Eine Kasse für alle
Viola Schubert-Lehnhardt und Anne Urschll über die Sozialversicherung in der DDR
Wenn man verstehen will, warum viele BürgerInnen in den neuen Bundesländern mit einer Krankenkasse für alle BürgerInnen kein Problem haben, muss man das System der Sozialversicherung der DDR in groben Zügen kennen. Ein gegliedertes Sozialversicherungssystem wie in der Bundesrepublik gab es nicht.
Mit der Gründung der DDR 1949 wurde bereits die Sozialversicherung (SV) in der Verfassung der DDR festgeschrieben. Später erfolgte mit einer Verordnung des Ministerrates vom April 1951 die Übertragung der politischen und organisatorischen Zuständigkeit für die SV von den Sozialversicherungsanstalten der Länder an den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB).
Die SV war die gesetzliche Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung für alle Arbeiter und Angestellte. Die Versicherungspflicht galt aber nicht nur für Arbeiter und Angestellte, sie galt auch für Lehrlinge, Studenten und Fachschüler. Sie galt ebenso für freiberuflich tätige Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte.
Die Staatliche Versicherung der DDR war für die soziale Absicherung für Mitglieder Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften (LDG) und Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH) sowie von selbständigen Unternehmern und freiberuflich tätigen Personen (nicht aber Ärzten). Eine gesonderte Sozialversicherung bestand für die in der SDAG Wismut(1) Beschäftigten. Hier erfolgte die Finanzierung direkt aus dem Staatshaushalt der DDR und der Sowjetunion.
Ein Kammersystem für Ärzte, Rechtsanwälte etc., wie es in der Bundesrepublik gibt, gab es also auch nicht. Der Beitragssatz war für alle Versicherten einheitlich auf 20 Prozent des Bruttoeinkommens festgelegt bei einem Höchstsatz von 120 Mark pro Monat. Jeweils die Hälfte des Betrags wurde vom Versicherten und von seinem Arbeitgeber gezahlt. Die in der SV des FDGB versicherten freiberuflich tätigen Personen zahlten den vollständigen Beitrag von 20 Prozent allein. Somit zahlten alle in der SV Versicherten in eine Kasse ein.
Abweichungen gab es für im Bergbau Beschäftigte. Der Arbeitnehmer zahlte zehn Prozent und der Arbeitgeber hatte 20 Prozent zu zahlen. Durch die staatliche Fürsorge wurden die Beiträge konstant gehalten. Entstehende Defizite wurden durch Staatszuschüsse ausgeglichen. Der SV Haushalt war Teil des Staatshaushalts der DDR.
Für die Unfallversicherung wurden von den Betrieben zusätzliche Beiträge entrichtet.
Der Satz von 0,3 Prozent pro Arbeitnehmer wurde multipliziert mit einer betriebsspezifischen Gefahrenklasse. Dieser Betrag wurde dann abgeführt. Die von der SV gewährten Versicherungsleistungen umfassten die Versorgung bei Krankheit, bei Schwanger-und Mutterschaft, im Ruhestand, bei Unfall und Invalidität sowie beim Tod von Angehörigen.
Der (grüne) Sozialversicherungsausweis war neben dem Personalausweis das wichtigste Dokument für den DDR-Bürger. Alle relevanten Angaben wie versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, genehmigungspflichtige Heilbehandlungen, Kuren, Heil- und Hilfsmittel, Tauglichkeitsuntersuchungen z. B. für bestimmte Berufsgruppen und Vorsorgeuntersuchungen einschließlich Impfungen wurden hier eingetragen. Es erfolgte somit kein Arztbesuch ohne den SV-Ausweis. Der SV-Ausweis war trotz der Fülle seiner Daten kein bürokratisches Monster. Seine Akzeptanz war unbestritten.
Viola Schubert-L. erinnert sich: Ich wurde 1955 in Leipzig geboren. Meine Mutter war Krankenschwester, mein Vater Schlosser, somit waren beide Mitglied der SVK der DDR und diese bezahlte sowohl die Klinikgeburt, als auch das Arbeitsentgelt meiner Mutter im Mutterschutz vor und nach der Entbindung (damals 11 Wochen bei Lohnausgleich(2)). Für beide Elternteile galt eine Beitragspflicht in Höhe von 20 Prozent des Bruttolohnes – jeweils hälftig durch den Beschäftigten und den Arbeitergeber zu entrichten, jedoch maximal 60 Mark monatlich.(3)
Die SVK bezahlte im weiteren Verlauf meines Lebens vollständig (d. h. ohne Selbstbeteiligung) sämtliche notwendigen Untersuchungen (neben allgemeinen Untersuchungen bei Krankheiten auch z. B. Krippentauglichkeit, Schuleingangsuntersuchung, Sportzeugnisse) sowie im Krankheitsfall stationäre Aufenthalte, Kuren und Medikamente. Weiterhin wurden für uns selbstverständlich die evt. notwendigen Fahrtkosten zu anderenorts befindlichen stationären Einrichtungen oder Kurheimen übernommen.
