Gbp 2-2016 - Winfried Beck

So entsteht eine »Volkskrankheit«

Winfried Beck zum Geschäft mit der Osteoporose

Auch wenn einige wenige Details aus dem Beitrag von 2002 über Osteo­porose nicht mehr aktuell sind, stellt er exemplarisch dar, wie unter Druck der Pharmakonzerne eine Erkrankung neu definiert und ein erweiterter Absatzmarkt für Medikamente und Medizingeräte geschaffen wurde. Obwohl eine Schädlichkeit einer unreflektiert breit angewandten Hormontherapie nachgewiesen wurde, wird diese mit entsprechender Unterstützung der pharmazeutischen Industrie weiterhin propagiert. Im Anhang finden Sie die Zusammenfassung eines lesenswerten Beitrags aus dem arzneitelegramm.

Beim Arztbesuch erleben PatientInnen immer häufiger die Anpreisungen vorbeugender Diagnostik über Broschüren, Plakate, aber auch durch die direkte Ansprache seitens der Arzthelferinnen oder durch den Arzt selbst. Bei diesen angepriesenen Leistungen handelt es sich fast ausschließlich um solche, die nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung übernommen werden und deshalb individuell bezahlt werden müssen. Deren Sinn besteht in erster Linie darin, das Honorar der von Budgetierung gebeutelten ÄrztInnen mit Hilfe dieser so genannten individuellen Gesundheitsleistungen aufzubessern. Gynäkologen und Orthopäden bieten beispielweise Knochendichtemessungen an, weil von der GKV eine solche aufwändige Untersuchung nur noch dann übernommen wird, wenn bereits ein Knochenschwund mit Knochenbrüchen in der Wirbelsäule (osteoporotische Frakturen) eingetreten ist. Gerade die Osteoporosefrüherkennung zeigt exemplarisch, wie die Ärzteschaft von der Industrie benutzt wird, welche Folgen eine solche Maßnahme hat und welche Interessen dahinter stecken.

Osteoporose als Volkskrankheit?

Noch vor wenigen Jahren war die Diagnose Osteoporose ein Ausnahmefall. Heute ist daraus eine Volkskrankheit geworden, von der überwiegend Frauen in den Wechseljahren, aber auch Männer befallen werden. Wie ist es dazu gekommen? Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat Anfang der 90er Jahre eine Konferenz zu den geltenden diagnostischen Kriterien der so genannten postmenopausalen Osteoporose (Knochenschwund in den Wechseljahren) durchgeführt und beschlossen, dass die für die Osteoporose typischen Knochenbrüche nicht zur Diagnostik erforderlich sind, und dass bereits eine Knochendichte von weniger als zweieinhalb Standardabweichungen von derjenigen junger Frauen als Osteoporose zu bezeichnen sind. Diese Konferenz wurde von den Pharmafirmen Rohrer, Sandoz und Smith Kline Beecham gefördert. Damit war der entscheidende Schritt für die Umwandlung der bisher seltenen Erkrankung zu einer Volkskrankheit gemacht.

Parallel dazu waren Medikamente entwickelt worden, die weiblichen Geschlechtshormone Östrogene und Gestagene, seit einigen Jahren auch die so genannten Biphosphonate. Um die Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung in der Öffentlichkeit, aber vor allem in der Ärzteschaft zu verankern – schließlich handelt es sich um verschreibungspflichtige Arzneimittel – wurden zahlreiche, zum Teil neuartige Wege beschritten. Selbsthilfegruppen wurden gegründet und großzügig gesponsert, Artikel in die Laienpresse lanciert und die Ärzteschaft mit einer Flut von wissenschaftlichen Artikeln in der Standespresse, Fortbildungsveranstaltungen, Werbebriefen etc. überschwemmt. Die Folge war, dass kaum ein Besuch beim Frauenarzt ohne den Hinweis auf die gewissermaßen grundsätzlich in den Wechseljahren einzunehmenden Östro­gene auch zur Vermeidung der Osteoporose erfolgte. Millionen von Frauen in den Wechseljahren wurde ein schlechtes Gewissen gemacht, wenn sie nicht auch Mitglied der Östrogen einnehmenden Frauen-Runde würden und damit leichtfertig das Risiko nicht nur von Knochenschwund, sondern auch eines frühzeitigen Herzinfarktes, einer Alzheimer Krankheit, eines gestörten Sexuallebens, eines hohen Cholesterinspiegels usw. in Kauf nehmen wollten.

