Wie viele Arztpraxen sind notwendig?
Ruedi Spöndlin über einen aktuellen Konflikt in der Schweiz
Welche Ärztinnen und Ärzte sollen auf Rechnung der gesetzlichen Krankenversicherung praktizieren dürfen? Um diese Frage drehte sich eine der heftigsten Diskussionen in der schweizerischen Gesundheitspolitik der letzten Jahre. Letztlich ging es auch darum, ob die Krankenkassen oder der Staat das Angebot steuern. Die Entscheidung ist vorerst vertagt.
Jede neue Arztpraxis treibt die Kosten in die Höhe!
So lautet seit Jahrzehnten das Mantra der Gesundheitsökonomie. Um die Jahrtausendwende machten die politisch Verantwortlichen dann Ernst und begrenzten die Zulassung neuer Arztpraxen. Unmittelbarer Anlass dafür war das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU, das allen Ärztinnen und Ärzten die Eröffnung einer Praxis in der Schweiz erlaubt hätte. Durch eine Ergänzung des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) verlieh das Parlament den Kantonen ab dem Jahr 2001 die Befugnis, die Zulassung neuer Arztpraxen vom Bedarf abhängig zu machen.
Die betreffende Gesetzesbestimmung (Art. 55a KVG) war auf drei Jahre befristet. Obwohl die Regelung niemanden wirklich befriedigte, verlängerte sie das Parlament aber jedes Mal kurz vor ihrem Auslaufen in mehr oder weniger unveränderter Form. Im Jahr 2016 war es wieder einmal soweit. Die Regierung wollte das Provisorium nun aber beenden und eine definitive Zulassungsbegrenzung einführen.
Die rechtsbürgerlichen Parteien, die bei den Wahlen kurz zuvor ihre Stellung ausgebaut hatten, brachten das Vorhaben im Dezember 2015 allerdings im Parlament zu Fall. Als Übergangsmaßnahme boten sie dann aber an, den seit 2001 bestehenden Zulassungsstopp nochmals um drei Jahre zu verlängern. Schon bald wird die Auseinandersetzung über die Angebotssteuerung in der ambulanten Medizin also wieder losgehen.
Markt oder staatliche Planung?
Auf den ersten Blick scheint die Auseinandersetzung um den Zulassungsstopp nur standespolitische Interessen der Ärzteschaft zu betreffen. Dem ist aber nicht so. In Wirklichkeit geht es um grundlegende Konzepte, die die gesamte Bevölkerung betreffen. Den maßgeblichen Gegnern des Zulassungsstopps schwebt vor, das Angebot nicht staatlich zu steuern, sondern den Marktkräften zu überlassen.
Eines ihrer Modelle besteht aus regional abgestuften Tarifen, ein anderes postuliert die sogenannte Vertragsfreiheit. Letztere meint die Freiheit der Krankenkassen, nicht mehr jede Arztpraxis unter Vertrag nehmen zu müssen. Das liefe darauf hinaus, dass die Krankenkassen entscheiden, in welcher Praxis sich ihre Versicherten behandeln lassen dürfen. Die freie Arztwahl wäre passé, die Macht der Krankenkassen würde gestärkt. Sie könnten sich möglichst günstige Arztpraxen aussuchen und so direkt auf die Versorgung Einfluss nehmen.(1)
Der Zulassungsstopp hingegen ist eine Form staatlicher Planung, die den Krankenkassen nicht soviel Macht verleiht. Deshalb befürworteten ihn letztlich auch die ärztlichen Berufsverbände FMH (Schweizerische Ärztevereinigung) und VSAO (Verband Schweizerischer Assistenz- und OberärztInnen), obwohl sie anfänglich durchaus Vorbehalte gegenüber einer Einschränkung der freien Praxiseröffnung hatten.
Sie machten ihre Zustimmung auch von Bedingungen abhängig(2). Die gegenwärtige Regelung ist insofern relativ moderat, als Ärztinnen und Ärzte ohne Einschränkung eine Praxis eröffnen dürfen, wenn sie zuvor drei Jahre an einer schweizerischen Weiterbildungsstätte gearbeitet haben. Wer an einem Schweizer Krankenhaus seine Assistenzjahre absolviert hat, ist also frei, in der Schweiz eine Praxis zu eröffnen.
Sind zusätzliche Arztpraxen wirklich Kostentreiber?
Dass die Anzahl der Arztpraxen und die Kosten ohne gesetzliche Einschränkung sprunghaft ansteigen würden, gilt als erwiesen. Denn Ende 2012 wurde der Zulassungstopp nicht nahtlos verlängert, eineinhalb Jahre lang konnten uneingeschränkt neue Praxen eröffnet werden. Von Januar bis Juni 2012 sollen 1 151 Zulassungsgesuche für neue Praxen eingegangen sein, während es im Vergleichszeitraum des Vorjahrs nur 513 waren.
