Die Schein-Forscher
Das investigative Internetportal correctiv.org erforschte Anwendungsbeobachtung - Von Markus Grill
Pharmakonzerne bezahlen ÄrztInnen dafür, dass sie beobachten, wie gut ihre PatientInnen ein bestimmtes Medikament vertragen. Wissenschaftlich sind diese »Anwendungsbeobachtungen« wertlos. Eine Datenbank des Recherchezentrums correctiv.org zeigt erstmals, welches Ausmaß die umstrittenen Studien erreicht haben – und welche Präparate vor allem in den Markt gedrückt werden.
Seit langem stehen Anwendungsbeobachtungen im Verdacht, Ärzten mit Hilfe finanzieller Anreize dazu zu bringen, ein bestimmtes Präparat zu verordnen. Die Antikorruptions-Organisation Transparency International hat schon vor Jahren gefordert, AWBs zu verbieten, weil sie »legalisierte Korruption« seien, »eine Gefahr für Patientinnen und Patienten«. Doch passiert ist seither nichts. Die Schein-Studien erfreuen sich anhaltender Beliebtheit.
Starten Pharmaunternehmen eine Anwendungsbeobachtung, müssen sie dies unter anderem der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Krankenkassen melden. Dort werden die Meldungen zur Kenntnis genommen und archiviert. Mit anderen Worten: gelesen, gelacht, gelocht. Aus der Meldepflicht folgt – nichts.
Das Recherchezentrum CORRECTIV hat sich nun mit Hilfe des Presserechts die mehr als 14 000 Meldungen der Jahre 2009 bis 2014 besorgt, sie erstmals in eine computerlesbare Datenbank überführt und die Einträge gemeinsam mit Journalisten der Süddeutschen Zeitung, des NDR und des WDR ausgewertet.
Erstmals wird nun auch das Ausmaß dieser umstrittenen Studien deutlich:
• Allein im Jahr 2014 haben 16 952 Ärztinnen und Ärzte teilgenommen, darunter rund 12 000 niedergelassene. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung haben damit zehn Prozent aller niedergelassenen Ärzte Geld von der Pharmaindustrie erhalten.
• Für jeden Patienten haben die Ärzte im Jahr 2014 im Schnitt 669 Euro Honorar erhalten. Betrachtet man den längeren Zeitraum 2009 bis 2014 beträgt das durchschnittliche Honorar 474 Euro pro Patient.
• Im gesamten Zeitraum 2009 bis 2014 wurden Anwendungsbeobachtungen an 1,7 Millionen Patientinnen und Patienten geplant.
• Insgesamt verteilte die Pharmaindustrie auf diese Weise rund 100 Millionen Euro an Deutschlands Ärzte – pro Jahr.
Wobei die Zahl der beteiligten Ärzte und der beobachteten Patienten dabei jeweils als Untergrenze zu verstehen sind. In vielen Fällen lassen Pharmaunternehmen die Angaben zu Ärzten und Patienten einfach weg.
Die meisten dieser umstrittenen Studien werden bei Krebspatienten gemacht. So hat zum Beispiel das Pharmaunternehmen Roche in den vergangenen Jahren mindestens zehn verschiedene Anwendungsbeobachtungen zu seinem Präparat Avastin gemacht. Den Ärzten hat Roche dafür bis zu 1260 Euro pro Patient bezahlt. »Als Avastin im Jahr 2005 zugelassen wurde, haben alle Analysten gedacht, das wird ein Blockbuster, mit mehreren Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr«, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Onkologe am Helios Klinikum Berlin Buch und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. »Heute sieht man die Sache nüchterner: Als einzige Indikation, bei der man Avastin mit einigermaßen gesicherten Erkenntnissen für einen patientenrelevanten Zusatznutzen einsetzen kann, ist das kolorektale Karzinom geblieben.«
Doch schaut man in die Datenbank auf correctiv.org, macht Roche Anwendungsbeobachtungen für Avastin auch bei Brustkrebspatientinnen, bei Nierenkrebs und bei Lungenkrebs. »Bei diesen Tumoren verordnen nur wenige onkologische Kollegen, die ich kenne, Avastin«, sagt Prof. Ludwig. »Ich vermute, die ganzen Anwendungsbeobachtungen bei Avastin verfolgen vor allem den Zweck, die Ärzte zu motivieren, Avastin auch jenseits von Darmkrebs häufiger einzusetzen.« Und das, »obwohl die Ergebnisse aus medizinischen Studien bei diesen Anwendungsgebieten wenig überzeugend sind«.
Roche weist diese Kritik zurück. Auch bei Lungen-, Brust- und Nierenkrebs habe Avastin einen Vorteil für Patienten. Die Anwendungsbeobachtungen und Honorarzahlungen an Ärzte streitet das Unternehmen nicht ab. Man habe damit »weitere Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit von Avastin unter Praxisbedingungen« gewinnen wollen.