Und da sich mit einer Tabelle schwarz auf weiß besser argumentieren lässt, wurden mehr und mehr diagnostische Geräte zur Messung der Knochendichte in den Praxen angeschafft und gegen privates Honorar eingesetzt. Dass es sich dabei um zum Teil äußerst unzuverlässige Methoden handelte, wie etwa die Ultraschalluntersuchung des Fersenbeins, wurde in der Öffentlichkeit nicht beachtet. Weder ÄrztInnen noch Industrie waren an einer Kostenübernahme durch die GKV interessiert, fielen doch dann diese Leistungen unter die Budgetierung und könnten nicht zusätzlich privat abgerechnet werden. Außerdem käme es dann zu lästigen Qualitätskontrollen mit möglicher Sanktionierung für ÄrztInnen und Hersteller.

Größter bekannter Menschenversuch

Dass es sich bei diesem wahrscheinlich größten bekannten Menschenversuch an der Hälfte der Frauen zum Schaden ihrer Gesundheit gehandelt hat, ist inzwischen belegt. Eine der weltweit größten Studien zur so genannten Hormonersatztherapie für Frauen nach den Wechseljahren in den USA, die Women‘s Health Initiative, bei der 16 000 Frauen im Durchschnitt über fünf Jahre eine kombinierte Östrogen/Gestagen-Mischung einnahmen, wie sie auch bei uns üblich ist, wurde von den Aufsichtsgremien in den USA vorzeitig gestoppt, weil sich die Risiken als größer erwiesen als der Nutzen. Die Zunahme des Brustkrebses betrug 26 Prozent, eine bereits erwartete Größe. Überraschender war, dass auch das Herzinfarktrisiko nicht sank, sondern stieg. Von 10 000 Frauen müssen pro Jahr (im Vergleich zu Placebo) zusätzlich sieben mit einem Herzinfarkt, acht mit einem Schlaganfall und 18 mit Thrombosen rechnen. Die Vermeidung von sechs Darmkarzinomen und fünf Hüftgelenksfrakturen reichten nach Auffassung der Aufsichtsbehörde nicht aus, um die Risiken aufzuwiegen.

Publizistisches Feuerwerk

Wer in Deutschland mit einem Paradigmenwechsel in dem Umgang mit Wechseljahrbeschwerden gerechnet hätte, sah sich getäuscht. Die Pharmaindustrie und die von deren Werbung abhängigen Fachzeitschriften eröffneten sofort nach Bekanntwerden ein publizistisches Feuerwerk, um an der Östrogen/Gestagen-Therapie zu retten, was zu retten ist. Schließlich nahmen täglich elf Millionen Frauen diese Medikamente ein, und allein das Unternehmen Wyeth – bekannt geworden durch den Nitrofenskandal – machte mit diesen Präparaten damals einen Umsatz von zwei Milliarden Dollar.

In einem so genannten Patienten-Informationsblatt des Arbeitskreises »Steroide in Kontrazeption und Substitution« des Berufsverbandes der Frauenärzte, das per Fax an alle 11 000 Mitglieder des Berufsverbandes versandt wurde, werden die Ergebnisse der Studie auf bizarre Weise verdreht, nicht einmal der Abbruch und die Begründung dazu erwähnt. Auch die dann durch die Bundesrepublik tourende »Mobile Osteoporose-Forschungsstation«, die eine eingehende Vorsorgeuntersuchung bot und von der Patientenorganisation Kuratorium Knochengesundheit und dem Zentrum für Muskel- und Knochenforschung Berlin initiiert wurde, ist keineswegs über jeden Zweifel erhaben, wurde diese Aktion doch durch 14 Pharma- und Medizinproduktehersteller und eine Stiftung gesponsert.