Dabei soll jede neue Praxis Kosten von 500. 000 Franken pro Jahr verursachen. Das schreibt jedenfalls der Bundesrat(3). Umgekehrt wird die kostendämpfende Wirkung des Zulassungsstopps bestritten. Der Krankenkassendachverband santésuisse hält diesen nicht für wirksam und macht geltend, dieser habe zu einer Verlagerung von Arztpraxen zu Krankenhaus-Ambulatorien geführt. Und letztere seien die größten Kostentreiber(4). Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass die Stellungnahme von santésuisse nicht unbeeinflusst von den Interessen der Krankenkassen sein könnte, denn diese streben die Vertragsfreiheit an.
Es mangelt an Hausärztinnen und Hausärzten
Trotzdem ist inzwischen klar geworden, dass es nicht einfach zu viele Ärztinnen und Ärzte gibt. So bildet die Schweiz nicht genügend Mediziner aus, um die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Ohne medizinisches und pflegerisches Personal aus den EU-Ländern, insbesondere aus Deutschland, ginge im Schweizer Gesundheitswesen nicht mehr viel. Vor allem die Krankenhäuser sind auf Mitarbeitende aus dem Ausland angewiesen.
Dies missfällt natürlich denjenigen, welchen jede Form der Einwanderung ein Gräuel ist. Aber auch wer frei von ausländerfeindlichen Abwehrreflexen ist, kann diesen Zustand nicht vorbehaltlos gutheißen. Denn die reiche Schweiz entzieht auf diese Weise anderen Ländern medizinisches Fachpersonal, dessen Ausbildung sie nicht finanzieren musste. So hat die WHO den Grundsatz formuliert, dass jeder Staat das zur Versorgung seiner Bevölkerung benötigte Personal selber ausbilden sollte. Dem soll nun politisch Rechnung getragen werden. An den Universitäten werden zusätzliche Studienplätze geschaffen und der Numerus wird clausus gelockert. Das Herauffahren der Ausbildungskapazitäten benötigt aber Zeit, so rasch lässt sich der Mangel also nicht beheben.
Ein Mangel besteht in vielen Regionen vor allem an Hausärztinnen und Hausärzten, die die Grundversorgung gewährleisten. Daneben mag es durchaus zu viele Spezialpraxen geben. Das Problem wird sich in absehbarer Zeit verschärfen, weil ein großer Teil der Grundversorger bald in Rente gehen wird. Viele von ihnen haben eine Einzel- oder Zweierpraxis. Dafür finden sie kaum Nachfolger.
Jüngere Kolleginnen und Kollegen wünschen sich neben der Medizin noch ein Privat- und Familienleben und wollen reduziert arbeiten. Das ist eher in einer größeren Gruppenpraxis möglich. Gerade Frauen wollen oft Teilzeit arbeiten, und der Frauenanteil im Arztberuf nimmt deutlich zu. Hinzu kommt, dass viele jüngere Medizinerinnen und Mediziner ein Anstellungsverhältnis dem Kleinunternehmertum vorziehen. Also arbeiten sie lieber in einem größeren Ambulatorium.
Um die Grundversorgung zu fördern, reichte der Berufsverband ›Hausärzte Schweiz‹ am 1. April 2010 ein Volksbegehren ein. Er zog dieses im Jahr 2013 aber zurück, nachdem Bundesrat und Parlament seinen Anliegen mit einem Gegenvorschlag Rechnung getragen hatten. Diesen hießen die Stimmberechtigten in einer Volksabstimmung vom 18. Mai 2014 dann mit einer Mehrheit von 88 Prozent gut. Gestützt darauf wird nun ein ›Masterplan Hausarztmedizin‹ erarbeitet(5). Damit sind die politischen Weichen in Richtung einer Stärkung der Grundversorgung gestellt.
Ruedi Spöndlin lebt in Basel. Er war von 1985 bis Ende 2011 Redakteur der Zeitschrift Soziale Medizin.Die Soziale Medizin wurde Ende 2011 eingestellt, ist aber online noch in einem gewissen Ausmaß präsent (www.sozialemedizin.ch)
Anmerkungen
1 Die Tarife sind heute in der Schweiz noch einheitlich. Sie beruhen auf Verträgen zwischen den Verbänden der Krankenkassen und der Leistungserbringer. Kommt kein Vertrag zustande, kann der Bundesrat oder die Kantonsregierung den Tarif festsetzen – je nachdem, ob es sich um einen nationalen oder regionalen Tarif handelt. Vom Gesetz her wären Spezialtarife zwischen einzelnen Krankenkassen und einzelnen Leistungserbringern zwar möglich, faktisch wird davon aber nicht Gebrauch gemacht. Mit der Einführung der Vertragsfreiheit würde das aber zweifellos geändert. Dazu wären sowieso Gesetzesänderungen nötig.
2 http://www2.vsao.ch/content/default.asp?txtParentID=47&txtCatID=664
3 https://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2012/9439.pdf
4 http://www.nzz.ch/schweiz/statistischer-blindflug-beim-aerztestopp-1.18678187
5 http://www.hausaerzteschweiz.ch
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Von der Solidarität zur Betriebswirtschaft, 3/2016)