Rückkehr der weißen Wut
In Belgiens Pflegesektor protestieren die Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen. Regierung will Urlaubstage streichen
Von Gerrit Hoekman
Der Druck im sogenannten Weißen Sektor ist auch in Belgien enorm: Schichtarbeit, Überstunden und ein viel zu geringer Personalstand sorgen für großen Stress bei den Beschäftigten. Vor kurzem haben sie sich zur Wehr gesetzt. Wir dokumentieren einen Bericht aus der jungen welt vom 28. November.
Mark Selleslach von der christlichen, belgischen Gewerkschaft LBC-NVK freute sich: »Keine Fußmatte ist groß genug, um dieses Signal darunter zu fegen.« Rund 20.000 Arbeiter aus den verschiedenen Pflegeberufen zogen am Donnerstag lautstark durch Brüssel. »Ein Schrei nach mehr Investitionen in der Pflege«, urteilte Solidair, die Wochenzeitung der marxistischen Partei PVDA, am Donnerstag auf ihrer Homepage. An der Kundgebung nahmen auch Vertreter anderer Berufe des sogenannten Non-Profit-Sektors teil, wie zum Beispiel die Angestellten der Kinderkrippen. Die Gewerkschaften haben bis Weihnachten bereits weitere Aktionen angekündigt.
Im Wesentlichen geht es bei dem Protest um die Urlaubstage, die ältere Pfleger extra bekommen, im Volksmund etwas abschätzig »Rimpeldagen« (Faltentage) genannt. Das bedeutet: Ab dem 45. Lebensjahr haben Erwerbstätige in den Pflegeberufen Anspruch auf einen Urlaubstag extra pro Monat. Die Zahl erhöht sich mit 50 Jahren auf zwei und ab 55 Jahren auf drei Tage.
»Wir sprechen nicht von ›Rimpeldagen‹, das ist ein Wort, das die Gegner dieser Regelung erfunden haben«, stellt Selleslach in einem Interview mit De Wereld Morgen klar. »Damit sollen die Arbeiter gespalten werden.« Die Vergünstigung haben sich die Alten- und Krankenpfleger im Jahr 2000 hart erkämpft. Jetzt will Gesundheitsministerin Maggie De Block diese stark einschränken. »Eine bittere Pille«, findet Solidair. Vor allem, weil die Gewerkschaften damals für die zusätzlichen freien Tage auf zwei Prozent Lohnerhöhung verzichteten. »Die partielle Abschaffung des Systems bedeutet also einen neuen Lohnverlust«, schreibt die marxistische Zeitung.
In Zukunft sollen, so die Absicht der Gesundheitsministerin, nur noch Arbeiter freie Extratage bekommen, die ganz direkt mit den zu Pflegenden zu tun haben. »Wir sollen jetzt auch erst ab 50 Jahren Anspruch darauf haben«, erklärt Erik Lauriks von der Gewerkschaft ABBV gegenüber Solidair. »Das ist etwas, das die Unternehmer schon lange anstreben.« Sie hätten sich aber bislang nicht getraut, das deutlich zu fordern, um die Belegschaft nicht auf die Barrikaden zu treiben. »Nun löst die Regierung das für sie«, ist Lauriks wütend.
Gesundheitsministerin De Block will 900 Millionen Euro einsparen, verspricht aber gleichzeitig, dass niemand davon etwas merken wird. »Das ist natürlich Unsinn«, zitiert Solidair den Gewerkschafter Dennis De Meyer. Die »Rimpeldagen« seien vielleicht der letzte Grund, warum überhaupt noch Menschen im Pflegedienst arbeiten wollen. »Unser Sektor ist wegen der hohen Flexibilität und der weniger guten Arbeitsbedingungen nicht so attraktiv«, so De Meyer.
Der Druck im sogenannten Weißen Sektor ist enorm: Schichtarbeit, Überstunden und ein viel zu geringer Personalstand sorgen für großen Stress bei den Beschäftigten. »Das hält niemand durch«, sagt eine Pflegerin gegenüber Solidair. Die Gewerkschaften fordern schon lange, deutlich mehr Leute einzustellen. »Durch zu wenig Personal ist der Arbeitsdruck unhaltbar geworden, und die Qualität der Pflege sinkt«, sagt Raoul Hedebouw, Parlamentsabgeordneter der PVDA. »Jeder fünfte Beschäftigte leidet an Burnout.« Die PVDA fordert eine Millionärssteuer, um einen Teil der Einnahmen in die Pflege und das Gesundheitswesen zu investieren. Außerdem soll die Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich zu mehr Einstellungen führen. »Die Folge: Mehr ausgeruhtes Personal und eine höhere Qualität für die Pflegebedürftigen«, so die belgischen Marxisten.
Die Beschäftigten sind entschlossen, erst Ruhe zu geben, wenn die Pläne der Gesundheitsministerin vom Tisch sind. Seit Monaten fordern die Gewerkschaften einen neuen Tarifvertrag für den Pflegesektor, sie haben sogar schon mit der Regierung gesprochen, doch die macht bis jetzt keine Anstalten, den Beschäftigten entgegenzukommen. Belgien spricht jetzt von der Rückkehr der »Weißen Wut«, die Ende des letzten Jahrhunderts bereits das Land überspülte und am Ende dafür sorgte, dass es die heute gültige Regelung mit den Extraurlaubstagen gibt.
»Wir können das lange durchhalten, falls nötig. Die Regierung kommt mit einer Demonstration nicht davon«, sagte Selleslach am Donnerstag gegenüber der Presse. Aber zunächst will man noch einmal mit der Gesundheitsministerin zusammenkommen. Ein Treffen mit der flämischen Provinzregierung fand bereits kurz nach der Demonstration vom Donnerstag statt. Der alte Tarifvertrag ist Ende 2015 ausgelaufen, seitdem ist nicht viel passiert. »Es ist wichtig, dass wir auch in schwierigen Zeiten zu Sozialverträgen kommen«, so Selleslach. Fast jeder vierte Belgier kämpft mit einer langanhaltenden Krankheit oder einem Handicap, das gibt sogar die Regierung zu. »Kann es sein, dass es da einen Zusammenhang gibt mit der Politik des immer mehr, länger und flexibler Arbeitens?«, fragt De Wereld Morgen rhetorisch.
(Quelle: Junge welt 28. November 2016)
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Kämpfe im Gesundheitswesen, 4/2016)