Veränderte Wahrnehmung von Krankheit

Das Beispiel der Hormonersatztherapie in den Wechseljahren wird nicht das letzte sein. Die Pharmaindustrie setzt weltweit auf eine veränderte Wahrnehmung von Krankheit. Normale Lebensprozesse werden zunehmend zum medizinischen Problem erklärt milde Symptome eines gutartigen Leidens werden zu Vorboten einer schweren Erkrankung, Krankheitshäufigkeiten werden überzeichnet. Das große Geld wird also sowohl in der Industrie als auch innerhalb der Ärzteschaft zunehmend nicht mit der Heilung von Krankheiten, der Betreuung chronisch kranker und behinderter Menschen gesehen, sondern im Ausschlachten von Befindlichkeitsstörungen verdient. Angesichts der geradezu grenzenlosen finanziellen und logistischen Möglichkeiten der großen Konzerne aus dem medizinisch-industriellen Komplex ist eine Gegenöffentlichkeit nur sehr schwer herzustellen. Entscheidend wird sein, das kritische Bewusstsein der Menschen wachzuhalten, Misstrauen gegenüber Anregungen in der Laienpresse oder beim Arztbesuch zu behalten und sich daran zu erinnern, dass in der Medizin fast immer mehr weniger ist, und dass eine gesunde Lebensweise mit einer ausgewogenen Ernährung, viel Bewegung und der Vermeidung von Genussgiften die beste Vorbeugung für alle Krankheiten darstellt.

Die Ärzteschaft und ihre Standesorgane müssen Flagge zeigen. Wenn sie schweigen, unterstützen sie die Profitinteressen eines Teiles der Pharmaindustrie und verraten damit die Interessen der ihnen anvertrauten PatientInnen. Gerade angesichts des Machtvorsprungs der Industrie in der Manipulation der öffentlichen Meinung ist es zwingend, dass die Ärzteschaft eine Gegenöffentlichkeit schafft, aufklärt und durch eine Fortbildungsoffensive dafür sorgt, dass die in ihrem Ausmaß historisch zu nennende Schädigung von Millionen von Frauen durch ein falsches Therapiekonzept beendet wird.

Winfried Beck

(Gekürzte, überarbeitete und aktualisierte Fassung aus Winfried Beck: »Nicht standesgemäß. Beiträge zur demokratischen Medizin, Frankfurt/M 2003; zuerst erschienen in Dr. med. Mabuse, Nr. 139, 9-10/2002)

Addendum
Unter der Überschrift »Postmenopausale Hormontherapie … gynäkologische Fachgesellschaften setzen weiterhin auf Desinformation« berichtet die aktuelle Juni-Ausgabe des a-t, wie die Diskussion über die in Winfried Becks Beitrag zitierte bereits 2002 publizierte WHI-Studie gerade auch hierzulande noch nicht abgeflaut ist. Diese bisher größte randomisierte Studie zu dem Thema postmenopausale Hormontherapie mit Östrogen-/Gestagen Kombinationspräparaten ergab bei schwerwiegenden Ereignissen wie Mammakarzinome, apoplektische Insulte und Hüftfrakturen ein Überwiegen des Schadens gegenüber dem Nutzen, weshalb die Studie abgebrochen werden musste. Es wird nun angeführt, dass das Durchschnittsalter der Studienteilnehmerinnen an der WHI-Studie bei 63 Jahren lag. Für Frauen, die erst kurzzeitig in die Menopause eingetreten sind, sollen diese Studienergebnisse nicht gelten. Vorwiegend auf der Basis von Tierversuchsstudien und Beobachtungsstudien wird für jüngere Frauen ein positiver Effekt postuliert, wenn frühzeitig mit der Therapie angefangen wird. Irritierenderweise wird diese sogenannte Timing-Hypothese auch vom NICE und einigen Autoren der WHI-Studie geteilt, was sofort von interessierten Fachgesellschaften freudig aufgenommen wurde. Allerdings zeigte eine 2013 vorgenommene Subgruppenanalyse der 5 520 Frauen, die an der WHI-Studie in einem Alter von 50-59 Jahren teilnahmen, dass auch hier die Risiken den Nutzen überwogen. Andere Studien zeigen, dass ca. 20 Prozent der invasiven Mammakarzinome auf eine postmenopausale Hormontherapie zurückgehen.

Das a-t kommt daher zu dem Schluss: »Wer die Nutzen-Risiko-Bilanz von Hormonen bei jüngeren Frauen pauschal für positiv erklärt, will nicht aufklären. Mit dieser Behauptung soll ein Terrain abgesteckt werden, in dem die Hormontherapie wieder bedenkenlos propagiert werden kann. Dies mag gynäkologische Meinungsbildner erleichtern, Frauen sicher nicht.«

(Siehe: arznei-telegramm 06/2016)

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Lobbyismus im Gesundheitswesen, 2/2016)

 


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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