Meist geht es so vonstatten: Ein Pharmareferent kommt in die Arztpraxis und fragt den Doktor, ob er an einer Anwendungsbeobachtung für Präparat X teilnehmen will. Das Präparat, das der Arzt dann seinen Patienten verordnet, bezahlt sowieso die Krankenkasse. Er füllt zusätzlich aber noch ein paar elektronische Formblätter aus, fragt den Patienten vielleicht, wie er das Medikament verträgt, schickt die Datei anschließend an das Pharmaunternehmen und bekommt im Gegenzug für eine Handvoll Patienten ein Honorar von oft mehreren tausend Euro.
Die Pharmaunternehmen verteidigen diese Beobachtungen unisono mit dem gleichen Argument wie auch Roche: Wir wollen Wirksamkeit und Nebenwirkungen von Medikamenten auch nach der Markteinführung überwachen. Doch dazu bräuchte es eigentlich keine Anwendungsbeobachtungen. Denn jeder Arzt ist auch so verpflichtet, Nebenwirkungen und sonstige Auffälligkeiten bei Medikamenten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn zu melden.
Wozu braucht es diese Beobachtungen also?
Deutschlands oberster Medizinprüfer zuckt mit den Schultern. Er weiß es auch nicht. Professor Dr. Jürgen Windeler leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), im Jahr 2004 von der Bundesregierung eingerichtet, um die Qualität der Patientenversorgung in Deutschland zu verbessern. Windeler und sein Institut testen Medikamente nicht selbst, sondern werten alle öffentlich zugänglichen, wissenschaftlichen Studien aus; dazu Unterlagen, die ihnen die Pharmakonzerne zur Verfügung stellen. Anwendungsbeobachtungen gehören nicht dazu. »Diese Studien sind wissenschaftlich wertlos«, sagt Windeler. »Sie liefern uns keinerlei Informationen über den Nutzen und die Wirksamkeit eines Medikaments. Deshalb schauen wir sie uns auch nicht an.«
Als Windeler einen Blick in unsere Datenbank wirft und die Titel einiger Anwendungsbeobachtungen anschaut, kann er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen – so sehr amüsiert ihn der pseudowissenschaftliche Unsinn. So hat die Firma Pascoe in den Jahren 2009 und 2010 beobachten lassen, wie ihr Vitamin C-Präparat »bei Patienten mit viralen Infektionskrankheiten« wirkt. »Es ist sicher schon tausend Mal untersucht worden, ob Vitamin C gegen virale Infektionskrankheiten wirkt«, sagt Windeler. »Und für Fragen, die bereits beantwortet sind, braucht man keine Studien mehr zu machen.« Dennoch konnten Ärzte, die an der Anwendungsbeobachtung für das Vitamin-C Präparat Pascorbin mitmachten, laut den Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bis zu 180 Euro pro Patient verdienen.
Bei Anwendungsbeobachtungen kommen nach Ansicht des IQWiG-Chefs drei Dinge zusammen, die jeden skeptisch machen sollten:»Erstens sind sie nicht gut zu begründen. Zweitens kann man mit den Ergebnissen nichts anfangen. Und drittens sind die Rahmenbedingungen merkwürdig, weil Ärzte relativ viel Geld bekommen für das, was sie da tun.«
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) weist die Kritik an Anwendungsbeobachtungen zurück. Sie seien ein unverzichtbares Instrument für die Arzneimittelforschung. Anders als bei klinischen Studien würden hier Informationen über Arzneimittel unter Alltagsbedingungen gewonnen, also dann, wenn beispielsweise die Therapietreue wesentlich das Ergebnis mit beeinflusse.
Eine Auswertung der 50 größten Anwendungsbeobachtungen ergibt, dass darunter vor allem Analogpräparate zu finden sind, deren medizinischer Zusatznutzen fraglich ist. So finden sich in der Liste der 50 Anwendungsbeobachtungen mit den meisten Patienten in den Jahren 2009 bis 2014 nur acht Medikamente der Kategorie A (neuartiges Wirkprinzip mit therapeutischer Relevanz), aber mehr als doppelt so viele, genau 17 Präparate der Kategorie C (Analogpräparate mit keinen oder nur marginalen Unterschieden zu bereits eingeführten Präparaten). Auch dies legt den Verdacht nahe, dass mit Hilfe von Anwendungsbeobachtungen vor allem jene Medikamente in den Markt gedrückt werden, die im Verdacht stehen, Scheininnovationen zu sein.