Da ich als Kind häufiger krank war, erinnere ich mich auch, dass meine Mutter zur Begleitung von diversen Arztbesuchen bzw. Pflege von der Arbeit bei Lohnausgleich freigestellt war. Gleiches traf dann auf die Versorgung meines 1966 geborenen Bruders zu. In unserer Familie waren daher Kosten für Medikamente, medizinische Maßnahmen etc. nie ein Thema.
Dies trifft sicher so auf die Mehrheit der DDR-Bevölkerung zu. Fehlende Versorgungsmöglichkeiten, Engpässe, Mangelerscheinungen – kurz alles das, was nach 1990 dem Gesundheitswesen der DDR vorgeworfen wurde – begründen sich (neben der besonderen politischen Situation der DDR während der offenen Grenze bzw. in der Zeit des kalten Krieges) mit politischen und wirtschaftlichen Fehlentscheidungen in der Gesamtpolitik, jedoch nicht durch das bestehende System der Sozialversicherung! (4)
Mit Beginn meines Studiums 1973 bekam ich meinen ersten Sozialversicherungsausweis und zahlte während meines Studiums 20 Mark monatlich. Diese Summe deckte sowohl notwendige Untersuchungen bzw. Behandlungen im In- und Ausland ab (mein Studienort war Leningrad). Generell waren für DDR-BürgerInnen notwendige Behandlungen im sozialistischen Ausland ohne zusätzliche Versicherungen mit abgesichert. 1988 bekam ich meine Tochter – auch wurden alle notwendigen Maßnahmen durch die SVK abgegolten, inklusive 90 Prozent Lohnausgleich im Babyjahr.
Viola Schubert-Lehnhardt ist Medizinethikerin, geboren und aufgewachsen in Leipzig, Anne Urschll ist langjährige Mitarbeiterin der gesundheitspolitischen Sprecherinnen der Partei die Linke im Thüringer Landtag bzw. Senat von Hamburg, geboren und aufgewachsen in Sangerhausen
Anmerkungen
1 Die SDAG Wismut (Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft) war ein Bergbauunternehmen, das sich zwischen 1946 und 1990 zum weltweit viertgrößten Produzenten von Uran nach der UdSSR, den USA und Kanada entwickelte. Sowjetische Aktiengesellschaft (SAG) war die Bezeichnung für Wirtschaftsunternehmen in der SBZ/DDR, die von der Sowjetunion gegründet und geleitet wurden. Hauptzweck war die Abdeckung von Reparationsansprüchen der Sowjetunion.
2 Entsprechend des Gesetzes von 1950 »Gesetz für Kinder- und Mutterschutz und die Rechte der Frau«. Ab 1976 gab es dann ab dem zweiten Kind das bezahlte Babyjahr, ab 1984 galt dieses dann schon beim ersten Kind. Ebenfalls seit 1976 erhielten Mütter mit zwei Kindern unter 16 Jahren Arbeitszeitverkürzung und mehr Urlaub.
3 Das Durchschnittseinkommen von DDR-Beschäftigten betrug 1955 432 Mark – s. http://de.statist.com/statistik/daten/studie/249254/umfrage/durchschnittseinkommen-in-der-ddr – eingesehen am 16.8.2016
4 Bereits 1985 begründete Norman Daniels in seinem Buch »Just health care« ausführlich, dass Untersuchungen zur Bewertung des Gesundheitswesens eines Landes nicht stillschweigend davon ausgehen können, dass das jeweilige gesamte gesellschaftliche System gerecht ist. D.h. viele auf gesundheitspolitischer Ebene auftretende Ungerechtigkeiten bzw. bestehende Probleme sind letztendlich Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Probleme und Strukturen und können, so Daniels weiter, auch nicht allein auf der Ebene des Gesundheitswesens gelöst werden. Norman Daniels: »Just health care«, Cambridge University Press 1985, S. 113
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Von der Solidarität zur Betriebswirtschaft, 3/2016)