GbP 3-2016 Udo Schagen

Gegen den Widerstand der Ärzteschaft

Udo Schagen zum Kampf der Krankenkassen um Ambulatorien und Polikliniken

Udo Schagen rekonstruiert die Geschichte der Kämpfe der Gesetzlichen Krankenkassen in der Weimarer Republik und nach 1945 um Ambulatorien und Polikliniken mit angestellten Ärzten. Größter Gegner war die organisierte konservative Ärzteschaft.

Die Gründung einer Vielzahl von Ambulatorien der Krankenkassen in den 1920er Jahren – erst im späteren Sprachgebrauch wird zwischen Ambulatorien und den Polikliniken (mit meist größerem und differenzierterem Ärzteangebot) unterschieden – ist dem Streit zwischen Ärzteschaft und Kassen zu verdanken, der in einem Streik der Großberliner Ärzteschaft kulminierte. Bei den ersten Stadtverordnetenwahlen im neuen Groß-Berlin schwand schon 1921 die vorher bestehende große Mehrheit der Sozialdemokratischen Parteien (SPD und USPD). Die Polarisierung, die zum Untergang Weimars führte, deutete sich schon an.(1)

 

Gesetzliche Krankenversicherung und die Folgen für den Ärztestand(2)

Die allgemeine Geschichte der sozialen Sicherung ist stark verwoben mit der Entwicklung des ärztlichen Standes und seiner Organisationen. Im Krankenversicherungsgesetz von 1884 waren weder der Arztberuf noch die »ärztliche Behandlung« definiert worden.(3) Während in der Vergangenheit der Arzt seine Honorarforderungen direkt an den Patienten gerichtet hatte, war mit der gesetzlichen Krankenversicherung eine Instanz geschaffen worden, die festlegte, welcher Arzt eine Zulassung zur Behandlung für die in den Krankenkassen Versicherten erhielt und welches Honorar für die entsprechenden Leistungen zu zahlen war.

Zwei Positionen standen sich hier gegenüber: Den Kassen oblag, im Rahmen der Gewährung von Sachleistungen die ärztliche Versorgung für die Versicherten sicher zu stellen. Die Ärzteschaft hielt es aber a priori für unwürdig, über Honorar- und Zulassungsfragen überhaupt mit den Kassen zu verhandeln.

Die bestehenden Krankenkassen hatten bis dahin ihren vergleichsweise wenigen Mitgliedern keine freie Arztwahl zugebilligt. Ärzte waren bei den Krankenkassen für ein entsprechendes Jahresgehalt angestellt. Den Begriff »freie Arztwahl« und die Forderung ihrer Durchsetzung für die Patienten deuteten die Ärzte als »Unabhängigkeit vom Kassenvorstande«. Patienten sollten weiter jeden frei praktizierenden Arzt aufsuchen konnten. Die Verquickung von Standes- und Wirtschaftsinteressen führte nun zu ständigen Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Kassen. Die Ärzte forderten: Eine niedrige Pflichtversicherungsgrenze um einer möglichst großen, nicht pflichtversicherten, Klientel höhere Honorarforderungen stellen zu können, ein niedriges Leistungsangebot der Kassen, um weitere Leistungen selbst anbieten zu können, grundsätzliche Anstellungsverbote für nicht approbierte Ärzte und die freie Arztwahl für alle Sozialversicherten.

Mit der seit 1884 über die Jahrzehnte erfolgenden Zunahme der Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wurde es für die Ärzte immer schwieriger, ihre Forderungen durchzusetzen. Die Mitgliederzahl (einschließlich der Familienangehörigen) in der GKV stieg von anfangs 11 % der Bevölkerung des Deutschen Reichs über 55 % in der Weimarer Republik bis auf ca. 70 % der Gesamtbevölkerung während des Nationalsozialismus an.(4)

Der 1900 in Leipzig gegründete »Verband der Ärzte zur Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen« (kurz auch »Leipziger Verband«), der später nach seinem Gründer benannte Hartmannbund, wurde der Verhandlungsführer der Ärzte gegenüber den Krankenkassen. Mit dem Berliner Abkommen vom 23. Dezember 1913, den Ärztestreiks in 1 700 Orten vorausgegangen waren, wurde das Verhältnis von Ärzten und Krankenkassen erstmals als »Partnerschaftsmodell« für die Zukunft definiert. In dem auf zehn Jahre angelegten Vertrag wurde fixiert, dass die Beziehungen in Zukunft auf der Grundlage eines Kollektivvertrags geregelt sein sollten. Zwar schlossen die Kassen mit dem einzelnen Arzt noch Individualverträge nach einem Mustervertrag ab, jedoch legte ein paritätisch besetzter Vertragsausschuss in einem »Manteltarifvertrag« bestimmte Rahmenlinien fest. Die Anstellungsautonomie der Krankenkassen wurde beseitigt. An ihre Stelle trat ein paritätisch besetzter Registerausschuss (später: Zulassungsausschuss).

