Kanada als Vorbild
Ein Reisebericht des Gesundheitskollektivs Berlin e.V.
Im April 2016 hatten zwei Mitglieder unseres Kollektivs die Möglichkeit, an einer von der Robert-Bosch-Stiftung organisierten Studienreise nach Kanada teilzunehmen. Im Fokus standen verschiedene Einrichtungen des dortigen Gesundheitssystems und die Frage, inwieweit diese als Vorbilder für das deutsche System dienen könnten. Zugegebenermaßen wussten wir vor Abreise im Wesentlichen, dass es sich beim kanadischen Gesundheitssystem um ein öffentliches, aus Steuern finanziertes System handelt, mit vergleichbaren Gesundheitsausgaben wie Deutschland. Tatsächlich kamen wir ziemlich begeistert und mit neuem Optimismus für unser eigenes Vorhaben nach Deutschland zurück.
1. Paradigmenwechsel in der primärmedizinischen Versorgung: Die Umstellung auf eine teambasierte, patientenzentrierte Medizin
Als Kollektiv selbst von der Vision getrieben, eine Gesundheitsversorgung zu schaffen, die viel mehr ist als medizinische Versorgung, erfuhren wir in Kanada von einem beeindruckenden Paradigmenwechsel in Bezug auf die dortige Primärversorgung: Tatsächlich ist es Kanada in einer relativ kurzen Zeitspanne von ca. zwanzig Jahren gelungen, von einer ärztezentrierten, hierarchisch organisierten Medizin von »Einzelkämpfern« auf ein System umzustellen, das von der Vision einer patientenzentrierten Versorgung getragen ist und Gesundheitsversorgung als Gemeinschaftsaufgabe verschiedener Berufsgruppen begreift.
Denn, denkt man vom einzelnen Menschen aus, ist es sinnvoll, die gesamte gesundheitliche Versorgung an nur einem Ort zu ermöglichen und mithilfe eines eng kooperierenden Teams, das fachliches Wissen miteinander teilt und sich der Belange der PatientInnen gemeinsam und umfassend annimmt.
Statt also, wie hierzulande, von der Krankheit her zu denken und die PatientInnen seinen verschiedenen Krankheitsbildern entsprechend von Facharzt zu Fachärztin zu schicken, rückt in diesem Modell der Mensch als »Einheit« in den Vordergrund. Umgesetzt wird diese teambasierte Gesundheitsversorgung u.a. in der Einrichtung sogenannter Family Health Teams, die 2005 durch ein Programm des Gesundheits- und Sozialministeriums Ontario eingeführt wurden: interprofessionelle Teams, in denen ÄrztInnen und PflegerInnen mit weiteren Gesundheitsprofessionen wie z.B. ErnährungsberaterInnen oder SozialarbeiterInnen zusammenarbeiten und die Versorgung ihrer PatientInnen gemeinsam koordinieren.
Nicht nur für PatientInnen, auch für ÄrztInnen scheint die Arbeit in Teams mittlerweile ein attraktives Modell: Man erklärte uns, dass die ÄrztInnen heute immer weniger bereit seien, das finanzielle Risiko und die persönlichen Einbußen wie Überstunden und bürokratischen Aufwand einer Einzelpraxis einzugehen, wenn sich ihnen die Möglichkeit böte, auf Angestelltenbasis zu arbeiten und sich Arbeit(szeit) und Verantwortung in einem Team zu teilen.
In einer Gegend wie Downtown Toronto, so erzählte uns beispielsweise eine Krankenhausmitarbeiterin, habe ihr Vater nach Eintritt in das Rentenalter für seine bis dahin gut laufende Praxis mit etwa 3 000 PatientInnen keinen Abnehmer mehr gefunden. Natürlich gab es auch in Kanada, wandte man auf unsere ungläubige Nachfrage hinein, viel Widerstand von Seiten der ÄrztInnen, die nicht gewillt waren, von ihrem Status als bisherige Spitze des Gesundheitssystems abzurücken; sie lehnten die Arbeit in (mehr oder minder) gleichberechtigten Teams ab.
Aber die Regierung schien und scheint bereit, die notwendige Nachhilfe zu leisten, und beispielsweise in ein Ausbildungssystem zu investieren, das die interprofessionelle Zusammenarbeit zum festen Bestandteil der Ausbildung angehender Mediziner macht. Derzeit haben etwa 25-30 Prozent der EinwohnerInnen Ontarios Zugang zu einer teambasierten Primärversorgung, doch der flächendeckende Ausbau der »Family Health Teams« soll weiter vorangetrieben werden.
2. »Aus der Gemeinde für die Gemeinde«: Das Modell der Community Health Center
Eine wunderbare Inspiration für unser eigenes Vorhaben waren neben den insgesamt beachtlichen Kooperations- und Koordinationsleistungen des kanadischen Systems die sogenannten Community Health Center, kurz CHCs genannt. Diese Einrichtungen – die man mit Gemeinde-Gesundheitszentren übersetzen könnte und die tatsächlich eine Mischung aus Gemeinwesenarbeit und Gesundheitsversorgung darstellen – repräsentieren eine in Deutschland völlig unbekannte Radikalität, wenn es darum geht, die sozialen Determinanten von Krankheit und Gesundheit mit in die (staatliche!) Gesundheitsversorgung einzubeziehen.
Finanziert aus dem Budget der lokalen Gesundheitsbehörden (die in Kanada für die Planung, Finanzierung und Überwachung der Gesundheitsdienste zuständig sind), schreiben sich die CHCs die Verminderung sozialer Ungleichheit offen auf die Fahnen. Häufig aus lokalen Anwohnerinitiativen heraus entstanden – das CHC Woolwich geht zum Beispiel auf die Initiative eines lokalen Farmers zurück und nahm seinen Ausgang in einer Anwohnerbefragung zu den dringlichsten Problemen der Gemeinde –, versuchen die CHCs, ihr Programm den Bedarfen ihrer community möglichst genau anzupassen.
