nicht die gewissenlosen Schlächter und Mörder in den KZ, die, wie der KZ-Arzt Mengele, häufig als Repräsentanten einer pervertierten Medizin genannt werden – es waren wissenschaftlich anerkannte kultivierte Mediziner, die die ideologische Grundlage für die Ermordung geistig Behinderter oder die Menschenversuche in den KZ legten. Sie haben nicht persönlich gemordet, waren aber trotzdem schuldig. Ein Beispiel ist die Biografie des 1948 hingerichteten Begleitarztes Adolf Hitlers Karl Brandt. Ferdinand Sauerbruch, bis Anfang der fünfziger Jahre einer der angesehensten Chirurgen Deutschlands, war, neben Karl Schmidt, Wilhelm Furtwängler, und Gustav Gründgens, einer der vier »Preußischen Staatsräte« in der NS-Zeit. Wenn diese Koryphäen in Teilbereichen auch im Dissens zur Parteiführung standen, so festigten sie durch ihr Ansehen und ihre Staatsnähe doch die Position des NS-Staates.
Der Beitrag von Winfried Beck über die Teilnahme von Ärzten an Folter und staatlichen Zwangsmaßnahmen macht deutlich, dass die Prinzipien der Deklaration von Helsinki heute noch nicht generell ärztliches Handeln bestimmen. Der Missbrauch der Psychiatrie in weiten Teilen der Welt oder die Teilnahme von US-Medizinern an Folter sind bestens bekannt.
Wir haben »Medizin im Nationalsozialismus« zum Schwerpunkt dieses Heftes gewählt, weil wir glauben, dass viele der Auseinandersetzungen, die uns »Alten« noch sehr präsent sind, unseren jüngeren Kolleginnen und Kollegen heute nicht mehr so deutlich vor Augen stehen. Gerade die Partikularisierung der heutigen Medizin, die nur noch Organe, Zellen und Moleküle statt des ganzen Patienten und dessen Umwelt sieht und in der Molekulargenetik die Erklärung aller Krankheiten sucht, läuft Gefahr, die ethischen Grundprinzipien medizinischen Handelns zu vergessen. Wir hoffen, mit diesem Heft einige Denkanstöße zu geben.
Um mit einem positiven Ausblick zu enden, sei noch auf den Bericht der Jahreshauptversammlung des vdää in Leipzig hingewiesen. Mit sehr vielen jungen Teilnehmern wurden in bester Atmosphäre die aktuellen politischen Probleme diskutiert. Das hat Mut gemacht.
Wulf Dietrich
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)