Für die Kassen mit jetzt freier Arztwahl bedeutete dies, dass erst die Eintragung in dieses Arztregister auch die Zulassung zur Behandlung von Kassenpatienten sicherte. Der Ausschuss hatte unter objektiven Kriterien, wie Approbation, Lebensalter und Eintragung die Ärzte auszuwählen, wobei ein Arzt für 1 350 Versicherte bzw. für 1 000 mit Familienhilfe zugelassen wurde.(5)

Die Erhöhung der Obergrenze für die Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung durch den Rat der Volksbeauftragten 1918 von jährlich 2 500 auf 5 000 RM rief am Anfang der Weimarer Republik erneut heftige Reaktionen bei den Ärzten hervor.(6) Nach Aufhebung der bisherigen Einkommenshöchstgrenze für die freiwillige Weiterversicherung von jährlich 4 000 RM war die Mitgliedschaft auch für sehr gut verdienende Personenkreise möglich. Auch dies stieß auf Kritik bei den Ärzten, da die Zahl der Privatversicherten, mit denen die Ärzte direkt abrechnen konnten, eingeschränkt wurde.(7)

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Der große Streik und die Einrichtung der Ambulatorien(8)

Die Regierung Stresemann erließ im Oktober 1923, auf dem Höhepunkt der inflationären Entwicklung in Deutschland, auf Grund des Artikels 48 der Weimarer Verfassung, eine Notverordnung, die »Verordnung über Ärzte und Krankenkassen und über Krankenhilfe bei den Krankenkassen«, um die Krankenkassen, die kurz vor dem finanziellen Bankrott standen, zu sanieren. Die Finanznot der Kassen wurde durch das Beitragszahlungssystem verursacht. Unternehmer zahlten vierteljährlich, die Versicherten wöchentlich im Voraus. Die ungeheure Geldentwertung innerhalb kürzester Zeiträume machte es den Kassen unmöglich, ihren Verpflichtungen nachzukommen.(9)

Als Beispiel für die Finanzlage der öffentlichen Einrichtungen sei darauf verwiesen, dass etwa im August 1923 den Gesamtausgaben des Reiches von 1 425 Billionen Mark Einnahmen von lediglich 287 Billionen Mark gegenüber standen.(10) Über das gesamte Jahr beschleunigte sich die Inflation, der Dollarkurs verzehnfachte sich im Herbst jeweils innerhalb von etwa zehn Tagen.(11)

Ärzteprotest gegen wirtschaftliche Behandlungsweise

Auf den erbitterten Widerstand der zu über 80 % im schon genannten Leipziger Verband organisierten Ärzteschaft stieß vor allem der §1 der genannten Notverordnung, der die Ärzte zur wirtschaftlichen Behandlungsweise – unter Androhung von Strafe bei Zuwiderhandlung aufrief.(12)

Das Auslaufen des, wie schon berichtet, 1913 auf zehn Jahre abgeschlossenen »Berliner Abkommens zum Ende November 1923 glaubten die Ärzte nun nutzen zu können, um ihren Forderungen größeren Nachdruck zu verleihen. Sie kündigten an, Patienten ab 1. Dezember (1923) nur noch nach der eigenen Honorarordnung behandeln zu wollen. »Die [schon Wochen vorher angekündigte, d. Verf.] Einstellung der ärztlichen Behandlung der Kassenärzte zum 1. Dezember 1923 zwang die Berliner Krankenkassen Vorkehrungen zu treffen, um die Versorgung der unbemittelten Kassenmitglieder, die nicht in der Lage waren, die damals von den Ärzten geforderten außerordentlich hohen Kampfhonorare zahlen zu können, sicherzustellen. ... der Vorstand des Verbandes der Krankenkassen Berlin [fasste] den Beschluß, Ambulatorien einzurichten und die dafür notwendigen Ärzte anzustellen.« (13) Schon bis zum Januar 1924 konnten 16, bis Ende desselben Jahres 33 und letztlich 38 Ambulatorien als Gesundheitszentren ihren Betrieb aufnehmen. Sie verfügten im Mittel über vier bis fünf Ärzte verschiedener Fachrichtungen sowie etwa 14 Pflege- und Hilfskräfte.(14)

