Virtuoses Auslassen
Einer der momentan beliebtesten Redner auf Ärztetagen und medizinischen Fachkongressen ist der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio.
Wohl artikulierend in klaren, einsichtigen Gedankengängen und glaubhaft engagiert, klärt er die Ärzteschaft unaufgeregt darüber auf, wie die Ökonomisierung des Gesundheitswesens der eigentlichen ärztlichen Tätigkeit die Grundlage entzieht. Nach einem solchen Redebeitrag reibt man sich mitunter verwundert die Augen, wer alles im Saal enthusiastisch Beifall klatscht. In der renommierten von Bernd Hontschik im Suhrkamp Verlag herausgegebenen Reihe »medizinHuman« erschien von G. Maio der Band: »Geschäftsmodell Gesundheit – Wie der Markt die Heilkunst abschafft«. In wieweit kann dieser Diskussionsbeitrag für Kämpfe gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens fruchtbar gemacht werden?
Zunächst reflektiert Maio das Verhältnis der Medizin zur Ökonomie. Das ist für ihn keineswegs ein antagonistisches. Vielmehr wird die Existenz der Medizin erst durch die Ökonomie ermöglicht. Die Ökonomie schafft die materiellen Voraussetzungen für eine effektive Medizin. Dabei unterliegen allerdings Medizin und Ökonomie jeweils einer eigenen in sich selbst berechtigten Logik, die miteinander in Konflikt geraten können.
Am »Krankenbett erweist sich die Logik der Ökonomie als eine der Medizin fremden Logik, weil die Medizin eben keine Dienstleistung ist, sondern eine soziale Praxis und weil die Medizin es im Kern nicht mit Kunden zu tun hat, sondern mit hilfsbedürftigen Menschen…« (S. 20) Maio beschreibt einen seit 1993 anhaltenden Verlust des Sozialen und die ökonomische Überformung der Medizin. In den Krankenhäusern waren für ihn dabei die Budgetierungen und die Einführung der DRG die entscheidenden Schritte. Gerade die Einführung der Abrechnung auf Basis von Fallpauschalen fördert den Blick auf die eine Hauptdiagnose und verstärkt den schon zuvor bestehenden Trend immer weniger das Ganzheitliche im Menschen zu sehen. »… ökonomische Logik (überlagert) die bis dahin geltende medizinische Logik, und das, was einen Arzt ausmacht – nämlich, dass er sich immer das Gesamtbild des Patienten verschafft, bevor er etwas entscheidet –, wird durch die ökonomische Denkweise immer mehr für obsolet erklärt« (S. 33).
Maio spürt den Umwandlungsprozess der Krankenhäuser auf vielfältigen Ebenen nach. Beispielsweise beschreibt er auf Michel Foucault zurückgreifend sehr genau die subtile nichtdirigistische Disziplinierung der Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern. Diese Manipulation gelingt so gut, dass es die Ärztinnen und Ärzte sind, die die medizinische Logik verabschieden und nicht die Ökonomen. Dabei wird die ökonomische Logik übernommen, »die zunächst als eine fremde wahrgenommen wird, aber allmählich die eigene Identität so durchtränkt, dass sie zur Normalität wird« (S.49). Bei der Darstellung der Veränderung der Arbeitsinhalte und -bedingungen in den Krankhäusern wird allerdings immer ein arztzentrierter Blick gewahrt. Andere Berufsgruppen erscheinen allenfalls nur ganz am Rande. So wird nebenbei erwähnt, dass die Pflegeberufe ebenfalls stark unter der Privatisierung der Krankenhäuser litten.
Im Weiteren widmet sich Maio auch der Ökonomisierung der ambulanten Medizin. »Gerade im ambulanten Bereich aber werden Ärzte gebraucht, die nicht nur Algorithmen umsetzen, sondern die Lebensbegleiter ihrer Patienten sind, weil sie sie besonders gut kennen. Diese Qualität der fürsorglichen langfristigen Begleitung und der Fähigkeit zu integrativem Denken wird heute jedoch schlichtweg abgewertet und schlägt sich in der Honorierung in keiner Weise nieder. … Das Vergütungssystem bestraft finanziell die Ärzte, die im Interesse ihrer Patienten versuchen, eine Beziehungsmedizin zu realisieren, und es belohnt die Ärzte, die statt des Gesprächs, statt der Beziehung eher auf Technik, auf Invasivität setzen« (S. 82).