Dementsprechend individuell sind die CHCs in der Aufstellung ihrer Teams und ihrer Angebote: Das ländlich verortete CHC Woolwich kümmert sich neben den Bedarfen der Farmerfamilien beispielsweise stark um die dort lebende mennonitische Gemeinde, bietet Alphabetisierungsprogramme an und ist den kulturellen Eigenheiten dieser Gemeinschaft besonders gut angepasst. Das CHC Toronto East Side wiederum richtet sein Angebot an eine urbane Bevölkerung aus allen Einkommensschichten. Außerdem sind die dortigen Mitarbeiter Innen in vielen Gremien aktiv und nehmen auch politisch Einfluss auf die Entwicklung ihres Stadtteils.
Gemeinsam ist allen CHCs wiederum der ganzheitliche Ansatz ihrer Arbeit: Es geht immer darum, den ganzen Menschen im Blick zu haben und die Zusammenhänge zwischen seinen Problemen zum Bestandteil der Lösung zu machen. Zu einem Team aus (i.d.R.) ÄrztInnen bzw. PflegerInnen, Hebammen, SozialarbeiterInnen kann daher auch eine in das Zentrum integrierte Rechtsberatung hinzukommen – »Legal Clinic« genannt –, die sich der in enger Wechselwirkung mit gesundheitlichen Problemen stehenden rechtlichen Belange der KlientInnen (beispielsweise Wohnungsnot, Schulden oder Drogendelikte) annimmt.
Ganzheitlichkeit kann aber – wie im Falle des CHCs, das wir in Guelph, 100 km westlich von Toronto besuchten – auch bedeuten, dass die Zentrumsarchitektur so angelegt ist, dass sie nicht separierend funktioniert: Im Erdgeschoss dieses CHCs fanden wir eine Spritzenvergabestation für Drogenabhängige (mit dazugehörigem Beratungsprogramm) direkt neben einem Eltern-Kind-Spielzimmer vor. Der Witz, den die MitarbeiterInnen des Zentrums machten, lautete, dass es die Drogenabhängigen seien, die sich über den Lärm der Kinder beschwerten und keineswegs umgekehrt.
Sprachliche Barrieren, die ganz wesentlich zur sozialen Ungleichheit im Gesundheitswesen beitragen, versucht man außerdem durch ein großes Angebot an ÜbersetzerInnen und Gesundheitslotsen abzubauen. Ein wesentlicher Teil der Arbeit, so fasste es eine Mitarbeiterin zusammen, sei deshalb eigentlich Integrationsarbeit.
3. Woher kommt der politische Wille?
Bei uns haben die CHCs tiefen Eindruck hinterlassen. Wir mussten an die Gemeinschaftspraxen der siebziger und achtziger Jahre denken, die mit ähnlichen Motiven gestartet waren, bei uns den Charakter des Experimentellen und Besonderen jedoch nie ganz verloren haben, während sie in Kanada mittlerweile Teil der Regelversorgung sind. Allein im Bundesstaat Ontario existieren heute an die 75 solcher Zentren, viele mit kleineren Zweigstellen, in ganz Kanada sind es etwa 300.
Natürlich fragten wir uns, woher der politische Wille kommt, in diese Versorgungsformen zu investieren und Reformprozesse in diese Richtung von staatlicher Seite aus anzustoßen. Dabei lässt sich der Ansatz der bedarfsorientierten Versorgung durchaus als Kanadas staatliche Antwort auf die Angst vor steigenden Kosten im Gesundheitssystem verstehen. Zu dieser Sorge tragen in Kanada ähnliche Szenarien bei wie in Deutschland: eine alternde Bevölkerung, die zunehmende Anzahl an chronisch kranken und multimorbiden Patienten, sowie eine hohe Belastung des Gesundheitssystems durch Menschen aus unteren Einkommensschichten. Immer wieder bekamen wir den Satz zu hören, dass nur etwa fünf Prozent der Bevölkerung 50 Prozent der Kosten im Gesundheitssystem verursachen.
Darüber hinaus scheint jedoch ein wesentlicher Unterschied zu hiesigen Bestrebungen der Kostenminimierung darin zu bestehen, dass der Mensch als eigentliches Ziel und Zweck des Gesundheitssystems nicht vergessen bzw. als störender Faktor empfunden wird: Alle Einrichtungen zeichneten sich durch ein für deutsche Verhältnisse kaum vorstellbares Maß an Partizipation und Mitbestimmung von Gemeindemitgliedern und NutzerInnen aus. CHCs beispielsweise werden durch Bürger-Gremien (community boards) kontrolliert und leben von der Beteiligung ihrer Gemeinde an Evaluation und Programmentwicklung.
Auch die FHTs werden durch mehrköpfige Vorstände verschiedener Professionen geleitet. Über die Definition von Qualität wird also nie von nur einer Partei, sondern immer von mehreren entschieden. Unseren kanadischen Gesprächspartnern erschien es völlig absurd, dass Finanzpläne im Gesundheitswesen ausschließlich von Ökonomen erstellt werden und sich die Arbeit der ÄrztInnen und PflegerInnen letztlich den Weisungen der Rechenstellen zu fügen hat. Jedenfalls scheint der in Deutschland so oft angeführte Konflikt zwischen Kostensenkung und Qualitätsverbesserung, gemessen an unseren Erfahrungen in Kanada, nicht besonders plausibel. Nicht zuletzt diese Einsicht stimmt uns vorsichtig hoffnungsvoll für unser eigenes Projekt.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Von der Solidarität zur Betriebswirtschaft, 3/2016)