Die Ambulatorien waren aber nicht nur eine Antwort der Krankenkassen auf den Ärztestreik, sondern auch Aushängeschild gesundheitlicher Zielvorstellungen der linkspolitischen Parteien und Ärzte. Es sollte die sozialhygienische, also die auf Prävention angelegte ärztliche Tätigkeit integraler Bestandteil der ärztlichen Betreuung sein. Es sollten vor allem die Fachärzte, zu denen die Sozialversicherten noch selten Zugang hatten, direkt verfügbar sein.(15)

 Erfolg der Ärzte gegen die Ambulatorien

Die Kampagne und dann der Streikaufruf der Ärzte waren aber dadurch erfolgreich, dass vom Reichsarbeitsministerium über neue Richtlinien zur Notverordnung die darin den Kassen zugestandene Kontrolle der von den Ärzten verursachten Ausgaben zurückgenommen wurde.(16) Trotzdem wurde der Streik bis zum Januar, in Berlin sogar bis zum Juni 1924 fortgeführt.(17) Eine weitere Neuerung der Verordnung war die Einführung des »Reichsausschusses für Ärzte und Krankenkassen« 1924, eine Zwangsarbeitsgemeinschaft von Vertretern der Spitzenverbände, wie dem »Hauptverband deutscher Krankenkassen« (Geschäftsführer Helmut Lehmann), dem Hartmannbund (Karl Haedenkamp) und dem Reichsarbeitsministerium, deren Funktion die Erarbeitung von Richtlinien und vertraglichen Vereinbarungen zwischen Kassen und Ärzten war(18). Die ökonomische Situation zwang die Reichsregierung, mittels weiterer Notverordnungen das Verhältnis von Krankenkassen und Ärzten neu zu definieren.

Weitere Ambulatorien durften trotz des großen Zulaufs der Versicherten später nicht mehr gegründet werden, die bestehenden blieben erhalten, mussten die Behandlung aber auf die Familienmitglieder der Versicherten einschränken.
Die Überwachung der ärztlichen Tätigkeit übernahmen 1931 die Kassenärztlichen Vereinigungen als Körperschaften öffentlichen Rechts, denen alle Ärzte zwangsweise angehörten. Der Vorstand des örtlichen Hartmannbundes wurde zugleich auch Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung, die alleiniger Träger aller Beziehungen zwischen Kassenärzten und den Krankenkassen wurden. Mit der starken Stellung der Kassenärztlichen Vereinigung war die professionelle Autonomie der Ärzte gegenüber den Krankenkassen erreicht.

Im Nationalsozialismus wurden alle Kassen gleichgeschaltet, Tausende miss­liebiger Kassenangestellter verloren ihre Stellung, weil sie den Parteien der Arbeiterbewegung, der SPD und der KPD, angehörten oder ihnen nahe standen; die Ambulatorien wurden geschlossen.

Neubeginn nach 1945?(19)

Nach dem Krieg konnten sich, nach einer Zeit der zunächst auch von den Alliierten gestützten Offenheit gegenüber neuen Organisationsmodellen sowohl der Sozialversicherung wie der ambulanten Versorgung, die bekannten zwei unterschiedlichen Versorgungssysteme in West und Ost durchsetzen.
In der alten Bundesrepublik re-etablierten sich schon Ende der 40-er Jahre sowohl die Vielzahl der Kassen wie die ärztliche Selbstverwaltung in Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen.

In der Sowjetischen Besatzungszone wurde ein anderer Weg beschritten. Schon lange vor den erst Ende 1947 erlassenen entsprechenden Befehlen der Sowjetischen Militäradministration waren Polikliniken und Ambulatorien neu und wieder erstanden. Sie waren keine Erfindung der Sowjetischen Besatzungsmacht. Die wichtigsten Gesundheitspolitiker der Sowjetunion waren zwar in den zwanziger Jahren bei deutschen Sozialhygienikern in die Lehre gegangen. Die Ambulatorien wurden aber im Wesentlichen von den Kommunen, den (noch existierenden) Ländern der SBZ und der Deutschen Zentralverwaltung Gesundheitswesen neu eingerichtet.