Unter den Top-Präparaten finden sich auch einige, zu denen es günstigere Alternativen gibt. So sollten im Zeitraum 2009 bis 2014 mehr als 20 000 Patienten das Antidepressivum Valdoxan in Rahmen einer Anwendungsbeobachtung bekommen. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Valdoxan beliefen sich im Jahr 2013 auf 44,5 Millionen Euro. Hätten die Ärzte stattdessen das gleichwertige Venlafaxin AbZ verordnet, hätten die Krankenkassen 35,9 Millionen Euro sparen können.
Am dubiosesten aber: Anwendungsbeobachtungen für Medikamente, die seit Jahren auf dem Markt sind, deren Patentschutz abgelaufen ist und die als deutliche günstigere Generika erhältlich sind – als wirkstoffgleiche Kopien. So hat zum Beispiel die Krebsmittelfirma Onkovis insgesamt 23 Anwendungsbeobachtungen an die Kassenärztliche Bundesvereinigung gemeldet mit jeweils 100 bis 400 Patienten. Unter anderem gab es Beobachtungen zu den hauseigenen Präparaten Docetaxel, Paclitaxel oder Epirubicin für die die Ärzte 500 Euro pro Krebspatient bekommen konnten.
In den Jahren 2012 bis 2015 hat Onkovis unter anderem eine Anwendungsbeobachtung beauftragt mit geplant 500 Patienten und einem Honorar von 340 Euro Patienten. In der Meldung heißt es: »Ziel dieser nicht-interventionellen Studien ist es, systematische Erkenntnisse über Risiken und Nebenwirkungen sowie die Wirksamkeit bei der Anwendung von Paclitaxel Onkovis im Alltagseinsatz unter Praxisbedingungen zu gewinnen.«
Für Prof. Dr. Jürgen Windeler ist so eine Anwendungsbeobachtung »schlichter Blödsinn«. »Zwanzig Jahre nach der Zulassung von Paclitaxel erhalte ich mit 500 Patienten keine neuen systematischen Erkenntnisse über Risiken und Nebenwirkungen. Da bin ich anschließend keinen Deut schlauer.«
Markus Grill ist Redakteur des Recherchezentrums CORRECTIV., Die 16-köpfige Redaktion finanziert sich ausschließlich über Spenden.
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Correctiv
Die Pharmaunternehmen müssen Anwendungsbeobachtungen zwar der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), dem GKV-Spitzenverband, dem Paul Ehrlich Institut (PEI) und dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) melden, doch in welcher Form die Meldung erfolgt, bleibt den Unternehmen überlassen. Der Vorgang ist typisch fürs Gesundheitswesen: Man schafft eine Transparenzregel, doch die Durchführungsbestimmungen sind so lückenhaft, dass es zu einem Datenwildwuchs führt, der am Ende die Intransparenz nur fortführt.
CORRECTIV hat auf Grundlage des Landespressegesetzes von der KBV alle AWB-Meldungen der Jahre 2009 bis 2014 angefordert. Die Daten kamen in elektronischer Form und umfassten mehr als 14 000 Einzelmeldungen. Aus diesem Datenwust haben die Datenjournalisten von CORRECTIV erst einzelne AWBs definiert (in der Regel über die Faktoren: Name des Präparats und Datum der Erstanzeige). Außerdem haben wir vom BfArM die Abschlussberichte mit Bezug auf das Informationsfreiheitsgesetz angefordert, weil nur aus diesen Berichten sichtbar ist, wie die genaue Fragestellung der jeweiligen AWB war. Das waren 31,4 Kilogramm Akten, die in mehreren Kartons in der Redaktion angeliefert wurden. Aber auch hier herrschte Wildwuchs. Manche umfassen nur wenige Seiten, andere sind mehrere hundert Seiten stark. Stichprobenweise haben wir auch die Daten der KBV mit denen des BfArM und des PEI abgeglichen und dabei festgestellt, dass allein in den letzten zweieinhalb Jahren mehrere Dutzend AWBs weder beim BfArM noch beim PEI gemeldet wurden.
Auch die Krankenkassen verfahren beim Thema AWB nach dem Motto: Gelesen, gelacht, gelocht. Der GKV Spitzenverband mochte noch nicht mal verraten, wie viele Mitarbeiter sich mit AWBs beschäftigen. Die Daten analysieren? Missbräuche melden? Das sei offiziell nicht Aufgabe der Kassen, teilte GKV-Sprecher Florian Lanz mit. Auch die anderen Institutionen sehen ihre Aufgabe nur darin, die AWB-Meldungen zu »dokumentieren«, also abzuheften.
CORRECTIV hat deshalb zum ersten Mal in Deutschland alle AWBs der letzten Jahren in einer Datenbank der Öffentlichkeit frei zugänglich gemacht unter: https://correctiv.org/recherchen/euros-fuer-aerzte/datenbank/
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Lobbyismus im Gesundheitswesen, 2/2016)