Dieser Analyse ist ohne jegliche Einschränkung zuzustimmen. Allerdings wäre dann hier auch der Platz den medizinisch-industriellen Komplex zu beleuchten, der dieses Vergütungssystem befördert. Die Ursachen dieses Vergütungssystems werden nicht klarer, indem man an dieser Stelle bewusst verschwommen erläutert, dass für einige Ärzte die Übernahme der ökonomischen Logik »komfortabel« erscheint (S. 50). Völlig fehlt denn in diesem Buch auch ein Blick darauf, wie bereitwillig sich gerade Niedergelassene an die Pharmaindustrie verkaufen, was erhebliche Implikationen für die praktizierte Medizin hat.
Eine radikale gut nachvollziehbare Kritik unterzieht er dem Bild des Patienten als Kunde, das zu einer Zeit etabliert wird, in der unterdessen der Sozialstaat abgeschafft wird. »Wenn nun die moderne Medizin im Zuge der Marktorientierung den Patienten zum Kunden macht, wird der Kunde zwar König sein, aber nur um den Preis, dass er allein als Konsument und mit Blick auf seine ›Kaufkraft‹ ernst genommen werden wird. Die Umfunktionierung des Patienten zum Kunden ist daher gleichbedeutend mit der Ausblendung seines Menschseins und mit seiner Instrumentalisierung zum Zwecke der Gewinnmaximierung« (S. 96f.).
Harte, wahre Worte und hier werden dann auch ein wenig die Ärzte kritisiert. Es »ist zugleich zu bedenken, dass sich im Bereich der Wahlleistungen, im Bereich der privaten Patienten, wo die Normierungen nicht so greifen, ein gefährlicher Trend auftut: Ärzte werden tatsächlich durch das ökonomische System dazu angehalten, ihren Kunden so viel wie möglich zu verkaufen. Den allerwenigsten wird dabei jedoch bewusst, dass diese – aus ökonomischer Sicht ja selbstverständlich – angepeilte Kundenbindung die Ärzte dazu verleitet, das eigentliche Ziel ihres ärztlichen Auftrags aus dem Auge zu verlieren« (S. 96).
Aber auch hier gilt, dieses Denken wird aktiv – und keineswegs nur passiv erduldend und durch »die Ökonomie« gedrängt – von der Mehrheit der Ärzteschaft betrieben. Man denke nur an die immer wieder von Ärzten in die Debatte eingeführte Forderung nach Einzelleistungsvergütung. Umgekehrt wird von Maio der Ärzteschaft gegenüber den anderen Akteuren im Gesundheitswesen eine Rolle als moralische Instanz zugeschrieben: Der Arzt »darf nicht privaten Interessen nachgehen, seien es die partikularen Interessen der Klinikkonzerne, seien es die partikularen Interessen der Patienten, die ihn möglicherweise benutzen wollen, um eigenen Profit zu machen oder um das System auszubeuten oder sich selbst zu schädigen« (S. 152). Und wie steht es um die partikularen Interessen der Ärzteschaft?
Überhaupt stellt sich die Frage, wie es in den letzten zwanzig Jahren zu der rasanten Ökonomisierung des Gesundheitswesens gekommen ist. An diesem Punkt wird der sonst so beredte Autor ganz einsilbig. Es gibt für Maio die Medizin und die Ökonomie, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. Dieses hat sich so gewandelt, dass die Ökonomie zunehmend in die innere Logik der Medizin eingreift. Zu erklären, wie es dazu gekommen ist und welche Interessen sich dabei durchgesetzt haben, war zwar nicht das zentrale Anliegen dieses Buches, aber da Medizin nun einmal im gesellschaftlichen Raum stattfindet und politischen Prozessen unterworfen ist, müsste es doch zumindest eine Andeutung davon geben, da sonst die Analyse bei aller Virtuosität auf halbem Weg stehen bleibt.
Bernhard Winter
Giovanni Maio: »Geschäftsmodell Gesundheit – Wie der Markt die Heilkunst abschafft«, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2014
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Kämpfe im Gesundheitswesen, 4/2016)