Die Weimarer Erfahrungen waren vor allem durch die damaligen Gesundheitspolitiker der SPD-Reichstagsfraktion Alfred Grotjahn (1869–1931) und Julius Moses (1868–1942) geprägt worden. Nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED im Frühjahr 1946 waren die wichtigsten Gesundheitspolitiker der neuen Partei solche, die aus der SPD kamen: Helmut Lehmann (1882–1959), mit dem Parteibuch von 1903, jahrzehntelanger Krankenkassenfunktionär der Weimarer Republik und 1947 Verfasser der Gesundheitspolitischen Richtlinien der SED, war verantwortlich für die Einführung einer einheitlichen Krankenversicherung in der DDR. Paul Konitzer (1894–1947), früherer SPD-Stadtrat (bis 1933 in Magdeburg) wurde 1945 Chef der Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der SBZ. Niedergelassene Ärzte, die dies wollten, konnten weiter praktizieren.(20)

Udo Schagen ist Arzt; er leitete von 1986 bis 2004 die Forschungsstelle Zeitgeschichte der Medizin,

zunächst an der FUB und dann an der Charité / Universitätsmedizin Berlin.

Anmerkungen

1 »BerlinBerlin. Materialien zur Geschichte der Stadt«, Hrsg. von der Berliner Festspiele GmbH, Berlin 1987
2 Im Folgenden nach: Udo Schagen und Sabine Schleiermacher: »Gesundheitswesen und Sicherung bei Krankheit und im Pflegefall. Einleitung: Rahmenbedingung für die Reorganisation des Gesundheitswesens«, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesarchiv (Hrsg.): »Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Band 2/1: 1945–1949. Die Zeit der Besatzungszonen«, Baden-Baden 2001, S. 464–485, 475 f. Dort auch weitere grundlegende Informationen zur Vorgeschichte bis 1945.
3 Florian Tennstedt: »Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland«, Bonn-Duisdorf 1970, S. 388 f.
4 Florian Tennstedt: »Sozialgeschichte der Sozialversicherung«, in: »Handbuch für So­zial­medizin Bd. III«, Hrsg. v. Maria Blohmke u.a., Stuttgart 1976, S. 403, 408
5 Peter Thomsen: »Ärzte auf dem Weg ins ›Dritte Reich‹«, Husum 1996, S. 55
6 Eberhard Wolff: »Mehr als nur materielle Interessen: Die organisierte Ärzteschaft im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik 1914-1933«, in: »Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert«, Hrsg. v. Robert Jütte, Köln 1997, S. 97–142, 107
7 Ludwig Preller: »Sozialpolitik in der Weimarer Republik«, Düsseldorf 1978, S. 234
8 Zur Dokumentation siehe vor allem die Jahrbücher der Ambulatorien des Verbandes der Krankenkassen Berlin 1925, 1926/27, 1928/29, 1930/31 sowie die Jahrbücher der Krankenversicherung, Berlin 1924 bis 1928
9 Gunhild Kisker: »Die Ambulatorien der Berliner Krankenkassen 1924 – 1933«, Diss. Marburg 1976, S. 5f.
10 Sigrid Jacobeit / Wolfgang Jacobeit: »Illus­trierte Alltags- und Sozialgeschichte Deutschlands 1900 – 1945«, Münster 1995, S. 69
11 Jürgen Kuczynski: »Geschichte des Alltags des deutschen Volkes«, Studien. Bd. 5, Köln 1982, S. 32
12 siehe Zitat in Kasten; nach Kisker 1976, S. 5 f.
13 Jahrbuch 1925 der Ambulatorien des Verbandes der Krankenkassen Berlin, S. 7
14 Tennstedt 1976, S. 385–492, 399
15 Tennstedt 1976, – Eckhard Hansen u.a.: »Seit über einem Jahrhundert ... Verschüttete Alternativen in der Sozialpolitik. Sozialer Fortschritt, organisierte Dienstleistermacht und nationalsozialistische Machtergreifung. Der Fall der Ambulatorien in den Unterweserstädten und Berlin«, Köln 1981
16 Kisker 1976, S. 6f.
17 Tennstedt 1976, S. 398
18 Tennstedt 1976, S. 399
19 Schagen, Schleiermacher, 2001, S. 511–528
20 Horst Spaar: »Dokumentation zur Geschichte des Gesundheitswesens der DDR. Teile I bis VI (1945 – 1989)«, Berlin 1996 bis 2003 – Gerhard Naser: »Hausärzte in der DDR. Relikte des Kapitalismus oder Konkurrenz für die Polikliniken«, Bergatreute 2000

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Von der Solidarität zur Betriebswirtschaft, 3/2016)

 

 


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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